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Wer nicht sogleich in die Feindebatte eintritt, wird die Ausführungen von Quadragesimo anno für vernünftig halten. Vernünftig im Sinne von "rea-sonable" sind sie nicht etwa lediglich für den Kulturraum, in dem sie ent­

standen sind, für das Abendland. Im Gegenteil scheinen sie mir kultur­

übergreifend vernünftig zu sein.14 Vorausgesetzt ist zwar eine empirische Gegebenheit, die genannte Anwendungsbedingung in ihrer empirischen Lesart; sie dürfte aber auf so gut wie alle Gesellschaften zutreffen. Dort, wo es hierarchisch geordnete Sozialeinheiten de facto gibt, verlangt die Subsidiarität von den jeweils höheren Einheiten, sofern sie es brauchen, zu helfen, und wo es nicht nötig ist, sich zurückzuhalten. Ebenfalls für nicht bloss abendlandspezifisch halte ich die normative Lesart der Anwendungsbedingung. Ich formuliere sie, bewusst zurückhaltend, nur hypothetisch: Wenn eine Gesellschaft dem Individuum nicht zu wenig Eigenrechte lassen will, dann richte sie intermediäre Instanzen ein.

1. Welche Metaregel?

Das Prinzip im engeren Sinn enthält eine Spannung, die zu einem Wider­

spruch auswachsen kann, da das Prinzip aus zwei Prioritätsregeln be­

steht, deren Forderungen in verschiedene Richtungen weisen können.

Solange die beiden Regein mangels einer dritten Regel, einer Metaregel, einander nebengeordnet sind, gibt es auch für allfällige Konflikte keine dem Prinzip immanente Lösung. Und das entsprechende Defizit hat nicht etwa bloss eine logische, sondern ebenso eine eminent praktische Bedeutung.

" Hier bin ich gegen die Skepsis der Ethnologen meinerseits skeptisch. Zu Beginn seiner eindrucksvollen (!) empirischen Überlegungen wirft Giordano der Subsidiarität Ab­

straktheit vor. Für die konkrete Feldforschung konnte das zutreffen, für die Theoriebil­

dung ist dagegen ein höheres Abstraktionsniveau durchaus sinnvoll. Im übrigen erhebt das Subsidiaritätsprinzip keinen empirischen, vielmehr einen normativen Anspruch.

Und zumindest dessen sozialpragmatischem Anteil - dass eine Gesellschaft klug beraten ist, wenn sie das Subsidiaritätsprinzip anerkennt - stimmen viele Kulturen durch ihre ge­

lebte Praxis zu: Höhere Sozialeinheiten helfen unteren Einheiten, ohne ihnen Lebens­

recht zu nehmen. - Zu den gleichwohl bestehenden Problemen siehe die folgenden Überlegungen.

Zwei Optionen stehen offen. Falls man, so die erste Option, als Meta-regel die Priorität der zweiten Regel einführte, stünden den unteren So­

zialeinheiten auch dann alle ihnen möglichen Kompetenzen zu, wenn da­

durch der homo singularis benachteiligt würde. Eine derartige Metaregel widerspricht aber dem "Geist" von Quadragesimo anno und innerhalb der katholischen Soziallehre dem Personalitätsprinzip. Deshalb emp­

fiehlt sich die zweite Option, eine Priorität der ersten Regel. Danach gilt als letztes Kriterium der homo singularis, der einzelne und zugleich ein­

zigartige Mensch, so dass bei Kompetenzkonflikten zwischen höheren und niedereren Gemeinschaftsformen der Vorrang nicht grundsätzlich den niedereren gebührt. Im Gegenteil stärke man dort, wo es dem ent­

scheidenden Vorrang, dem des Individuums, dient, die Kompetenz der höheren Formen.

Um einem Missverständnis entgegenzutreten: Hinter dieser Metaregel steht nicht eine Kompetenzvermutung zugunsten des Individuums, so als ob im Konfliktfall das Individuum grundsätzlich leistungsfähiger als die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft sei. Das Individuum gilt vielmehr als der entscheidende Referenzpunkt, als der Adressat, dem die Leistungen letztlich zugute kommen.

Das Phänomen, dass nicht gerade die Zerschlagung der einen oder an­

deren intermediären Gemeinschaft, wohl aber deren Schwächung zum Wohlergehen der Einzelmenschen erforderlich ist, gibt es in der Tat. Ein Beispiel anzuführen, ist bekanntlich gefährlich; ich versuche es trotzdem:

Obwohl ein Sippenverband den einzelnen tragen und stützen kann, führt er auch enge Fesseln mit sich; will sich der Mensch von ihnen lösen, um sich die Möglichkeiten einer Urbanen Zivilisation zu erschliessen, so dürfte jene Schwächung des Sippenverbandes unvermeidlich sein, die wir von der Bildung der antiken Stadtrepublik kennen. Die herausragenden Kulturleistungen des antiken Athen und vorher von Sumer, Ägypten, China usw. sind ohne eine gewisse Entmachtung der vorpolitischen Ein­

heiten nicht möglich; zugespitzt: ohne Zentralinstanz keine Hochkultur.

Was es zwischen der staatlichen und der vorstaatlichen Gemeinschaft geben kann, einen Kompetenzkonflikt, dessen Lösung zugunsten der höheren Gemeinschaft dem Individuum dient, kann sich zwischen den verschiedenen Gesellschaftsstufen wiederholen: Eine Stärkung des Sip­

penverbandes kann unter bestimmten Bedingungen die Einzelfamilie schwächen und zugleich das Individuum stärken. In jedem Fall ist die übliche Lesart der Subsidiarität zu korrigieren; möglichst viel an Kompe­

tenz verdienen die unteren Sozialeinheiten nicht grundsätzlich, sondern nur unter der Bedingung, dass die entsprechende Kompetenzverteilung letztlich dem Einzelmenschen dient.

Falls nun die Subsidiarität zugunsten der höheren Sozialeinheit spricht, darf man die normative Lesart der Anwendungsbedingung nicht vergessen. Ob man nur eine schon bestehende höhere Sozialeinheit stärkt oder eine höhere Einheit neu schafft - in jedem Fall darf man da­

bei die Sphäre der intermediären nicht aufs Spiel setzen, denn ihre Exi­

stenz dient den Individuen.

2. Der Subsidiaritätsgedanke ist aristotelisch

Obwohl die Subsidiarität nicht zu den Grundbegriffen der politischen Philosophie gehört, finde ich die Sache selbst im politischen Diskurs praktiziert, sogar an prominenter Stelle, am locus classicus der politi­

schen Anthropologie, in Aristoteles' Ausführungen zur These, der Mensch sei von Natur aus ein politisches Her: ho anthröpos physei poli-tikon zöon.'5 Eine Geschichte des Subsidiaritätsgedankens setzt also nicht erst bei Althusius an oder beim Tridentinum, sondern spätestens bei Aristoteles - und weiss natürlich, dass sich dessen Gedanken in Aus­

einandersetzung mit Piaton bilden.

In Aristoteles' Begründung tritt zutage, was ich die via antiqua der politischen Anthropologie nenne: der Mensch gilt als Sozialwesen, da er mangels individueller Autarkie auf eine Kooperation mit seinesgleichen angewiesen ist, während das Konfliktpotential, das es im Zusammenle­

ben doch auch gibt, nicht zutage tritt. Mit dem Philosophen, der dieses Defizit in voller Klarheit sieht, mit Thomas Hobbes, wird die via moderna der politischen Anthropologie beginnen, zunächst in einer gewissen Einseitigkeit, die aber durch Kants Begriff der ungeselligen Geselligkeit überwunden wird.

In seiner Argumentation macht Aristoteles auf die wechselseitige Ab­

hängigkeit der Menschen voneinander aufmerksam und antizipiert in diesem Zusammenhang die beiden Stufen des Subsidiaritätsprinzips. Die erste Stufe: Um der Fortpflanzung willen kommen Mann und Frau zu­

sammen, um des Überlebens willen Herr und Knecht; und aus beiden Beziehungen, ergänzt um eine dritte, die von Eltern und Kindern,

ent-,J Aristoteles, Politik 1 2, 1253 a 2f. Zur Interpretation vgl. Höffe 1987, Kap. 9.

steht die Grundform des Sozialen, der oikos, die Hausgemeinschaft. Die zweite, in sich noch einmal differenzierte Stufe: Weil Kinder heranwach­

sen und sich ihrerseits fortpflanzen, entsteht die körne, der Dorfverband im Sinne einer Sippe, einer Gruppe, deren Wir-Gefühl aus der Vorstel­

lung lebt, gemeinsame Vorfahren zu haben; Aristoteles spricht anschau­

lich von homogalaktaSy von "Milchgenossen" (Politik I 2, 1252 b 18).

Und weil die Kooperation verschiedener Sippen die Leitperspektive menschlichen Lebens zu steigern erlaubt, weil sich nämlich in der ent­

sprechenden Gemeinschaft nicht nur das blosse Leben (zen), sondern auch das gelungene Leben (eü zen) verwirklichen lässt, gibt sich der Mensch nicht mit der naturalen Vollendung des Sozialen, der Sippe, zu­

frieden. Er schafft eine neue, höhere und künstliche Einheit; er ruft eine politische Gemeinschaft ins Leben, für die Griechen: die Stadtrepublik.

Wir wissen, dass sich die antike Polis vom modernen Staat vielfältig unterscheidet. Die Differenz beginnt mit der weit geringeren Grösse und führt über die weit geringere Regelungsdichte der Rechtsordnung zu je­

nem Mass an direkter Demokratie, das selbst einem Schweizer Kanton mit Landsgemeinde unbekannt ist. Trotz derartiger Unterschiede ist je­

doch ein wichtiges Element gemeinsam; hier wie dort finden wir eine Exekutive, eine Judikative und, zumindest ansatzweise, eine Legislative.

Kurz: Nicht erst die Neuzeit, sondern schon die Antike kennt öffent­

liche Gewalten und damit eine Herrschaft im neutralen Sinn des Begriffs.

Erstaunlicherweise fehlt deren Legitimation in Aristoteles' Begründung der politischen Natur des Menschen. Erstaunlich ist es jedenfalls, wenn man auf das Phänomen des Politischen blickt, auf öffentliche Gewalten, die Abgaben einfordern, zum Kriegsdienst einberufen, ins Exil verban­

nen und sogar, man denke an Sokrates, zum Tode verurteilen. Nicht so erstaunlich ist es dagegen vom anthropologischen Ansatz her. Wer - wie Aristoteles an der zitierten Stelle der Politik - nur auf die Kooperations­

natur der Menschen blickt und nicht auf die komplementäre Konfliktna­

tur, der wirft auf die öffentlichen Gewalten einen "beschönigenden Blick". Er sieht zu Recht ihr Ordnungspotential und verdrängt zu Un­

recht den Herrschaftscharakter.

Ein zweites Defizit ist ebenso erstaunlich. Bei Aristoteles fehlt der Blick auf eine noch höhere Einheit. Obwohl es die panhellenische Ge­

meinschaft damals schon längst gab und obwohl sie sich sowohl fürs Uberleben, beispielsweise für den Kampf gegen Persien, als notwendig erwiesen hat als auch für das gelungene Leben, etwa für den religiösen,

den sprachlich-kulturellen und wohl auch wirtschaftlichen Zusammen­

halt, geht Aristoteles darauf nicht ein.16 Der Grund liegt in einer Uberbe­

wertung des Autarkiepotentials der Einzelpolis. Das, was die Gemein­

schaftsbildung überhaupt in Gang bringt, der Umstand, dass es dem Menschen als Individuum an Autarkie fehlt, wird auf der Stufe der ein­

zelnen Polis noch nicht ausser Kraft gesetzt. Tatsächlich bedarf es einer Weiterentwicklung, und da das Wohl Griechenlands von den Nachbarn tangiert wird, bedarf es dabei mehr als nur der panhellenischen Gemein­

schaft; das ihm mögliche Mass an Autarkie erreicht der Mensch erst mit der Bildung einer die ganze Menschheit umfassenden Sozialeinheit. An dieser Stelle drängt sich am üblichen Verständnis der Subsidiarität, dem Votum für die unteren Einheiten, eine zweite Korrektur auf; nach ihrem positiven Begriff verlangt die Subsidiarität auch die Einrichtung ganz neuer höherer Sozialeinheiten, ebenso kann es für die Einrichtung neuer mittlerer Einheiten plädieren.

3. Zur Legitimation der Subsidiarität

Althusius wird die neuen Sozialverhältnisse berücksichtigen, insbeson­

dere, dass sie zu seiner Zeit weiter ausdifferenziert waren; ansonsten wird er aber das Grundmuster aristotelischer Argumentation überneh­

men, einschliesslich ihrer "antiken Anthropologie", weshalb er - trotz mancher Einsicht, die man bei ihm gewinnt - kaum als Muster für eine zeitgemässe Staatstheorie gelten kann.

Grundbegriff des Politischen ist für ihn die consociatio symbiotica, die Lebensgemeinschaft. Ihre kleinste Form bildet die Ehe, auf der sich suk­

zessive und organisch das soziale Ganze aufbaut: zunächst die Familie und die Genossenschaft (Zunft), dann die Gemeinde, sonach die Stadt, das Land bzw. die Provinz, schliesslich das Reich.

Mit den letzten Sozialstufen geht Althusius zwar über Aristoteles' Orientierung an der Einzelpolis hinaus. Trotzdem fehlt es auch hier an einer Theorie der internationalen Rechtsgemeinschaft, da Althusius das Reich nicht in seinen Aussenbeziehungen untersucht.

16 Das entsprechende Defizit an Theorie einer internationalen Rechtsgemeinschaft findet sich übrigens bei vielen Philosophen; die grosse Ausnahme bildet eigentlich nur Kant mit seiner Schrift "Zum ewigen Frieden". Zur Interpretation vgl. Höffe 1990, Kap. 9.

Mit Hilfe der aristotelischen Argumentation lässt sich nun die Legiti­

mationsfrage beantworten, die der positive Subsidiaritätsbegriff aufwirft, die Frage, warum die höheren Instanzen überhaupt zu helfen verpflich­

tet sind. Die Antwort lautet in etwa so: Es gibt nicht zuerst Gemein­

schaften, von denen man später Hilfe verlangt, etwa unter Berufung auf die Solidarität, das heisst auf ein entweder normativ vages oder aber nicht mehr rechtsmoralisches, sondern tugendmoralisches Prinzip. Vielmehr bilden sich überhaupt Gemeinschaften, weil das Individuum mangels Autarkie sein Leben nicht allein "organisieren" kann. Weil es, wie schon Piaton im Staat mit unüberbietbarer Prägnanz sagt, sich selbst nicht ge­

nug ist, sondern vieler Helfer bedarf.17 Und die Gemeinschaften bilden sich sinnvollerweise dort, wo das Individuum allein nicht weiterkommt, entweder gar nicht oder aber viel schlechter. Ebenso bilden sich dort grössere und umfassendere Gemeinschaften, wo die bislang exi­

stierenden Gemeinschaftsformen an eine Grenze ihrer Leistungskraft stossen.

Wegen der von Aristoteles benannten Ausdifferenzierung der Lebens­

perspektive, wegen der Möglichkeit, das zen zum eu zen zu steigern, kompliziert sich allerdings die Antwort. Einmal mehr gibt es einen Kon­

flikt zwischen verschiedenen Sozialstufen, den das Subsidiaritätsprinzip nicht so ohne weiteres schlichten kann: Muss die Bildung eines Staatsver­

bandes, insofern es ihn fürs blosse Leben nicht braucht, als illegitim gel­

ten, zumal die ansonsten höchste Sozialeinheit, die Sippe, dabei unver­

meidlich geschwächt wird? Oder, ist es dem Menschen nicht erlaubt, um einer gesteigerten Lebensperspektive wegen, die entsprechende Schwä­

chung, vielleicht sogar Auflösung vorzunehmen?

4. Quis iudicabit?

An diese Frage, aber auch erst an sie, schliesst sich jene Frage an, die den politischen Diskurs der Moderne durchzieht: Quis iudicabit? Wer - wir ergänzen: oder was - entscheidet? Nach der aristotelischen Argumenta­

tion hängt ein Grossteil der Entscheidungen von Faktoren ab, die, dem Menschen entzogen, gewissermassen hinter seinem Rücken wirksam sind. Verantwortlich für die Bildung der beiden ersten Sozialeinheiten,

17 Piaton, Staat II, 368 b 4, vgl. IX, 578 d 12.

des Hauses und der Sippe, sind biologische Gegebenheiten: die Sexuali­

tät, die Hilfsbedürftigkeit der Kinder und - bewusst neutraler als bei Aristoteles formuliert - eine unterschiedliche Begabung für die Arbeits­

welt. Für die Entstehung der Polis wiederum ist eine normative Perspek­

tive mitverantwortlich, die nicht anders als die biologischen Faktoren den subjektiven Meinungen und Interessen enthoben ist; der Mensch hat ein artspezifisches Interesse an mehr als dem blossen Leben, er hat ein natürliches Interesse am gelungenen Leben, am Glück (eudaimonia).

Hinzukommen dürfte bei Althusius ein weiterer Faktor, der der mensch­

lichen Entscheidung so gut wie entzogen ist: Im Zuge der abendländi­

schen Sozialgeschichte finden Ausdifferenzierungen statt, die zu einem immer reicheren Sozialgefüge führen.

Nun das Problem: Solange sich diese Entwicklungen hinter dem Rücken des Menschen abspielen, bleibt das Subsidiaritätsprinzip, weil deskriptiver Natur, arbeitslos; für das, was ohnehin geschieht, kommt je­

des Sollen zu spät. Gefragt ist das Prinzip nur dort, wo sich ein Spiel­

raum der Entscheidung auftut. Bei Aristoteles, bei Althusius und in Qttadragesimo anno gewinnt man den Eindruck, das Subsidiaritätsprin­

zip sei etwas, das man schlicht anwendet. Der Gedanke einer blossen Anwendung unterschätzt aber den Spielraum der Gestaltung und die Aufgabe, den Spielraum kreativ auszufüllen. Wer glaubt, das Subsidiari­

tätsprinzip könne den Spielraum so weit einengen, dass sich ohne Zu­

satzüberlegungen eine eindeutige Entscheidung ergibt, wird mit gutem Grund enttäuscht. Vorliegt ein Prinzip, und dieses gibt nur eine Grund­

richtung in Form einer Beweislastregel an.

Der Subsidiaritätsgedanke, ein sozialethisches Moment, kann durch­

aus kriterienfähig sein, aber nicht für sich allein. Von bloss ethischen Überlegungen fürchtet man zu Recht ein abstraktes, der Erfahrung ent­

hobenes Moralisieren. Hier deutet sich nun an, warum es nicht der Fall sein muss. Wie jedes ethische Prinzip, so ist auch das Subsidiaritätsprin­

zip erst in Verbindung mit anderen Gesichtspunkten entscheidungsfähig:

des jeweiligen Sachbereichs einerseits und einer Beurteilung der konkre­

ten Situation andererseits. Die Logik des Subsidiaritätsprinzips heisst also, etwas schematisiert: Sozialethik plus Sacherfordernisse plus Situa-tionsüberlegung.18

18 Vgl. Höffe 1981, Kap. 1.

Ab wann genau die Hilfe einer höheren Einheit gefragt ist, worin die Hilfe besteht, ab wann eine Kompetenzanmassung vorliegt - auf all diese Fragen gibt das Prinzip allein keine Antwort. Wie schon gesagt, sind nämlich Überlegungen zum jeweiligen Sachbereich und zu den konkre­

ten Randbedingungen zusätzlich gefragt; und selbst die Verbindung die­

ser drei Arten von Überlegung lässt noch genug Raum für kontroverse Auslegungen, hinter denen sich eine Kollision von Interessen verbirgt.

Der Aufgabe, Europa zu bauen, gibt das Subsidiaritätsprinzip eine Richtung vor, aber keinen gemeinsamen Weg. Für sich genommen sagt das Prinzip nur, aber auch immerhin, folgendes: Wenn eine höhere So­

zialeinheit tätig werden will, so muss sie subsidiär wirken-, und: Wenn eine höhere Einheit das Überleben oder das Gutleben der niedrigeren Einheit gefährdet, so muss sie ihre Tätigkeit einschränken - es sei denn, und hier tritt unsere Metaregel auf den Plan, damit werde einer noch niedrigeren Einheit gedient, insbesondere der entscheidenden Referenz, dem homo singularis.

Wir wissen, dass sich aus vielerlei Gründen die Diener gern zum Herrn aufspielen. Im Gesellschaftlichen ist es sogar fast unvermeidlich.

Denn in der Regel büsst, wer nicht nur gelegentlich, sondern systema­

tisch Hilfe annimmt, an Eigenfähigkeit und Eigenkompetenz ein; ausser­

dem pflegen Sozialeinheiten eine Eigendynamik zu entwickeln und dabei eine Ausweitung der Kompetenzen vorzunehmen. Derartigen Tenden­

zen tritt das Subsidiaritätsprinzip mit der Aufforderung entgegen, zu­

nächst einmal für den Vorgang sensibel zu werden und sodann Gegen­

kräfte zu mobilisieren; die schleichende Entmachtung der intermediären Sphäre oder gar der Individuen ist illegitim.

Expansionstendenzen gehen freilich auch von den Individuen und von der intermediären Sphäre aus. Dort stellt man beispielsweise an die Fa­

milie und den Staat immer höhere Ansprüche, und hier versucht man, die Kompetenz einer bestehenden Zentralinstanz auszuhöhlen. In beiden Fällen könnte sich die Kritik an der Expansion auf das Subsidiaritäts­

prinzip berufen, allerdings wieder ohne dass das Prinzip eine klare Ent­

scheidung treffen könnte.