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Korrespondenzen und Anleihen zur literarischen Orientierung als

4.2 Eine Frage der Perspektive – Raoul Schrotts Literatur- und Weltverständnis

4.2.2 Korrespondenzen und Anleihen zur literarischen Orientierung als

4.2.2 Korrespondenzen und Anleihen zur literarischen Orientierung als Maskenspiel

szenierung und Neukonstruktion umzubauen. So ist das für eine Anthologie gattungsspezifisch kennzeichnende Eingreifen eines, auch fiktiven, Herausgebers in den Textkorpus für Raoul Schrotts Werke wesentlich und Teil des Maskenspiels. Dass es sich dabei um ein Konzept han-delt, das von der Textgattung unabhängig ist, lässt sich an den verschiedenen Herausgeberfiktio-nen, Autor-Alter-Egos und Sprecherkonzeptionen in seinen Romanen erkennen. Schrotts Poetik ist immer auf eine Totale zur Rekonstruktion und Neukonstruktion eingestellt. In einer Rezensi-on zu Schrotts Anthologie Die Erfindung der Poesie heißt es:

Wen oder was hat der Entdecker entdeckt? Zunächst und vor allem sich selbst. ‚Die Er-findung der Poesie‘ ist ein unerhörter Akt der SelbstEr-findung, eine Machtergreifung son-dergleichen im Reich der gebundenen Rede. Auf den gut fünfhundert Seiten der Schrott-schen Anthologie werden wenigstens drei Dutzend Dichter aus allen Herren Ländern vorgestellt – allesamt übersetzt, eingeführt und kommentiert von Raoul Schrott. Wenn man die letzte der ‚Glossen‘ und bibliographischen Hinweise hinter sich hat, die im An-hang versammelt sind, kann man guten Gewissens behaupten, man habe ein Buch von Raoul Schrott gelesen. Diese Verwechslung von Autor und Herausgeber ist ganz im Sin-ne ihres Erfinders. Schon im Vorwort zu seiSin-ner Sammlung läßt Schrott durchblicken, daß er nicht bloß ein paar Gedichte, sondern ein komplettes Weltbild aus der Schublade holen will.619

Was die Figuren seiner Prosa betrifft, so folgen sie dem Beispiel der Gestalten in Raoul Schrotts Lyrik: Sie sind Masken, die sich der Autor aufsetzt und durch die er spricht. Bei den Figuren in Tristan da Cunha beispielsweise geht es nicht um die Schöpfung eines literarischen Individuums, das Maskenhafte ist bereits in der Schablonenhaftigkeit der sich ständig wiederholenden Drei-eckskonstellation und in der Namensgebung der Figuren angelegt, Marah z.B. repräsentiert die Maske der unerreichbaren, nicht in Besitz zu nehmenden Frau. Quest und Maskenspiel sind für Raoul Schrotts Literaturverständnis zwei Komponenten, die Hand in Hand gehen. Bei der Schriftstellerei geht es ihm darum, „von sich selbst ein Bild zu gewinnen“620, schreibt Monika Schmitz-Emans zu Raoul Schrotts Gedichtband Tropen. Sowohl das Konzept des Autors als Mas-kenträger als auch das Maskenspiel der Figuren in Finis Terrae und Tristan da Cunha stehen in Ver-bindung mit dem Schema der Quest als Selbstsuche, das Schrott mit Homers Odysseus bereits in einem Motto in Finis Terrae einführt, und welches, wie bereits erwähnt, der textuellen Orientie-rung dient. Mit der Referenz zu Dante und seiner Odysseus-Figur kommt eine weitere Ebene der Selbstsuche zum Tragen, die über die geographische Entdeckung hinaus, mit der Wanderung des Dichters als innerer Sinn- und Selbstsuche verbunden ist. Raoul Schrott zieht hier eine Linie vom irrfahrenden Odysseus Homers zum grenzüberschreitenden Odysseus Dantes und folgt damit einer poetischen Spur der Quest und der Entdeckung. Der Dichter Dante nimmt sich in Die Gött-liche Komödie allegorisch ein Dichtervorbild (Vergil) zum Geleit, um in die Tiefen seiner Zeit und in seine eigene Unwissenheit hinabzusteigen und den Weg für seine Seele aus dieser selva oscura zu

619 Andreas Kilb: „Dreh Dich nicht um, Catull. Die ganzen Kerle der Poesie“. In Die Zeit, 14.11.1997, zitiert nach Schmitz-Emans: „Die Erfindung der uralten Maschine“, S. 25.

620 Schmitz-Emans: „Die Erfindung der uralten Maschine“, S. 34.

finden. Die Wandlung des Poeten lässt sich an seinem Stil ablesen, der eine Transformation sei-ner selbst voraussetzt:

Die Menschen des Inferno leben eigentlich immer und immer wieder ihr irdisches Leben durch; sie kommen nicht darüber hinaus, sie haben sich selbst da hinein festgebannt. Sie kämpfen, sie leiden, sie hassen und lieben wie wir; deshalb sind sie mit den Mitteln einer erdgebundenen Kunst so plastisch darzustellen. Anders bei den Bewohnern des Purgato-rio. Hier ist von Kampf keine Rede mehr. Über jeden ist eine Strafe verhängt, die ihn seiner Vollkommenheit näher bringen soll. […] Daß hier eine ganz andere Stimmung herrschen muß als in der Hölle […,] liegt auf der Hand. […] was das Gedicht hier an Gewalt, an Wucht, an Gegenständlichkeit, an Plastizität verliert, das gewinnt es an Innig-keit, an Tiefe, an Inbrunst. […] Daß hier der Stil nicht mehr der gleiche sein kann wie in der Hölle, daß Dante selber ein anderer Mensch werden muß, ist klar. Wie käme denn anders die innere Entwicklung zustande, die doch mit Gegenstand der „Commedia“

ist?621

Die Göttliche Komödie ist nicht nur eine Allegorie auf das Weltgeschehen und die Existenz des Menschen und sein Streben nach Sinn, sondern auch eine Selbstsuche des Dichters, der sich mit Vergil innerhalb der Literatur orientiert und diese, wenn auch unwissentlich, modifiziert, indem er Odysseus eine ‚letzte Fahrt‘ erdichtet, der er die Vorahnung einer im doppelten Sinne neu an-brechenden Zeit einschreibt. Zum einen zeigt sie die Ablösung der antiken Götter, in deren Welt der homerische Held Odysseus beheimatet ist und deren Ende er kurz vor seinem eigenen Schiffbruch im Aufscheinen von Dantes Läuterungsberg als christlichem Konzept am Horizont gewahr wird, ohne sich über dessen Bedeutung bewusst zu werden. Zum anderen sieht Dante in seiner eigenen Zeit eine neue anbrechen, wodurch er den Übergang vom Mittelalter zur Renais-sance markiert.

Die poetische Quest, die Raoul Schrott unternimmt, führt ihn nicht nur durch alle Bereiche der Literaturgeschichte, deren Werke intertexte Umwege für seine Werke liefern, sondern auch durch eine Vielzahl von Diskursen, die er in sein Schreiben integriert, und die einen indirekten Umweg hin zu seinen eigenen Themen darstellen. Es gehe ihm um Entgrenzung und Entdifferenzierung, für die der Mythos die Grundstruktur bilde; der Mythos diene dazu, die Welt synchron statt dia-chron zu erklären.622 Auch in seinem Umgang mit Dichtung und Übersetzung strebt Raoul Schrott die Aufhebung von Grenzen an, was Schmitz-Emans mit Blick auf Schrotts Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahrendie „Hybridisierung der Diskurse“623 nennt, die bei Raoul Schrott „kein Versehen, sondern Programm“624 ist, das sich nicht zuletzt auf das Erbe der Romantik stützt.625

621 Dante: Die Göttliche Komödie, S. 412f.

622 Schmitz-Emans: „Die Erfindung der uralten Maschine“, S. 37ff.

623 Ebd., S. 34.

624 Ebd., S. 17.

625 „Schrott ist ein später Erbe der Romantiker. In der romantischen Poetik, die hier vor allem den Be-stimmungen des Ästhetischen durch Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft verpflichtet ist, wird von der Dichtung ausdrücklich gefordert, sie möge sich selbst reflektieren und – mit einer berühmten

Bei Schrotts Versuchen, die heutige Welt, deren Erkenntnis naturwissenschaftlich fundiert ist, zu erzählen, spielt Imagination eine zentrale Rolle, da Sprachbilder Schrott zufolge auch das Fun-dament der Naturwissenschaften sind. Ein großes Vorhaben seiner Poetik ist es, mit naturwissen-schaftlichen Diskursen zu kommunizieren, was als eine weitere Maske Raoul Schrotts verstanden werden kann. Die Bestrebung der Wiederzusammenführung der ‚zwei Kulturen‘626, die Hybridi-sierung der poetischen und der naturwissenschaftlichen Weltsicht, stellt Raoul Schrott poetolo-gisch in eine Reihe mit Hans Magnus Enzensberger und Durs Grünbein. 1959 lancierte C. P.

Snow mit seiner Rede eine lang anhaltende Diskussion über die Kluft, das Unverständnis, die Ignoranz und Arroganz, mit der sich die beiden disziplinären Lager gegenüberstehen. Der Dialog von Naturwissenschaften und Poesie ist zentraler Bestandteil der Poetik Raoul Schrotts, sei es auf der Mikroebene eines einzelnen Gedichts627 oder auf der Makroebene seines Gesamtwerkes. Das Bindeglied zwischen den beiden Kulturen ist Schrott zufolge die Kraft der Metapher. Nicht nur in der Lyrik kommt die Zusammenführung der beiden Weltsichten zum Tragen, sondern auch in seiner Prosa. So in seinem Roman Finis Terrae in den ‚Diagrammen zu den Planetenbewegungen der 27 Sphären‘ der Figur Schiaparelli oder in der Abbildung der ‚Rekonstruktion der Mechanik des Modells Eudoxos‘ von Knidos628, aber auch in Tristan da Cunha629 in den Ausführungen seiner Figur Noomi Morholt zur Aurora Australis.

Denn beide Kulturen finden einen gemeinsamen Nenner im Konsens, dass unser Hirn – ob in den Naturwissenschaften oder in der Poesie – auf analoge Art und Weise operiert.

Um die Gedankenexperimente und Einsichten der einen wie der anderen Seite mittelbar und gedanklich fassbar zu machen, bedürfen jedoch beide einer Sprache, die sich im mindesten Fall als Vaihingersches Als ob präsentiert. Das gilt auch für die Neurowissen-schaften und ihre Begriffe. Die Oberfläche des Mittelhirns nennt sie etwa Tectum

‚Dach‘, und den Thalamus ‚Schlafgemach‘; griechisch Amygdala steht für ‚Mandelkern‘

[…]. In den hier verborgenen Systemen von Nervenzellen finden Wissenschaft wie Poe-sie aber ihren Ursprung. Was beide antreibt, sind zunächst ihre Intuitionen der Welt, de-ren induktive Erkenntnisse oft genug aus der heuristischen Kraft einer bestimmten Me-taphorik resultieren […]. Beide etablieren damit ihre jeweils eigenen Ikonographien und

rung Friedrich Schlegels – nicht nur ‚Poesie‘, sondern zugleich immer auch ‚Poesie der Poesie‘ sein. Dieses Postulat trägt der autonomieästhetischen Idee Rechnung, dass Kunst nicht durch außerkünstlerische Strukturen, Diskurse und Gegebenheiten begründet werden sollte, sondern in sich selbst ihren Grund haben muss. Die Dichtung soll ihre eigene Theorie und ihre eigene theoretische Begründung enthalten eben weil keine Begründung von außen kommen kann und keine Beschreibung, keine Theorie ‚von außen‘

ihr je ganz gerecht werden könnte. Schrott ist als Anthologist wie als Literaturtheoretiker der autonomie-ästhetischen Leitidee verpflichtet […].“Ebd., S. 14f.

626 Zur Prägung dieses Begriffs vgl. C. P. Snows „Rede Lecture“ mit dem Titel „The Two Cultures and the Scientific Revolution“. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P.

Snows These in der Diskussion. München: Klett-Cotta im Deutschen Taschenbuch Verlag, 1987.

627 Am deutlichsten tritt dies in seinem Gedichtband Tropen. Über das Erhabene zutage.

628 Vgl. Schrott: Finis Terrae, S. 166f.

629 Vgl. vor allem das letzte Kapitel des Romans, betitelt mit „Noomi Morholt. Journal Vier. Mai/Juni 2003. Epilog“, in Schrott: Tristan da Cunha, S. 681ff.

entwerfen dadurch Weltsysteme, die sich letztlich – trotz aller empirischen Nachprüfbar-keit und FalsifizierungsmöglichNachprüfbar-keiten – auch als Allegorien begreifen lassen.630

Typisch für Schrotts Werke ist es, ein Thema kulturgeschichtlich in der Antike oder mit den alt-griechischen Mythen beginnen zu lassen und es bis in die modernen Naturwissenschaften der Gegenwart nachzuzeichnen.631 So auch in Finis Terrae und Tristan da Cunha, die, als literarische Einheit gedacht, mit der Weltentdeckung des antiken Pytheas von Massalia und seiner Beobach-tung der Naturphänomene in Finis Terrae beginnt und sich über die verschiedenen Weltbilder bis zur Erforschung des Polarlichts in den modernen Naturwissenschaften erstreckt. Raoul Schrott strebt aber nicht nur mit den Naturwissenschaften eine Korrespondenz an, sondern auch mit der bildenden Kunst, die einen weiteren Umweg über ihre Referenzwerke in seinen beiden Romanen darstellt.