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1. Gemeinsamkeit und Differenz

Für die politische Philosophie stellt sich nun die Frage, ob man das bis­

lang sozialphilosophische und ordnungspolitische Prinzip der Subsidia­

rität umstandslos in eine staatstheoretische Debatte übernehmen und zu einem juristischen Begriff machen kann. Wenn das neue Problem einen Teil dessen betrifft, was das sozialphilosophische Prinzip generell behan­

delt, wenn also mengentheoretisch gesprochen die Beziehung von Ober-zu Untermenge vorliegt, dann fällt die Antwort klarerweise positiv aus.19

Prima facie scheint es sich genau so zu verhalten. Auch wenn es in einer sozialphilosophischen Subsidiaritätsdebatte um das Verhältnis von nichtstaatlichen zu staatlichen Sozialeinheiten geht, in der staatsphiloso­

phischen Debatte dagegen um die Beziehung zwischen verschiedenen Stufen von Staatlichkeit, bleibt sich der Kern des Problems, die Vertei­

lung von Hilfspflichten und Kompetenzrechten innerhalb einer gestuf­

ten Sozialordnung, identisch. Identisch bleibt auch die Leitintention, dass die Verteilung den Letztbetroffenen, den einzelnen Menschen, opti­

mal dienen soll.

Es gibt aber auch eine Differenz, zumindest ein Moment, das im Sub-sidiaritätsprinzip, wie es bei Aristoteles und in der Enzyklika erscheint,

nicht thematisiert wird. Wie schon gesagt, gehören zu einem Staatswesen Zwangsbefugnisse bzw. öffentliche Gewalten. Wer Not leidet, sucht -teils ausdrücklich, -teils stillschweigend - um Hilfe nach und heisst die Hilfe willkommen. Zwangsbefugnisse dagegen sind Freiheitseinschrän­

kungen und daher zunächst höchst unwillkommen. Wenn sie trotzdem legitim sein sollen, dann nur unter der Bedingung, dass ihnen die Betrof­

fenen, und zwar jeder einzelne der Betroffenen, zustimmen kann. Diese Bedingung läuft auf das Grundaxiom neuzeitlicher Staatslegitimation hinaus: Alle Gewalt geht vom Volke aus. Dabei ist das "Volk" staatstheo­

retisch, also als die Civitas zu verstehen, als die Gesamtheit der

Rechts-" Deutsche Verfassungsrechtler, namentlich Isensee, vertreten die Ansicht, das Grundge­

setz sei vom Subsidiaricatsprinzip wesentlich bestimmt. Für diese Ansicht spricht, dass die klassischen Stufen der Subsidiarität tatsächlich genannt und verfassungsrechtlich ga­

rantiert werden: der Einzelmensch (Art. iff. GG), die Familie (Art. 6 GG), private Ver­

eine (An. 2811 GG), Länder und Bund (Art. 201 und 791 II GG) sowie supranationale In­

stitutionen (Art. 24 GG). Es gibt freilich auch Gegenargumente; zum Beispiel erhält der Bund gewisse Aufgaben, die %-on d en Ländern mühelos übernommen werden könnten.

genossen, und nicht etwa als Gens, als die Menschen selber Abstam­

mung. Mit dem Axiom wird nun eine Frage aufgeworfen, die das Subsi-diaritätsprinzip, wie wir es aus der katholischen Soziallehre kennen, nicht wirklich aufwirft, die Frage, wo Kompetenzen überhaupt ihren Ursprung nehmen und in welcher Form sie auf andere übergehen. Und die Antwort lautet: Die Kompetenzen entspringen bei den Rechtsgenos­

sen und werden von dort, also von unten nach oben, delegiert.

Warum aber sollte sich das Volk auf die Delegation einlassen und öf­

fentliche Gewalten, mithin Freiheitseinschränkungen etablieren? Doch nur deshalb, weil sich andernfalls die Freiheit der einen gegen die der an­

dern richtet, mit anderen Worten: weil eine uneingeschränkte Freiheit gar nicht existenzfähig ist. Legitim sind Freiheitseinschränkungen dann und nur dann, wenn sie sowohl im Dienst der Freiheitssicherung stehen als auch dieser Dienst jedem Betroffenen zugute kommt. Diese doppelte Bedingung läuft - ich darf hier abkürzen - auf das zweite Prinzip neu­

zeitlicher Staatslegitimation hinaus, auf den Gedanken der Menschen­

rechte. Und beide Gedanken, Volkssouveränität und Menschenrechte, sind gleichursprünglich.

Mindestens dem Kern der Menschenrechte, den Freiheitsrechten und dem Minderheitenschutz, liegt eine veränderte Sozialanthropologie zu­

grunde. Das von Aristoteles kommende Subsidiaritätsprinzip geht von der den Individuen mangelnden Autarkie aus und betont in der sie aus­

gleichenden Gesellschaft Hilfe und Kooperation. Die Freiheitsrechte er­

weitern den Blick; sie sehen, dass die Menschen auch in Konkurrenz zu­

einander treten und einander bedrohen. Unbeschadet dieser anthropolo­

gischen Differenz - Konflikt statt Kooperation als Grundbegriff - grei­

fen die beiden Prinzipien neuzeitlicher Staatslegitimation Grundmo­

mente des Subsidiaritätsprinzips auf. Zunächst tragen sie nach, was die Enzyklika direkt nicht ausspricht; sowohl im Demokratieprinzip wie den Menschenrechten ist die Metaregel enthalten, die das Individuum zur letzten Referenz erklärt. (Übrigens scheint Althusius beide Prinzi­

pien noch nicht zu kennen; weshalb man zumindest für eine spezifisch staatstheoretische Interpretation des Subsidiaritätsprinzips seine Bedeut­

samkeit nicht überschätzen sollte. Und die katholische Soziallehre hat sich mit beiden Prinzipien auffallend lange schwer getan.)

Ein zweites. Die Gemeinschaft, hier: der Staat, hat Rechte nicht sui generis, sondern nur subsidiär. Schliesslich stehen einer Zwangsinstitu­

tion wie dem Staat Kompetenzen nur deshalb zu, weil er Leistungen

übernimmt, die die Individuen nicht übernehmen können; und er hat diese Rechte auch nur so weit, wie die Individuen überfordert sind.

2. Staatstheoretische Aufgaben

In der genannten dreifachen Übereinstimmung zeigt sich die enge Ver­

wandtschaft der neuzeitlichen Staatslegitimation mit dem prinzip. Dabei präzisiert die Staatslegitimation, was das Subsidiaritäts-prinzip weniger präzise sagt. Fragen muss man sich deshalb, wofür eine Staatstheorie aber dann noch das Subsidiaritätsprinzip braucht?

Eine erste Überlegung betrifft die genaue Kompetenzverteilung. Darf ein Staat ausschliesslich jene Kompetenzen übernehmen, für die bloss er kompetent sein kann, muss er sich auf staatsspezifische Zuständigkeiten beschranken? Die positive Antwort liefe auf einen Minimalstaat hinaus.

Für ihn mögen gute Gründe sprechen; so gut, dass jede weitergehende Staatskompetenz als "eripere" gelten muss, als Kompetenzdiebstahl, sind sie aber kaum.

Vom Subsidiaritätsprinzip her ist die angedeutete Kompetenzreduk­

tion jedoch nicht geboten. Nach einem generellen Sozialgesetz pflegt die Bildung einer neuen, höheren Instanz die bislang höchste Instanz zu ent­

machten; zu den Folgekosten gehört, dass die bislang höchste Instanz bei Aufgaben, die sie vorher allein erfüllen konnte, jetzt auf die Hilfe von oben angewiesen ist. Die entsprechende Hilfe erweitert die staatsspezifi­

schen Aufgaben; und diese Erweiterung ist als Kompensationspflicht zu verstehen, als Kompensation für die angedeutete Entmachrung nämlich, und eine solche Pflicht gehört, weil kompensatorischer Natur, nicht zur Solidarität, d.h. einer entweder normativ vagen oder aber nur tugend-rheoretischen Pflicht. Die Kompensation zu leisten, ist eine rechtsmora­

lische Pflicht.

Weitere Gründe für eine mehr als nur minimalstaatliche Kompetenz bieten soziale Veränderungen, die, wie etwa die Industrialisierung, dem Kollektiv zugute kommen, aber nicht gleichermassen jeder Gruppe und jedem Mitglied des Kollektivs. In dieser Situation könnte man sich wie­

der auf die normativ vage Idee der Solidarität berufen und sagen, inso­

fern sich die unteren Instanzen als nicht mehr lösungskompetent erwei­

sen, seien die oberen zur Hilfe verpflichtet. Normativ überzeugender ist das andere, das Gerechtigkeitsargyment. Ihm zufolge sind die Verände­

rungen für die nicht Bevorteilten, für die entweder gar nicht oder aber

nicht glcichermassen Bevorteilten, nur unier der Voraussetzung zustim­

mungsfähig, dass man die Benachteiligung kompensiert.

Wie auch immer die normative Argumentation aussieht - für die Frage nach der genaueren Kompetenzverteilung fungiert das Subsidiaritats-prinzip wieder als Beweislastregel. Nach dem positiven Subsidiäritätsbe-griff werden die neuen Staatsaufgaben überhaupt eingefordert, während der negative Begriff leistet, was angesichts der fast allerorten überbor­

denden Staatstätigkeit als wünschenswert erscheint: er votiert für eine möglichst weitgehende Kompetenzreduktion.

3. Subsidiarität versus Demokratie?

Fragen kann man sich allerdings, ob es für derlei Forderungen ein eige­

nes und neues Prinzip, das der Subsidiarität, braucht. Mehr noch: Tritt das Subsidiaritätsprinzip nicht sogar in Konkurrenz zum Demokratie-prinzip, also zu einem Grundaxiom neuzeitlicher Politik?

Eine gewisse Spannung besteht zwischen beiden Prinzipien in der Tat.

Denn nach dem Demokratieprinzip dürfen das Volk bzw. das Parlament Dinge beschliessen, die den Forderungen des Subsidiaritätsprinzips wi­

dersprechen. Beispielsweise dürfte das Schweizer Volk die Gemeinde­

autonomie abschaffen. Dieser Gefahr, wenn sie überhaupt je real ist, tritt nun das Subsidiaritätsprinzip entgegen und sagt: Selbst wenn die ent­

sprechenden Beschlüsse positivrechtlich gesehen gültig sind, fehlt es ihnen an rechtsmoralischer Legitimität und darüber hinaus an sozial­

pragmatischer Klugheit.

In anderer Hinsicht wird dagegen das Demokratieprinzip durch das Subsidiaritätsprinzip bekräftigt. Der neuzeitliche Staat beansprucht be­

kanntlich Souveränität, das heisst, das höchste und umfassende Rechts­

und Gewaltmonopol. Gegen die darin liegende Tendenz jedes Staates zur Selbstüberschätzung erinnert das Subsidiaritätsprinzip daran, dass die Souveränität und überhaupt jede politische Macht nicht von oben kommt und gegebenenfalls wie eine Gnade nach unten weitergegeben wird. Sie wird vielmehr von unten, von der Civitas verliehen und dem Staat nur unter der Bedingung übertragen, dass er damit der Civitas dient.