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3.1 Eine Wallfahrt, um der Leere der Hundstage zu entkommen

3.1.2 Gräber und Bestattungsrituale

Abb. 23: Mausoleum

Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 233.

In der Nähe von Woodbridge, im Park von Boulge, befindet sich das Grab des Schrift-stellers Edward FitzGerald. In dem verwahrlosten Park sind die Gräber halb in der Erde versunken, überschattet von den immer weiter vordringenden Ahornen. Kein Wunder, denkt man unwillkürlich, daß FitzGerald, der Beisetzungen ebenso wie jede andere Form von Feierlichkeit verabscheute, an diesem dunklen Ort nicht begraben werden wollte und eigens verfügte, man solle seine Asche ausstreuen über den glänzenden Spiegel des Meers. Daß er dennoch hierher, in eine Grabschaft neben dem häßlichen Mausoleum seiner Familie zu liegen kam, ist eine jener bösen Ironien, gegen die man selbst mit sei-nem letzten Willen nichts vermag.361

Bemerkenswert an dem Verhältnis von Text und Bild ist, dass diese Bilder von Grabmälern in Die Ringe des Saturn jene Gräber zeigen, die neben denen liegen, von denen im Text erzählt wird.

Damit suggeriert Sebald einen abschweifenden Blick, der gerade wegführt von dem, was bespro-chen wird. Die Abbildung rückt jedoch gerade das ins optische Zentrum, was im Abseits liegt.

Mit diesem Kunstgriff unternimmt Sebald eine Korrektur des Blickes, indem er Peripherie und Zentrum vertauscht und das Periphere dadurch sichtbar macht.

361 Ebd., S. 233.

Abb. 24: Grabmonument mit Urne Quelle: Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 309.

Über dieses Grab auf dem Friedhof von Ditchingham heißt es:

Neben dem Grab Samuel Suttons erhebt sich ein noch eindrucksvolleres, gleichfalls aus schweren Steinplatten gefügtes und von einer Urne gekröntes Monument, an dem mir zu-nächst vor allem die runden Öffnungen am oberen Rand der Seitenteile aufgefallen sind. Sie erinnern mich irgendwie an die Luftlöcher, die wir früher in die Deckel der Schachteln ge-macht haben, in denen wir die von uns gefangenen Maikäfer mit ihrem Blätterfutter einge-sperrt hielten. Möglicherweise, dachte ich mir, hat ein empfindsamer Hinterbliebener diese Löcher eigens durch den Stein bohren lassen für den Fall, daß die von ihm Gefangene in ih-rem Totenhaus noch einmal Atem schöpfen will. Der Name der Dame […] war Sarah Camwell, verstorben am 26. Oktober 1799.362

Sarah Camwell war eine Arztgattin aus der nicht weit entfernten Kleinstadt Bungay und Zeitge-nossin einer gewissen Charlotte Ives, deren Liebesdrama sich vier Jahre vor Sarah Camwells Tod abspielte: In den Sommermonaten des Jahres 1795 besucht ein junger französischer Adliger, der nach England geflohen war, die Pfarrersfamilie Ives. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Franzosen um den jungen, bereits erwähnten Vicomte Chateaubriand, der in seinen Mémoires d’Outre-Tombe darüber meditiert, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er sich für eine Ehe mit der fünfzehnjährigen Charlotte Ives entschieden. Wortgetreu übernimmt Sebald Chateaubriands Er-innerungen an den Hergang seines überstürzten Aufbruchs aus dem Hause Ives, die nur dadurch die Zeit überlebt haben, dass Chateaubriand sie niederschrieb, nachdem ihn Charlotte nach 27 Jahren in London aufgesucht und sich auf immer von ihm verabschiedet hat:

362 Ebd., S. 308f.

Lange Stunden habe ich mich nach dem schmerzhaften Abschied in meinem Kabinett in der Botschaft eingeschlossen und, unterbrochen immer wieder von vergeblichem Nach-sinnen und Räsonieren, unsere unglückliche Geschichte zu Papier gebracht. Unabweis-bar blieb dabei in mir die Frage, ob ich Charlotte Ives, schreibenderweise nicht abermals und endgültig verriet und verlor.363

Chateaubriand ist für die Thematik der Erinnerung für Sebald eine wichtige Referenz. Die Erin-nerung ist nicht nur eine Möglichkeit, etwas Verlorenes lebendig zu halten, sie kann negativ ge-wendet auch eine quälende Last sein, für die man einen Aufbewahrungsort braucht, einen Ort der Entäußerung. Als indirektes Zitat von Chateaubriand heißt es weiter in Die Ringe des Saturn:

Wahr ist allerdings auch, daß ich mich meiner Erinnerungen, die so oft und so unverse-hens mich überwältigen, anders nicht als durch das Schreiben zu erwehren vermag. Blie-ben sie verschlossen in meinem Gedächtnis, sie würden schwerer und schwerer wiegen im Laufe der Zeit, so daß ich wohl zuletzt zusammenbrechen müßte unter ihrer ständig zunehmenden Last.364

Nicht zuletzt drückt Sebald über Chateaubriand seine Schreibmotivation bezüglich belastender Erinnerungen aus, die sich auch in den Reflexionen und im Schreiben der Figuren bei Raoul Schrott und Ransmayrs Chronisten findet. Die Natur der reflektierenden, melancholischen Erin-nerung, die der Erzähler von Die Ringe des Saturn in seiner Niederschrift zu Papier bringt, bedenkt auch Chateaubriand in seinen Erinnerungen von jenseits des Grabes: „Monate- und jahrelang liegen die Erinnerungen schlafend in unserem Inneren und wuchern im stillen fort und fort, bis sie von irgendeiner Geringfügigkeit heraufgerufen werden und auf seltsame Weise uns blind ma-chen fürs Leben.“365 Die Blindheit ist jene, die den Melancholiker überfällt, der sich der Welt der toten Dinge zugewandt hat, weil er seine letztgültige Endlichkeit im Tod erkannt hat.366 Sebald stellt mit den Abbildungen der Grabmäler eine Analogie zwischen Grabsteinen als Bestattungsin-signien und derselben Funktion des Textes als Erinnerungsträger her.

363 Ebd., S. 302.

364 Ebd., S. 302f.

365 Ebd.

366 In Brownes Hyriotaphia heißt es: „But all or most apprehensions rested in opinions of some future being, which, ignorantly or coldly believed, begat those perverted conceptions, ceremonies, sayings, which Christians pity or laugh at. Happy are they which live not in that disadvantage of time, when men could say little for futurity, but from reason: whereby the noblest minds fell often upon doubtful deaths, and melancholy dissolutions. With these hopes, Socrates warmed his doubtful spirits against that cold potion;

and Cato, before he durst give the fatal stroke, spent part of the night in reading the Immortality of Plato, thereby confirming his wavering hand unto the animosity of that attempt. It is the heaviest stone that melancholy can throw at a man, to tell him he is at the end of his nature; or that there is no further state to come, unto which this seems progressional, and otherwise made in vain.“ Thomas Browne/W. A. Green-hill: Sir Thomas Browne’s Hydriotaphia and The Garden of Cyrus. New York: Macmillan & Co., 1896 [Faksimileausgabe Kessinger Publishing’s Legacy Reprints, USA, o. J.], S. 58f. Vgl. auch Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 39.