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Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips

III. Schlussbemerkung und Anmerkung zur Relevanz

Zum Wesen der Subsidiarität gehört also mehr als nur eine Kompetenz­

vermutung zugunsten der jeweils niedrigsten Entscheidungsebene. Ins­

besondere kann partikulares Eigeninteresse nicht in jedem Fall Vorrang gegenüber dem allgemeinen Gemeinschaftsinteresse beanspruchen. Sub­

sidiarität ist kein Freibrief für die Maximierung von Eigeninteresse. Das Ziel ist nicht, Gemeinschaftlichkeit auf den niedrigsten Grad von Einver-nehmlichkeit zu reduzieren, also nur nach oben abzugeben, was sowieso niemanden sonderlich interessiert, sondern die Herstellung von mög­

lichst viel Einvernehmlichkeit. Dies ist aber nur möglich durch die ge­

genseitige Beförderung einheitlicher Lebensverhältnisse. Die Festlegung von "Mindeststandards", etwa im Sinne einer umfassenden europäischen Sozialcharta, und unter Einschluss insbesondere von effizienten Struk­

turprogrammen zum Abbau regionaler Disparitäten, ist die unabding­

bare Kehrseite der Subsidiarität.

Genau hierin, im konsozialen Zusammenwirken von Eigenkompe­

tenz und Gesamtwohl, in der Erkenntnis, dass Eigeninteresse und Ge­

samtwohl nicht sich gegenseitig ausschliessende Bestandteile eines Null­

summenspiels sind, liegt das Wesen von Föderalismus und Subsidiarität.

Zu Beginn des modernen nationalstaatlichen Zeitalters hat Althusius ein­

dringlich - aber vergeblich - auf diesen Zusammenhang hingewiesen.

Am mutmasslichen Ende dieser nationalstaatlichen Epoche mag die Wie­

derbesinnung auf diese vernachlässigten Traditionsbestände im europäi­

schen politischen Denken ebenso notwendig wie nützlich sein.

Für die Europäische Gemeinschaft hat Fritz Scharpf deutlich zum Aus­

druck gebracht, wohin Subsidiarität ohne Einvernehmlichkeit und Ge­

meinwohlverpflichtung führen wird: zu einer "Verelendung" der rück­

ständigen Regionen. Weil der freie Binnenmarkt nur unter "Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips" zu haben war, aber gleichzeitig zu einer Ver­

schärfung "gravierender Interessenkonflikte" - unter anderem zwischen armen und reichen Mitgliedsländern - führen wird, sieht Scharpf Subsi­

diarität als eine Hintertür für "Renationalisierung". Es kommt "entweder zu Harmonisierungsbeschlüssen auf dem niedrigsten gemeinsamen Ni­

veau, oder zur wechselseitigen Anerkennung der jeweils geltenden nationalen Regelungen". Als Folge wird notwendiger und hinreichender Finanzausgleich im europäischen Rahmen weiter unterbleiben.58

58 Scharpf, 15-18 und "Diskussion", 40-41.

Mit anderen Worten, Subsidiarität läuft Gefahr, als Feigenblatt für egoi­

stischen Machtmissbrauch der starken über die schwächeren Gemein­

schaftsmitglieder missbraucht zu werden. Schon Vorjahren hatte der da­

malige griechische Ministerpräsident Papandreou vor einem "Europe ä deux vitesses" gewarnt. Das Drängen auf Vollendung eines einheitlichen Binnenmarktes in der Europäischen Gemeinschaft hat diese Sorge nur noch verschärft. Auch nach einer Verdoppelung der Regional- und Struk­

turfonds im Gemeinschaftsbudget lässt sich aus dem derzeitig minimalen Bereitschaftgrad zu gegenseitiger Hilfe deutlich ablesen, dass Subsidiari­

tät in der EG weiter als Formel für einen Minimalkonsens verstanden wird, aber nicht als Grundlage für die Suche nach der angemessensten Lösung.

Freilich beschreibt dieser Sachverhalt nur einen von mehreren Pro­

blembereichen im Zusammenhang von Subsidiaritätsprinzip und euro­

päischer Gemeinschaftsentwicklung. Insbesondere fehlen im Vertrag von Maastricht genauere Angaben bezüglich einer Umsetzung des Subsidia-ritätsgebots in konkrete Handlungsanleitung. Ungeklärt bleibt die Rolle der Regionen und des konsultativen Regionenrats, unbestimmt bleibt die Zuordnung von einzelstaatlicher Eigenverantwortlichkeit und weiter zu­

nehmender Eurokratisierung, und nahezu unangetastet bleibt die Frage nach dem Einfluss von Verbänden und insbesondere von multinationa­

len Konzernen in einem Europa, in dem politische Regelungskraft im­

mer noch einzelstaatlich begrenzt, private Wirtschaftsmacht aber immer mehr europäisch unbegrenzt erscheint.

Gegenüber dieser schmalen und unvollständigen Einbettung des Sub­

sidiaritätsprinzips in das europäische Gemeinschaftskonzept bietet der althusische Ansatz eine viel breitere Ausgangsbasis. Das althusische Sub-sidiaritäts- und Föderalismusdenken kann aber nicht einfach als frühmo­

derne Handlungsanleitung für spätmoderne europäische Gemeinschafts­

lösungen herangezogen werden. Der Sinn einer Beschäftigung mit Alt­

husius kann sich vielmehr nur aus einem kritischen und konstruktiven Potential ergeben, welches noch lange nicht voll ausgeschöpft erscheint.

Dies liegt insbesondere daran, dass die gemeinschaftsorientierte Denk­

tradition seit der frühen Neuzeit immer mehr von einer individuali-stisch-liberalen Denktradition überlagert und verdrängt worden ist. Aus Locke und Rousseau sind aber Ansätze für eine europäische Lösung ge­

meinschaftlicher Organisierung von Subsidiarität und Solidarität kaum zu gewinnen. Vielleicht ist es Zeit, der älteren, althusischen Denktradi­

tion wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

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