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3.3 Driften zum Nordpol in Die Schrecken des Eises und der Finsternis

3.3.2 Spurensichtung eines Chronisten im Weißraum

Wie Sebalds Erzähler ist Josef Mazzini gerade von diesen Details affiziert; sie sammeln sie und setzen in ihren Geschichten und Niederschriften aus ihnen ihre eigene Landschaft, den Raum, in dem sie sich bewegen, zusammen: Mazzini, um sich eine Kulisse für seine Abenteuersehnsucht zu bauen, Sebalds Erzähler, um die Topographie eines Melancholikers herzustellen. Die Über-blendung gehört damit zu den Erzählstrategien, durch die die Texte die Synchronität von Ge-genwart und Vergangenheit erzeugen, indem sie Objekte in der Geographie der GeGe-genwart als einer anderen Zeit angehörig markieren und sie damit zur (Orientierungs-)Spur für die Figuren werden lassen.

in ein Kreuzworträtsel in einen Zusammenhang ein, und Mazzini wurde für mich zum Fall. Ich führte schließlich sogar jene polargeschichtlichen Nachforschungen weiter, die er so unbeirrt betrieben hatte, vertiefte mich immer mehr in seine Arbeit und vernachläs-sigte darüber meine eigene. Mazzinis spitzbergische Aufzeichnungen und Tagebücher, die mir Anna Koreth überließ, wurden mir schließlich so vertraut, daß ich auch die ver-worrensten Passagen daraus mühelos aus dem Gedächtnis zitieren konnte.551

Da er sich mit Mazzini so stark identifiziert, wird der Erzähler auch zu seinem eigenen Fall – auf der Suche nach sich selbst in den Spuren der Geschichte. Seine Besessenheit wird ihm selbst un-heimlich.552 Der Chronist geht in seinen Recherchen genauso vor wie Mazzini bei seinen Nach-forschungen zur Expedition: „Er durchwanderte die Archive. (In der Marineabteilung des öster-reichischen Kriegsarchivs lag das zerschlissene Logbuch der Admiral Tegetthoff verwahrt, lagen unveröffentlichte Briefe und Journale Weyprechts und Payers, in der Kartensammlung der Nati-onalbibliothek das Tagebuch des Expeditionsmaschinisten Otto Krisch und die monotonen sprachlosen Aufzeichnungen des Jäger Johann Haller aus dem Passeiertal…)“.553

Am Ende ist es der Chronist, der sich einmal mehr bewusst wird, dass die Geschichte, die er über Mazzini erzählt, eine von vielen Möglichkeiten ist, diese Geschichte zu erzählen, sie zu inszenie-ren. Indem Ransmayr die Offenheit der Interpretation in der Erzählstrategie von Die Schrecken des Eises und der Finsternis illustriert, weist er auf die allgemeine Möglichkeit der Vereinnahmung von Geschichte hin. Der offene Ausgang von Mazzinis Reise und sein Verschwinden sind der Kataly-sator für das Schreiben des Chronisten, der sich zwar in Mazzini spiegelt, dem aber klar ist, dass er sich jede Freiheit nehmen kann, von der fixen Idee Mazzinis, aber auch von der Mannschaft der Tegetthoff zu erzählen. Seine Suche folgt der Leitlinie, die die Berichte vergangener Entdecker-helden vorgeben, wirft ihn aber letztlich auf sich selbst zurück, wenn er erkennt, dass er in die Welt eines anderen hinübergeglitten ist und sich durch die Art der Verkettung und Verbindung der Ereignisse auf eine Reise in nacheinander gestaffelte Zeiträume begeben hat, die er erst in seiner Erzählung neu verbinden kann, um durch seinen Text eine neue, andere Perspektive zu entwerfen. Die nebeneinander stehenden Zeitebenen bilden erst als Erzählung eine Einheit, sie sind jedoch keine homogene ebene Fläche, sondern spalten sich in eine Vielzahl von Stimmen, Perspektiven und Ereignishergänge auf, die jede für sich ihre subjektive Wahrheit enthält.554 Wie

551 Ebd., S. 25.

552 „Noch immer ist mir die Erinnerung an jenen Märztag unbequem und lästig, an dem mir auf dem Weg in eine geographische Bibliothek plötzlich bewußt wurde, daß ich längst in die Welt eines anderen hin-übergewechselt war; es war die beschämende, lächerliche Entdeckung, daß ich gewissermaßen Mazzinis Platz eingenommen hatte: Ich tat ja seine Arbeit und bewegte mich in seinen Phantasien so zwangsläufig wie eine Brettspielfigur.“ Ebd.

553 Ebd., S. 24.

554 Julius Payer ist dabei die prominenteste Stimme: „[…] für Payer [ist] die Mission erst dann ehrenvoll, wenn er von Niegesehenem, Niebetretenem berichten kann, als Herold einer terra nuova. Sein Werk Die österreichisch ungarische Nordpolexpedition 1872–74 von 1876 besticht durch einen unversiegbaren Reichtum, das ‚furchtbare Triumvirat‘ [Finsternis, Kälte und Einsamkeit, Anm. A. K.] immer neu schildern, die Dramatik des Immergleichen unermüdlich neu entdecken und damit der von Verzweiflung, Krankheit und Todesangst gezeichneten Jämmerlichkeit dieser so tragikomisch früh verunglückten Forschungsreise heroische Größe verleihen zu können. Payer singt im Chor der Gesamtkomposition Ransmayrs

Sebald verdeutlicht Ransmayr dadurch, dass Geschichte kein Großnarrativ mit Geltungsanspruch auf die Wahrheit ist, sondern dass diese aus einer Vielzahl von disparaten Geschichten besteht.

Auch die (Wieder-)Herstellung des Abenteuers ist eine subjektive ‚Arbeit‘, der zwar authentisches Material zugrunde gelegt werden kann, dessen Lücken aber immer mit Mutmaßungen und Erfin-dungen gefüllt werden müssen. Ransmayrs Chronist macht deutlich, dass dies nicht am Material liegt, sondern eine unhintergehbare Leerstelle ist: „Daß ich ihn, anders als den Maschinisten Krisch oder den Bootsmann Lusina, gekannt habe, ermöglicht mir nicht viel mehr, als wahr-scheinliche Situationen wiederherzustellen; Situationen, die in Mazzinis Aufzeichnungen nicht enthalten sind.“555 Dem Navigieren zwischen Fakt und Fiktion ist also eine ähnliche Bewegungs-form inne wie der Fahrt der Tegetthoff, die hauptsächlich eine Drift auf einer Eisscholle war. Je-doch nicht nur Mazzini reist in seiner eigenen Welt, auch die historischen Expeditionsteilnehmer haben die Wirklichkeit, die der Chronist als polyperspektivisch bezeichnet, auf ihre eigene subjek-tive Weise wahrgenommen und dementsprechend in ihren Tagebüchern unterschiedlich festge-halten. Der Kommentar des Chronisten zu den unterschiedlichen Ankunftsdaten der Admiral Tegetthoff in Tromsø in den Tagebüchern der Besatzungsmitglieder Brosch, Krisch und Payer lau-tet:

Die Wirklichkeit ist teilbar. (Auch in der kleinen Gesellschaft an Bord der Tegetthoff waren die Journale der Untertanen von denen der Befehlshaber so verschieden, daß es manch-mal schien, als wurde in den Kojen und Kajüten nicht an einer einzigen, sondern an der Chronik mehrerer, einander ganz fremder Expeditionen geschrieben. Jeder berichtete aus einem anderen Eis.)556

Damit verdeutlicht Ransmayr, dass das Erleben immer subjektiv und die Beurteilung dessen, was ist, eine Frage der Perspektive ist.

Der Chronist in Die Schrecken des Eises und der Finsternis ist vergleichbar mit Rui in Tristan da Cunha, da in beiden Romanen der Beginn der Arbeit des Chronisten bzw. Autors an den Schluss der Spiegelgeschichte gesetzt wird. Raoul Schrott und Christoph Ransmayr setzen mit diesen beiden Romanen einen Diskurs fort, der in der Literaturgeschichte fest verankert ist. Der Raum der Pole als realer und fiktiver Imaginationsraum ist miteinander verschränkt, und die Texte des Pol-Diskurses schreiben sich fort und nehmen aufeinander Bezug. Die Geschichte, die Ransmayrs Chronist vermeintlich schreiben will, ist schon geschrieben und er, eine Figur darin, ein Erzäh-ler557, der das Drama am Ende der Welt noch einmal aufgeführt, obwohl die historische Entde-ckung dieser Regionen schon längst abgeschlossen, ihre Geschichte schon längst erzählt ist.

Ransmayr lässt seine Figuren Josef Mazzini und den Chronisten von Anfang an in dem papiere-hörbar die erste Stimme, geschmeidig phrasierend und staunenswert sensibel in der Artikulation.“ Harald Eggebrecht: „Wider das häßliche Haupt der Wahrscheinlichkeit.“ In Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt a. M., Fischer, 1997, S. 74–81, hier S. 77f.

555 Ebd., S. 63.

556 Ebd., S. 42.

557 Eine ähnliche Doppelung in der Erzähler-Figur findet sich in Sebalds Die Ringe des Saturn.

nen Weiß seiner Fiktion verschwinden. Am Beispiel von Jules Vernes Le sphinx des glaces, E. A.

Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym und Georg Heyms Das Tagebuch des Shakleton hat Bettine Menke die metatextuelle Funktion des Polarraums illustriert. Das polare Eis, das ein spurloses Weiß als exterritorialer Ort und als „Topos des Endes aller Aufzeichnungen“558 sein sollte, ist immer schon ein Ort, an dem es von textuellen Spuren wimmelt:

Das Polargebiet wird in den Spuren der Vorgänger betreten. Die Spurlosigkeit wird auf-gefunden nur als nachträgliche Gegebenheit durch die Zweiten, die Leser-Schreiber, das, was nur einmal sich ereignet, nur in der Wiederholung. Das sagt nicht nur etwas über die Un-/Erreichbarkeit der Pole, sondern umgekehrt eben auch etwas über die Texte, ihre Unbegründbarkeit, die von ihnen rückwirkend konstituierte Primarität, die demnach je schon (ihr vorweggreifend) beschrieben war. ‚Nur noch das ständige Raunen der Wie-derholung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat‘, sagt Fou-cault zum Phantastischen Ende des 19. Jahrhunderts, das er als das ‚Phantastische der Bibliothek‘ kennzeichnet, als das ‚Chimärische‘, das ‚jetzt‘ ‚auf der schwarzen und weißen Oberfläche‘ entsteht, das ‚Imaginäre‘, das ‚zwischen dem Buch und der Lampe‘ ‚haust‘

und sich ‚von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen‘ ‚ausdehnt‘. Das, ‚was nur ein einziges Mal stattgefunden hat‘, wird schon ein ‚ständige[s] Raunen der Wiederholung‘ gewe-sen sein.559

Der polare Raum wird als die „Zone des ‚reinen Weiß‘ charakterisiert, als die der radikalen Un-möglichkeit von Schrift und Aufzeichnung überhaupt.“560 Eine Entdeckung dieses Ortes ist nur durch Wiederholbarkeit, durch Überschreibung möglich, so Bettine Menke.561

Der Topos der Übertretung, der die Neugierde modelliert, die als Antrieb geographi-scher Entdeckung vorgestellt und als Überbietung göttlich gesetzter Grenzen des Wis-sens problematisiert wird, taugt dazu, die Polarfahrt als ‚Scheitern am geistigen Heil‘ oder als Apokalypse auszuprägen. Der vierfache Wirbel am gewaltigen Berg von Dantes Pol gibt den Prototyp all jener whirlpools und Maelströme, in denen die säkulare Weltneugier der discovery geahndet wird.562

558 Menke: „Grenzüberschreitungen in der Schrift“, S. 78.

559 Ebd., S. 77. Kursivsetzung im Original.

560 Ebd., S. 78.

561 Menke exemplifiziert die Tatsache, dass das Polargebiet in den Spuren der Vorgänger betreten wird, anhand von Poes „Note“ zur „Narrative of A. G. Pym“: „Nachfahrt, das nachfahrende Schreiben, schreibt sich lesend in der Spur des Vorgängertextes an das unbetretene, jungfräuliche Territorium heran, überbietet überschreibend den Vorgänger-Text und schreibt ihn fort, dorthin, wohin dieser nicht kann. Er wird derart seinen Vorgänger dort angekommen sein lassen, wo dieser (zuvor) nicht gewesen sein konnte, um in seinen Spuren, als Nachfahre den entzogenen anderen Ort zu erreichen. Die Doppelgängerei der Nachfahren, die den Schreibenden in den Spuren von Vorgängern den unbetretenen Ort erreichen lässt, sei dies in Vernes Le sphynx des glaces, in Heyms ‚Tagebuch Shakletons‘ oder Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis, unterstreicht durch ihre wiederholten Wiederholungen dieses Modell des Schrei-benden als Nachfahre(nden) und damit die Uneinholbarkeit jenes ‚Ursprungs‘ eines originären Schreibens, jener noch nicht betretenen weißen Fläche, die im Erzählten erreicht, überschrieben oder jenseits dessen reserviert, jenseits des Erzählens angezeigt werden.“ Ebd., S. 75ff.

562 Ebd., S. 55.

Während Homer seinen Odysseus heimkehren lässt und seinem Nostos mehrere Gesänge wid-met, erfindet Dante in seinem Odysseus, noch vor Kolumbus’ tatsächlicher Entdeckung Ameri-kas, den modernen Entdecker, der von seiner Neugierde getrieben die Welt entdeckt.563

So malt Dante einen kühnen Seefahrer, dessen einzige stolze Lust es ist, stets neue Län-der zu erschließen, nicht um sich anzusiedeln, sonLän-dern um in maßloser Entdeckergier immer wieder neues zu sehen. Ein guter Christ pflegt auf seine alten Tage in sich zu ge-hen und zu büßen; Odysseus aber führt das alte Leben weiter und setzt mit freudigem Stolz das bißchen Leben aufs Spiel, das ihm und seinen Gefährten noch bleibt. […] Und hier wiederum malt er uns, zwei Jahrhunderte vor den großen Entdeckerfahrten, das Bild eines heidnischen Christoph Columbus oder Vasco da Gama. Der moderne Mensch mit seinem unendlichen Wissensdrang steht vor uns, der tollkühn ausfährt, um den unendli-chen Raum zu durchmessen, der moderne Forscher, der den Sieg des Mensunendli-chen über die ganze Erde tragen will.564

Dantes „Hyperodysseus“565 ist damit eine Vorwegnahme der Entdecker und der fiktiven Aben-teuer- und Entdeckerfiguren der Neuzeit, die wie er vom rastlosen Entdeckertrieb zu fortwäh-renden Unternehmungen getrieben werden. „[D]ie scheiternde Fahrt des Odysseus [als] das Mo-dell für Dantes eigenes Schreib-Unternehmen“566, die Abfassung der Göttlichen Komödie, ist ein Vorläufermodell für Die Schrecken des Eises und der Finsternis, die auf diesem Wege eine literarische Fortschreibung der Entdeckung des Polarraums sind. Die Protagonisten folgen textuellen Vor-schreiber-Spuren und schaffen neue Textspuren an einem Ort des Weiß, auf dem unbeschriebe-nen Blatt Papier, dessen Metapher das Weiß/Eis der Pole ist. Die Polfahrer in Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Tristan da Cunha reisen am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mit der Intention territorialer Bemächtigung wie ihre Vorgänger, denen es noch um Nationalprestige oder um das Ausfüllen der letzten weißen Flecken auf der Landkarte ging. Durch sie als nachfah-rende Schreiber kann eine korrigienachfah-rende Doppelung der vorangegangenen Reisen vorgenommen werden. Der Polarraum ist nicht nur als Zone der Unmöglichkeit der Spur konzipiert, als „Meta-pher des ohne-Fuß-Spur des vom Menschen Unberührten, Nicht-Beschrifteten“,567 sondern auch als Ort der Orientierungslosigkeit, der keinen Raum für Entdeckerhelden mehr bieten kann, son-dern nur für Nachreisende. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis schreibt der Chronist zwar mit Mazzini die Polarfahrt fort, jedoch nur noch in Form einer desillusionierenden Dienstfahrt, bei der er keine durch Vorgänger textuell gesetzte Grenze mehr überschreiben kann. Am Ende des Buches scheitert der Chronist gerade an der Problematik des Fortschreibens.568 Durch das

563 „‚O Brüder‘, sprach ich ‚die durch hunderttausend/ Gefahren ihr zum Okzident gelangt,/ dieser so kurz bemessenen Zeit des Wachens,/ Die euren Sinnen noch verliehen ist,/ wollt doch, der Sonne fol-gend, nicht versagen/ des weithin unbewohnten Lands Erforschung./ Gedenkt, aus welchem Samen ihr entsprossen,/ geschaffen ward ihr nicht, wie Tiere hinzuleben,/ doch Tüchtigkeit euch zu erringen und Erkenntnis.‘“563 Dante: Die Göttliche Komödie, S. 314.

564 Ebd., S. 318.

565 Ebd.

566 Menke: „Grenzüberschreitungen in der Schrift“, S. 56, Fn. 18.

567 Ebd., S. 61.

568 „[…] dort liegt auch das Kap Suchoi Nos und dahinter eine weitläufige Bai, in der die Tranjäger früher einmal nach verschollenen Schiffen, verlorenen Fangbooten, nach allem Ausschau hielten, was

Verfolgen der historischen Tagebuchstimmen als Vorgängerspuren gelingt es, wie vom Chronis-ten zunächst geplant, aber gerade nicht den Heldenmythos569aus der Welt zu schaffen. Dem Ransmayr’schen Chronisten geht es mit seinen Setzungen (der Art der Anordnung der Details) gerade um eine Auf- oder Erlösung aus dieser sehnsuchtsfördernden Konfiguration, wenn er davon spricht, dass ein Jahrhundert genügen muss, um ein Schicksal zu erklären, und es ihm un-heimlich scheint, dass sich Anfang und Ende einer Geschichte in der Weitläufigkeit der Zeit ver-lieren570, wohlwissend, dass das Schreiben und Lesen von Abenteuern diese Sehnsucht fördert und mit dem Bestreben, ein Ende zu finden, gerade das Gegenteil erreicht wird. Beispielsweise lässt er den Leiter des Polarinstituts in Oslo, der den Grund für Mazzinis Reisevorhaben wissen will, kommentieren: „Ein Buch also, […] noch ein Buch; auf jedes Abenteuer entfällt mittlerweile eine Schiffsladung Bücher, eine ganze Bibliothek …“, und Mazzini antwortet: „Und aus jeder Bibliothek kommt wieder ein Abenteurer.“571

4 Intertextuelle Spuren und poetische Umwege als Orientie-rungsstrategien

In diesem Kapitel soll auf die prominenten Intertexte und Referenzwerke (Gemälde) eingegangen werden, die im Sinne von Umwegen als poetische Orientierungsstrategien am jeweiligen Text untersucht werden. Ransmayr, Sebald und Schrott schreiben im Bewusstsein ihrer Vorgänger, denen sie als Spur folgen und die sie in ihren Texten als Fährte für den Leser legen. Die einzel-nen intertextuellen und bildnerischen Referenzen stellen Abdrücke in der Spur dar, die Die Schre-cken des Eises und der Finsternis, Finis Terrae und Tristan da Cunha sowie Die Ringe des Saturn im Zuge ihrer Selbstreflexion für ihre literarische Orientierung und zu ihrer eigenen Positionsbestimmung innerhalb der Literatur nutzen. Diese Art von Texten wird um die Jahrtausendwende zu einer literarischen Signatur für die gesellschaftliche Orientierungsbewegung in dieser Zeitspanne. Die Spuren können z.B. als Dialog (Ransmayr), als Anleihen und Korrespondenzen (Schrott) oder als Mustervorlagen (Sebald) auftreten und erscheinen auf Textebene als Zitat oder Zitatfragment, als Anspielung oder gar als Hypertext (Brown, Burton in Die Ringe des Saturn). Im Zuge dieser Refle-xion werden auch Weltbilder und Epochen aufgerufen, die den zeitgenössischen Texten einen Hintergrund liefern. Der Umweg wird zur Orientierungsstrategie des neuen Textes, er hat eine ähnliche Funktion wie die Figuration der Reise für die Figuren, da er die für die Orientierung nötige Distanz schafft. Die Intertexte als Spurabdruck stellen einen Orientierungspunkt aus dem wann im Eis verschwunden war – bei Suchoi Nos tauchte vieles als Treibgut wieder auf, geborstene Schiffsrümpfe, Planken, zersplitterte Masten, ausgelaugt und gebleicht. Vielleicht liegt dort ein Rest für mich bereit, höre ich mich sagen, vielleicht hat ein Schmelzwasserrinnsal aus einem spitzbergischen Glet-scher ein Zeichen für mich herausgewaschen, und die lange Strömung hat es bei Suchoi Nos für mich hinterlegt.“ Ebd., S. 275.

569 Zur Funktion des Mythos in Ransmayrs Werk vgl. Renata Cieślak: Mythos und Geschichte im Romanwerk Christoph Ransmayrs (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, Bd. 27). Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2007.

570 Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 11.

571 Ebd., S. 73.

Literaturkosmos und kulturellen Gedächtnis dar, über dessen Referenz eine Aussage über die Gegenwart getroffen werden kann. Darüber hinaus können auch Gattungen, wie die dramatische Form in Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis oder die Utopie in Raoul Schrotts Tris-tan da Cunha, auf ihre orientierende Funktion hin gelesen werden, deren allegorisches Potenzial einen Bezug auf die außerliterarische Wirklichkeit zulässt.