• Keine Ergebnisse gefunden

2.1 Natur und Landschaften

2.1.4 Räume der Spurlosigkeit

eine Gedichtzeile – so heißt der schmale Streifen Sand, wo man Dodgsons Hab und Gut an Land schaffte […].190

Eine vierte Kategorie bilden die Namen, deren Ursprung unbekannt ist, z.B. Bugsby Hole und Devil’s Hole. Durch diese Einschreibungen in die Geographie wird auch Geschichte permanent vergegenwärtigt. Gleichzeitig lässt sich daran ablesen, dass diese Art der ‚Geschichtsschreibung‘

nur einmal, für das ‚erste Mal‘, d. h. für den Anfang gelten kann, da der Raum begrenzt ist, wäh-rend die Zeit fortläuft und in ihr dauernd Ereignisse stattfinden, die Eingang in die Geschichte finden könnten. Damit verweist der Text wiederum auf die Selektivität von Geschichte, in der bestimmte Ereignisse der Nachwelt überliefert werden, während andere in Vergessenheit geraten.

Für die Orientierung an und in der Geschichte hat dies zur Folge, dass vergangene Ereignisse als Markierungen der Orientierung immer schon eine gewisse Richtung vorzeichnen. Um dies scheinbar zu umgehen, entwerfen die Texte vermeintlich unmarkierte Naturräume, in denen sich keine kulturellen Spuren finden, um dann schließlich doch konstatieren zu müssen, dass nur das, was zum Zeichen wird, eine Markierung zur Orientierung sein kann.

Erzähler verwirrenden Strandszene zurück. Nachdem er von der Klippe bei Covehithe herab ein Paar beim Liebesakt am Strand gesehen hat und es mit einer Molluske vergleicht, ist er sich nicht mehr sicher, ob das, was er gesehen hat, tatsächlich da war oder ob er es sich eingebildet hat.

Ich wandte mich um, schaute zurück auf die leere Bahn, über die ich gekommen war, und wußte nicht mehr, ob ich das blasse Seeungeheuer am Fuß der Klippe von Cove-hithe nun in Wirklichkeit oder bloß in meiner Einbildung gesehen hatte. Die Erinnerung an die damals verspürte Unsicherheit bringt mich wieder auf die argentinische Schrift, die in der Hauptsache befaßt ist mit unseren Versuchen zur Erfindung von Welten zweiten und dritten Grades.193

Abb. 17: Liminalzone Strand

Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 89.194

In der Mitte des Zitats unterbricht das obige Bild einer wolkenverhangenen Küste den Text, der im Weiteren über die Unsicherheit des Wahrgenommenen eine Assoziationskette zu Jorge Luis Borges’ Geschichte „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ aus dessen Band Fiktionen (span. Ficciones) bil-det, in der es um die Verdoppelung, Transformation und das Ersetzen der Welt durch Fiktion geht. Der Anschlusspunkt zwischen der Beobachtung des Liebespaares am Strand und Borges’

Geschichte ist die Vervielfachung. In der Kurzgeschichte ist es der Spiegel, von dem eine „Art Beunruhigung“195 ausgeht, den Borges’ Erzähler als lauernden, „stummen Zeugen“196 versteht:

193 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 88f. Christian Moser versteht das „falsche Erkennen“ des Erzählers als Voraussetzung für eine veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit: „In order to transgress this limit, the individual must undergo an elaborate rite de passage. The strange ritual performed by Sebald’s walker is such a rite de passage. […] Thus the liminal viewpoint serves to defamiliarize the familiar […].“ Christian Moser: „Peripatetic Liminality: Sebald and the Tradition of the Literary Walk“. In Markus Zisselsberger (Hg.): The Undiscover’d Country. W. G. Sebald and the Poetics of Travel. Rochester: Camden House, 2010, S. 37–

63, hier S. 54.

194 Weitere Fotografien von Küstenstreifen finden sich in Die Ringe des Saturn auf S. 59, 67, 187, 189 und 268.

195 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 90.

196 Ebd.

„das Grauenerregende an den Spiegeln, und im übrigen auch am Akt der Paarung, bestünde da-rin, daß sie die Zahl der Menschen vervielfachen“, heißt es bei Borges.197

In Sebalds Fotografie fungiert das Meer als Spiegel, aus dem das Seeungeheuer an Land geht. Im Gegensatz zum Meer, in dessen Tiefen sich Unheimliches verbirgt und dessen Oberfläche sich gegen alle Markierungen und Spuren verwehrt, ist das Land, wie das Schild veranschaulicht, ein Raum, in den sich Markierungen und damit auch Spuren einzeichnen lassen. Als kulturell gepräg-ter Raum steht das Land dem spurlosen Meer gegenüber, das jedoch als Medium für Evolution, Expansion und Erweiterung eine entscheidende Rolle in der kulturellen Entwicklung des Men-schen spielt. Bereits Thales und Anaximander erkannten das Meer als Grundprinzip und Ur-sprungsort des Menschen, da es die Möglichkeit bietet, durch Seehandel Güter aus anderen Welt-gegenden in die Handelsstädte der Küstenregionen zu bringen, von wo aus sie ins Landesinnere gehandelt werden.198 Neben der Darstellung des Meeres als erhabene Natur und Grundlage menschlicher Existenz und Kultur, thematisieren die Texte auch den Eingriff des Menschen in die Prozesse der Natur, die zu Anomalien und Zerstörung führen, und verschieben den Fokus von der angenommenen „grundsätzliche[n] Unausrottbarkeit der Natur“199 zu einer im konstan-ten Verfall befindlichen Welt, die sich aufgrund ausbleibender Fortpflanzung beginnt selbst abzu-schaffen.200

Tausende von Tonnen Quecksilber, Kadmium und Blei, Berge von Düngemitteln und Pestiziden werden von den Flüssen und Strömen Jahr für Jahr hinausgetragen in den Deutschen Ozean. Ein Großteil der schweren Metalle und der anderen toxischen Sub-stanzen setzt sich in den seichten Gewässern der Dogerbank ab, wo ein Drittel der Fi-sche bereits mit seltsamen Auswüchsen und Gebresten zur Welt kommen.201

Der Mensch ist somit Urheber der Seeungeheuer, die aus dem Meer an Land gehen. Bei Sebald wird das Meer als kommerzieller Raum im Kontext der Lebensmittelindustrie und des Handels

197 „Ich verdanke der Konjunktion eines Spiegels und einer Enzyklopädie die Entdeckung Uqbars. Der Spiegel beunruhigte das Ende eines Ganges in einem Landhaus in der Calle Gaona in Ramos Mejía; die Enzyklopädie nennt sich fälschlich The Anglo-American Cyclopaedia (New York, 1917) und ist ein wortge-treuer, wenn auch mißbräuchlicher Nachdruck der Encyclopaedia Britannica von 1902. Der Vorfall ereignete sich vor etwa fünf Jahren. Bioy Casares hatte mit mir zu Abend gegessen, und wir waren in eine weitläufi-gen Polemik über die Ausarbeitung eines Romans in Ich-Form geraten, dessen Erzähler Tatsachen auslas-sen oder entstellen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte, die es wenigen Lesern – sehr wenigen Lesern – gestatten würden, eine grausige oder banale Wirklichkeit zu erahnen. Vom fernen Ende des Ganges belauerte uns der Spiegel. Wir entdeckten (in tiefer Nacht ist diese Entdeckung unvermeid-lich), daß Spiegel etwas Monströses haben. Daraufhin erinnerte sich Bioy Casares, einer der Häresiarchen von Uqbar habe erklärt, die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen.“ Jorge Luis Borges: „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“. In Fiktionen. Frankfurt a. M.: Fischer,

92004, S. 15–34, hier S. 15.

198 Platon und Aristoteles vertraten jedoch unterschiedliche Meinungen zu den Seehandel treibenden Städ-ten. Während Platon dem mit der Unterwelt in Verbindung stehenden Meer einen unheimlichen Charak-ter zuschreibt und in seinem Werk Atlantis den idealen Staat als keine Eroberungs- und Expansionspolitik betreibendes Gebilde beschreibt, befürwortet Aristoteles den Seehandel.

199 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 69.

200 Das Problem der Fortpflanzung stellt sich thematisch auch auf Schrotts Insel Tristan da Cunha.

201 Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 69.

mit der Heringsfischerei in Teil III von Die Ringe des Saturn beschrieben, jedoch liegt der Fokus auf der thematischen Fortsetzung der Naturgeschichte der Zerstörung, da es vor allem um die Naturzerstörung und den Niedergang der Fischerei geht – Umweltthemen, die vor allem in der Literatur nach der Jahrtausendwende prominent werden, wobei jedoch schon in vorgängigen Texten, wie dem Sebalds, ein Umdenken und die Notwendigkeit einer Umorientierung im Bezug auf Natur und Umwelt zum Thema gemacht werden. Während die Erzählerprotagonisten in Se-balds Werk gegenüber der Naturzerstörung als ohnmächtige Beobachter konzipiert sind und ihre Gefühlswelt durch die Wahrnehmung der Zerstörung von Melancholie bestimmt ist, findet sich in der Literatur nach dem Millennium der Impetus einer Metanoia202, eines fundamentalen Um-denkens. Am Ende des 20. Jahrhunderts muss die Haltung gegenüber der Natur aufgrund der Ressourcenknappheit neu verhandelt werden.Die literarischen Werke seit Ende der 1980er Jahre spiegeln die existenzielle Notwendigkeit wider, alte Paradigmen in Frage zu stellen, indem sie sie einer Revision unterziehen. Die Einstellung des Mensch gegenüber der Natur als die eines Erobe-rers und Bezwingers, wie sie in Die Schrecken des Eises und der Finsternis und in Tristan da Cunha kon-trastierend dargestellt wird, resultiert in der Literatur nach der Jahrtausendwende in konkreten Forderungen nach einer Änderung der eigenen Lebensauffassung und der Gewinnung einer neu-en Weltsicht. Der poetische Unterschied zwischneu-en dneu-en Werkneu-en vor der Jahrtausneu-endwneu-ende und jenen, die danach entstanden sind, macht sich also an der Einordnung des Konzepts von Natur als Lebensraum kenntlich. Werden in den 1990er Jahren imperialistische Paradigmen befragt, ist der Topos der Natur in der Literatur der 2000er Jahre gleichbedeutend mit dem (gefährdeten) Gleichgewicht der Ökosysteme.203