• Keine Ergebnisse gefunden

3.2 Die Quest von Raoul Schrotts Figuren

3.2.2 Die Quest in Tristan da Cunha als Reise in der Schrift

3.2.2.4 Briefmarken von der Insel

Die Ferne Gottes wird als eine fehlende Mitte wahrgenommen, die Dodgson im Tod als das Dunkel einer Mitte durch die Schuld erfährt, die er durch Joshuas Todessturz von der Felsklippe auf sich geladen hat, und die er als die Gravitation Gottes versteht. Die Buße ist das Leben im Bewusstsein dieser Schuld, durch die er erst zu sich selbst finden kann. Für Dodgson ist die Insel jener Ort, an dem er sich durch seine Sünden selbst erkennt, da dort seine Sehnsucht nach Gott und nach Geborgenheit auf Abwesenheit und Leere trifft:

[…] im Süden das Licht, Licht antwortet auf Licht in dieser stillen Mitte der Welt, die Sonne wie Schiefer, Sein Ort, den Er verließ, dessen Abwesenheit wir nun aus jedem Stein lesen, jedem Riß, jeder Spalte und Scharte zu entziffern suchen […] und nur das Licht, das Er uns ließ, sein Halo, der Himmel ein dunkler Ring darum: es ist dieser Schat-ten, den wir werfen. Und alle Seele nur die Sehnsucht nach Ihm, die ungestillt wächst, bis ihr der Körper zu eng wird […].496

Die fleischliche Sünde, die der Priester begeht, als er sich mit (seiner) Marah auf ein Verhältnis einlässt, ist eine „unerfüllte Begierde nach etwas Ungreifbarem, das sich mir immer wieder ent-zieht, in jedem Gottesdienst, jedem Zusammensein mit den Menschen hier: Marah. Daß sie die erste Frau ist, die ich je berührte, mag eine Erklärung sein.“497

Raoul Schrott hält den Trieb der Aneignung und der Vereinnahmung für etwas elementar Menschliches. Er äußert sich in den Gesten der Liebe ebenso wie in der Sprache, die versucht, der Dinge mit Worten habhaft zu werden, oder in der Religion, in der das Gebet ein Deuten über den Abgrund ist, aber auch in dem Bedürfnis, die Welt durch geographische Entdeckungen ein-zunehmen.498 Edward Heron Dodgson gelingt es nicht, sich Tristan da Cunha anzueignen. Statt-dessen scheitert er mit seinem Kirchenbauprojekt – die Kirche bleibt eine Ruine, ohne Fenster und Dach499, bei starkem Regen wird sie zum Unterstand für die Rinder –, er scheitert in seiner Liebe zu Marah, die nicht mehr lebbar ist, nachdem sein Rivale Joshua tot ist, und er scheitert mit seinem Glauben, der ihm keine Orientierungshilfe ist. Stattdessen sind es seine Taten, die ihn sich selbst als Sünder und Büßer erkennen lassen, dessen Sehnsucht nach seinem immer abwesenden Gott durch nichts gestillt werden kann.

son, der die erst seit 1952 ausgegebenen Marken von Tristan da Cunha sammelt. Die Beschäfti-gung mit den Briefmarken und dem Postwesen bedeutet, hier auch metaphorisch, eine Auseinan-dersetzung mit und eine Überwindung von Distanzen. Briefmarken sind eine Transportwährung, aber über ihre eigentliche Funktion als Gegenwert für eine Transportleistung hinaus ist die Briefmarke, wie sie Mark Thomsen mit Blick auf die Geschichte Tristan da Cunhas versteht, in zweiter Ordnung ein Miniaturbild der Inselwelt. In dem kleinen rechteckigen Rahmen schickt die Insel ein Bild ihrer selbst in die Welt hinaus.

Auf 26 Bögen schreibt Thomson anhand seiner Sammlung von Tristan-da-Cunha-Briefmarken, die Szenen der Insel und der Inselgeschichte darstellen, die Geschichte der Insel von ihrer Ent-deckung 1506 bis zum Jahr 1989. Vor allem der mikroskopische Blick interessiert ihn, „als würde sich im Kleinen alles Wesentliche verdichten zu einem einzigen Punkt, an dem der Urgrund alles Seienden beschlossen liegt […].“501 Thomson ist der Auffassung, dass „Vollkommenheit […]

stets aufs Detail versessen [ist]“502; damit aber etwas dem Leben ähnelt und vollständig wird, muss ein genauer Maßstab eingehalten werden. Thomson ist sich darüber im Klaren, dass er kei-ne historiographische Inselgeschichte schreibt, sondern eikei-ne Fiktion:

Eine historische Zeit wird jedoch von keiner Miniatur widergespiegelt, ganz im Gegen-teil; in der Reinheit ihrer eigenen Gegenwart wird alles unveränderlich und unveränder-bar. Je kleiner der Maßstab dabei, desto mehr umgeht sie jede Alltäglichkeit, wirft ihr höchstens Seitenblicke zu und wendet sich schließlich ab, um sie ganz hinter sich zu las-sen: so wie auch jede Utopie ihre Geschichtslosigkeit vor der Welt zu wahren hat.503

Die Geschichte der Insel wird sein großes Thema, nachdem er zunächst wahllos sammelt und sich wie Dodgson mit Brasilien beschäftigt. Die Inselgeschichte anhand von einzelnen Szenen zu erzählen, erklärt er damit, dass „Geschichte […] nicht kontinuierlich [ist], nein, sie besteht aus einer Unmenge unversöhnlicher Details, bunter Mosaiksteine, die sich nicht zu einem Bild zu-sammensetzen lassen, sondern zu vielen möglichen, niemals jedoch vollendbaren Mosaiken […].“504 Wegen seiner Verlustangst beginnt Thomson bereits in seiner Kindheit, die ihm kostbar erscheinenden, weil für ihn eine gute Zeit bewahrenden Dinge zu sammeln.

Zu Beginn seines ersten Bogens nennt er sein Vorhaben, eine Inselgeschichte schreiben zu wol-len, und setzt gleich mit der den Roman durchziehenden Liebesthematik ein. Er beschreibt, wie er seine Frau Marah, die ihm schließlich nicht in seine Einsamkeit folgt505, mit seinen detailver-liebten Exponaten auf der Internationalen Postverzeichnis-Ausstellung in Gravesend, in der Nä-he von London, zu beeindrucken versucht. Dies gelingt ihm nicht, stattdessen verliert er sie an einen anderen Sammler namens Jacob van Houten, der bei seinem Vortrag auf der Messe flüchtig

501 Ebd., S. 378.

502 Ebd., S. 202.

503 Ebd., S. 205.

504 Ebd., S. 92.

505 Ebd., S. 377.

über die Insel Tristan da Cunha spricht und das Interesse Thomsons auf sich lenkt. Mit der Insel verbinden sich für Thomson, wie für den Maler Augustus Earle, Geschichte und Liebe:

Über seinem Bett hingen die Kohlezeichnungen der Paradiesvögel, die er506 in Brasilien angefertigt hatte, und die Aquarelle der unterschiedlichen Ansichten von Tristan da Cunha; es sind immer die einzelnen Facetten, die zu einem Ganzen zusammengefügt werden wollen, es ist immer eine Insel, die die Mitte ei-nes Jahres, eiei-nes Jahrhunderts ist.507

Thomson versteht seine Briefmarken als Teilstücke der Inselgeschichte, die er mit den Miniatu-ren immer wieder in eine neue Reihenfolge bringen kann. Die Beschäftigung mit der Vergangen-heit ist ihm lieber als mit der ihm immer unglaubwürdiger werdenden Gegenwart. Wie der Autor des Romans selbst, schlüpft diese Figur in die Rolle historischer Akteure, setzt sich eine Maske auf und versetzt sich so in eine Vergangenheit, „die ihren Sündenfall noch vor sich hat“508, d. h.

aller Zeitlichkeit enthoben ist, da der Sündenfall den Fall in die Zeit bedeutet. Thomson zieht damit seine selbstgebaute Utopie der Realität vor, so dass die Briefmarkensammlung zum Fluch-tort aus seiner Krisensituation wird, die er selbst durch die andauernde Beschäftigung mit seiner Sammlung verursacht hat. Gleichzeitig versucht er über den Schmerz der Trennung von Marah hinwegzukommen. Für Thomson sind die Briefmarken negativ markierte Orientierungspunkte, da sie ihn immer wieder auf das Ereignis seines Verlusts zurückverweisen:

Ich sitze mit der Lupe vor diesen Tableaus, prüfe sie und setze Zeile um Zeile hinzu, wie Prospero auf seiner Insel vor seinen Büchern, so, als würde mich meine Miranda bitten, durch meine Kunst die Auf-ruhr des Meeres wieder zu besänftigen; und ich kann es nicht. Ich ziehe einen Kreidekreis und zeichne das Pentagramm meiner Sehnsucht darin ein, dann stelle ich die Figuren […] im Reigen darum auf, händige ihnen die Kostüme aus […]. Es sind emblematische Situationen meiner selbst, die sie darzustel-len suchen, und ich schreibe das Libretto für diese allegorische Operette […]. Wenn die Narren weise werden, ist das Schauspiel zu Ende. Aber jeder Maskenball beginnt stets in Gravesend.509

Die Briefmarkensammlung, „ein Maßstab, […] mit dem die Welt faßbar erscheint“510, bildet einen Bannkreis um Thomson, den er nicht zu überwinden vermag. Dieser Maßstab besitzt aber nur Gültigkeit für Thomson selbst, nicht für seine Frau Marah und seine Tochter Martha, deren Ver-nachlässigung über die Briefmarken ihm jetzt Schuldgefühle bereitet. Sie stellt für ihn jedoch die einzige Möglichkeit dar, „in der Welt zu sein, ihre Leere mit meiner Sehnsucht auszufüllen.“511 Seine Sehn-sucht ist größer als seine Liebe, die er ihr in gewissem Sinne opfert. Die Hinwendung zu toten Dingen, die ihn zum Melancholiker machen, sind Ausdruck seiner Orientierungslosigkeit, weil er

506 Thomson berichtet von Augustus Earle, zu dessen 150. Todestag eine Sonderbriefmarke herausgege-ben werden sollte, die jedoch zunächst aufgrund des falschen Sterbedatums ein Fehldruck war. Earle hatte 1825 gezwungenermaßen einige Monate auf Tristan da Cunha verbracht, weil sein Schiff, das wegen eines Sturmes vor der Insel ankern musste, ohne ihn in See stach. In seiner 1832 erschienen „Narrative“ berich-tet er von den Ereignissen auf Tristan da Cunha, was ihn zum ‚Ersten Chronisten‘ der Insel macht.

507 Ebd., S. 354. Kursivsetzung im Original.

508 Ebd., S. 268.

509 Ebd., S. 269. Kursivsetzung im Original.

510 Ebd., S. 379.

511 Ebd. Kursivsetzung im Original.

– wie auch Ludwig Höhnel in Finis Terrae – nur Dinge verstehen kann, die „das Emblematische des Todes […] verkörpern“512.

Wie Dodgson versteht Thomson sein Schreiben in religiösem Sinn als eine Buße für seine Fehler und Sünden. Bei Thomson ist dies mit Dantes Divina Commedia als literarischem Referenztext verbunden. In dem mit „Der Läuterungsberg“ betitelten Kapitel, das die Ereignisse auf der Insel von 1825 bis 1851 beschreibt, wird das Geschehen verschiedenen (Höllen-)Kreisen zugeord-net.513 Dantes Dichtung selbst setzt mit der Krise des lyrischen Ich als einem Bewusstsein über seine Desorientierung ein, die er metaphorisch als Verirrung in einen dunklen Wald versinnbild-licht.514 Seiner allegorische Wanderung, die ihn aus dem Stand der Unwissenheit und der Unsitt-lichkeit der Welt515 läutern und zur Erkenntnis und Vereinigung mit Gott führen soll, führt ihn in die Hölle und zum Läuterungsberg des Jenseits. Als Dichter, der die ‚letzte‘ Grenze überschreitet, indem er das Jenseits betritt, wird Dante, geleitet und begleitet von Vergil, selbst zum Suchenden nach Erkenntnis und gleichzeitig zum Navigator in den Geschehnissen seiner Zeit. 516

Besonders bei Dodgson wird die Sehnsucht nach Gott als einer übergeordneten, Ordnung stif-tende Instanz thematisiert, die Mircea Eliade als eine grundlegend anthropologische Sehnsucht nach dem Heiligen und dem Mythos des homo religiosus versteht. Nach Eliade ist die Welt nur scheinbar säkularisiert, während der Mythos immer noch „die verbürgte sichere universale Orien-tierung in einer konkreten, chaotischen, historischen Zeit“517 bietet. Diese mythischen Strukturen sollen die Grundlage für die Orientierung bei Dodgson und Thomson bilden, während Reval und Morholt mit Vermessung und Wissenschaft die Paradigmen der Aufklärung zum Fundament ihrer Orientierung machen.

512 Ebd.

513 Ebd., S. 383ff.

514 „Nel mezzo del cammin di nostra vita/mi ritrovai per una selva oscura,/ché la diritta via era smarrita./; Wohl in der Mitte unsres Lebensweges/geriet ich tief in einen dunklen Wald,/ so daß vom graden Pfade ich verirrte.“ Dante Alighieri: La Divina Commedia. Inferno. Testo della Società Dantesca Italiana, note a cura di Claudio Scarpati. Milano: Fabri Editori, 1995, S. 27. Deutsche Übersetzung von Ida und Walther von Wartburg, Die Göttliche Komödie. Zürich: Manesse, 21963, S. 47. Die folgenden Ausführungen zu Dantes Commedia sind den Kommentaren und Vor- wie Nachworten von Walther von Wartburg entnommen, die der deutschen Übersetzung beigestellt sind.

515 In der Annotation der italienischen Ausgabe heißt es: „selva oscura: è il sombolo dello stato di ignoranza e di corruzione dell’umanità“. Ebd.

516 Im Nachwort zum anschließenden 33. Gesang des Purgatorio heißt es:

„Die Rückkehr ins irdische Paradies, die Prüfungen und Visionen, die ihm hier zuteil werden, schließen den Läuterungsberg ab und öffnen ihm zugleich den Weg hinauf in die Himmel. Die weltgeschichtlichen Visionen zeigen Dante nochmals den ganzen Irr- und Leidensweg, den die Menschheit hat gehen müssen auf Grund der Ursünde. […] Er legt die objektivste und demütigste Beichte ab, die seit Augustins Konfessi-onen in die Weltliteratur eingegangen ist. Er tut dies wiederum in dem doppelten Sinn, in dem er die ganze Wanderung macht: als das Individuum Dante aus Florenz, aber auch als Vertreter der ganzen Menschheit.

So ruft er die Menschen zur wahren Buße auf, indem er sich selber demütigt. Am menschlichsten erleben wir Dante vielleicht in der Innigkeit des ständig sich vertiefenden Verhältnisses zu Vergil.“ Ebd., S. 819f.

517 Claudius Sittin: „Einleitung“ zu Mircea Eliade: „Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiö-sen (1957)“. In Texte zur modernen Mythentheorie. Hg. v. Wilfried Barner, Anke Detken und Jörg Wesche.

Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2003, S. 75–77, hier S. 76.

Das Orientierungsfeld von Raoul Schrotts Figuren entspricht dem, was er die ‚menschlichen Per-spektiven‘ nennt, die sich auf das Bedürfnis nach Sinnkonstruktion gründen und damit den Rah-men der Orientierung bilden. Alle Figuren scheitern jedoch an der gleichen Grenze, die ihnen durch eine Indifferenz, repräsentiert durch eine metaphysische Absenz oder die ‚indifferente Na-tur‘, ebenso wie durch die kreatürlichen Fakten von Geburt und Tod, gesetzt ist. Selbst das kon-tingente Ereignis von Noomi Morholts Totgeburt wird durch die Hinterfragung ihrer Liebe zum Vater des Kindes in einen Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung gestellt. Der Prome-theusmythos als paradigmatischer Urmythos aller Selbstbehauptungsmythen, seien sie religiös oder rational aufgeklärt, spiegelt sich in allen Orientierungsversuchen dieser Figuren, deren kör-perliche, als leibhafte und als Teil der (indifferenten) Natur gemachte Erfahrung der Krise die Existenz dieser Grenze bewusst macht. Ihre Versuche die Krisen im Schreibakt zu überwinden verdeutlicht ihnen die Grenzen ihrer Orientierungsmöglichkeiten.