• Keine Ergebnisse gefunden

Im Bewusstsein, dass das Zusammenspiel anthropologischer mit norma­

tiven Überlegungen noch nicht genügt, verbindet Aristoteles die politi­

sche Philosophie mit einer politischen Soziologie. Diese befasst sich mit der Frage, unter welchen Bedingungen Staatsverfassungen zerfallen und unter welchen Bedingungen sie stabil bleiben. Auf zwei derartige Bedin­

gungen sei zum Abschluss hingewiesen.

Damit die neue, europäische Staatlichkeit funktionieren kann, muss es einerseits einen gemeinsamen Hintergrund geben, eine gewisse Wertge­

meinschaft, die ein Wir-Gefühl vermittelt, ohne dass es gemeinsame Vor­

fahren geben müsste. Andererseits braucht es ein Forum, und zwar im Plural, auf dem die unterschiedlichen Interessen, auch die unterschied­

lichen Interpretationen gemeinsamer Werte in ein Gespräch treten, ein Forum, auf dem Missverständnisse entdeckt, Konflikte ausgetragen und Lernprozesse in Gang gesetzt werden; ein Forum, auf dem über ausste­

hende Entscheidungen diskutiert wird und sich wenn möglich ein neuer Konsens anbahnt.

21 Vgl. Stone.

Die erste Bedingung wird ohne Zweifel erfüllt. Nach dem Topos der pluralistischen Gesellschaft scheint es zwar nur Vielfalt und keine Ein­

heit zu geben. In Wahrheit eint Europa eine Fülle von Gemeinsamkeiten, wie sie zumindest als gemeinsame Bezugspunkte existieren: die griechi­

sche Philosophie, das jüdisch-christliche Denken, das römische Recht, bildende Kunst, Musik, Literatur, auch die Aufklärung und die Skepsis gegen blosse Aufklärung, die Wertschätzung der individuellen Persön­

lichkeit, die Vorsorge gegen Machtzusammenballungen, der Schutz von Minderheiten usw.

Anders sieht es mit der zweiten Bedingung aus. Das genannte Forum, eine politische Öffentlichkeit auf europäischer Ebene, fehlt so gut wie vollständig. In dieser Hinsicht müssen sich die Intellektuellen selbstkri­

tisch fragen, ob sie nicht eine wichtige Aufgabe übersehen, man muss schon sagen: verschlafen haben. Das viel beklagte Demokratie-Defizit ist zwar auch, aber nicht nur im Rahmen politischer Institutionen zu über­

winden: etwa durch eine stärkere Bindung der europäischen Exekutive an die einzelstaatlichen Parlamente und an das Europäische Parlament und eventuell dadurch, dass man auf europäischer Ebene Elemente di­

rekter Demokratie einführt. Auch das Subsidiaritätsprinzip mit der mög­

lichst bürgernahen Entscheidungsinstanz kann das Demokratie-Defizit nur ein wenig abmildern. Gewisse Entscheidungen werden doch auf eu­

ropäischer Ebene gefällt. Und diesen Entscheidungen müssen Debatten vorausgehen, die ihrerseits in Debatten der politischen Öffentlichkeit vorbereitet sein müssen. Parlamentarische Debatten sind ja nicht dafür geschaffen, neue Argumente oder neue Erfahrungen oder auch nur nega­

tive Bewertungen einzubringen. Vom rhetorischen Element abgesehen, liegt ihre Aufgabe eher in der Selektion und Dignifikation schon bekann­

ter Argumente.

Ich sehe hier sogar ein Junktim. Die politische Integration darf nicht fortschreiten, wenn man nicht vorher eine politische Öffentlichkeit schafft. .

Literaturverzeichnis

Althusius, Johannes: Politica, Methodice digesta atque exemplis sacris ei profanis illustrata.

Herborn, 1603, 3. Aufl. 1614. (Nachdrucke: Aalen 1961; dt. Auszüge: Grundbegriffe der Politik, Frankfurt a.M., 1948).

Beyme, Klaus von: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M., 1991.

Blanke, Hermann-Josef: Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Binnenstaat? In: Die öffentliche Verwaltung 10 (1993), S. 412-423.

Bulletin der Presse- und Informationdienste der Bundesregierung Nr. 16, Bonn 12.2.1993, S. IU-I31.

Collmer, Paul: Beiträge zum Verfassungsstreit über das Bundessozialhilfegesetz und das Jugendwohlfahrtsgesetz. Stuttgart, 1963.

Deuerlein, Ernst: Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips. München, 1972.

Ehrlich, S.r Theoretical Refleccions on Federacions and Federalism. In: International Politi-cal Science Review (1984), H. 5, S. 359-367.

Frenkel, Max: Föderalismus und Bundesstaat. Bd. I. Föderalismus. Bern u.a., 1984.

Gierke, Otto von: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechthchen Staats-theorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. Breslau, 1880.

Giordmo, Christian: Soviel Staat wie nötig, sowenig Staat wie möglich: Ein interkulturel­

ler Vergleich; in diesem Band S. 133.

Häberle, Peter: Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungs­

lehre. In diesem Band.

Hahn, Hugo J.: Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche Übereinkunft und Verfas­

sung. Anmerkungen anhand Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht. Baden-Baden, 1992.

Herzog, Roman: An. Subsidiaritätsprinzip. In: Evangelisches Staatslexikon. Hrsg. R. Her­

zog u.a. Stuttgart, 1987, Bd. 2, S. 3564-3571.

Höffe, Otfried: Sittlich-politische Diskurse. Philosophische Grundlagen - politische Ethik - biomedizinische Ethik. Frankfurt a. M., 1981.

ders.: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer praktischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt a. M., 1987. (Taschenbuchausgabe: Frankfurt a. M., 1989).

ders.: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt a. M., 1990.

Isensee, Josef: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Berlin, 1968.

Ketteier, Wilhelm Emmanuel Frhr. von: Schriften, Aufsätze und Reden 1848-1866. In:

Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. Erwin Iserloh. Mainz, 1977.

Kirchhof, Paul: Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration. In: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd. VII. Hrsg. J. Iscnsee/P. Kirchhof.

Heidelberg, 1992, S. 855-887.

Konow, Gerhard: Zum Subsidiantatsprinzip des Vertrags von Maastricht: In: Die öffent­

liche Verwaltung 10 (1993), S. 405-412.

Kosclleck, Reinhart: An. Bund (Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat). In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.

Bd. 1. Hrsg. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosellek, 1972, S 582 ff.

ders.: Föderale Strukturen in der deutschen Gcschichte (Vortrag bei der Entgegennahme des Reuchlinpreises der Stadt Pforzheim 1974). Pforzheim, 1975.

Maier, Hans: Der Föderalismus - Ursprünge und Wandlungen. In: Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 213-231.

Millon-Delsol, Ghantal: L'litat Subsidiaire. Paris, 1992.

Nell-Breuning v. Oswald: Baugesetze der Gesellschaft. Freiburg in Br., 1990 (1. Aufl. 1968).

Quadragesimo anno. In: Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft. Original­

dokumente mit deutscher Ubersetzung. Hrsg. Helmut Schnatz. Dokument 14 (Aus­

züge). Darmstadt, 1973, S. 401-417.

Rauscher, Anton: Personalität, Solidarität, Subsidiarität. Köln, 1975.

Schneider, Lothar: Subsidiäre Gesellschaft. Implikativc und analoge Aspekte eines Sozial­

prinzips. Paderborn, 1983.

Stamm, Eugen: Ein berühmter Unberühmter. Neue Studien über Konstantin Frantz und den Föderalismus. Konstanz, 1948.

Stewing, Clemens: Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union. Köln u.a., 1992.

Stone, Norman: Neue Gewichte in der politischen Realität Europas? In: Europäische Inte­

gration als Herausforderung der Kultur: Pluralismus der Kulturen oder Einheit der Bürokratien? Hrsg. Michael Zöller. Essen, 1992, S. 52-58.