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Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips

II. Das Wesen der Subsidiarität im Denken des Althusius

2. Subsidiarität und Föderalismus

Das universale Gemeinwesen ist als "zusammengesetzte Lebensgemein­

schaft" beschrieben und umfasst einerseits "private, natürliche, notwen­

dige und freiwillige", sowie andererseits "öffentliche" Teilgemeinschaf­

ten.32 Hier geht Althusius weit über den modernen "zweistöckigen"

quando vel isiius partis loiius publica manifestaque saJus id omnino suadet, ve! leges patriae fundamentales a magistratu non observantur (XXXVIII. 76).

11 omnis constimens prior & superior est a se constitmo (XV1J1. 8); vergleiche auch (IX. 24).

3- societas vitae mista, partim ex privata, naturale necessana, spontanem partim ex publica, consrltuta (IX. 3).

Bundesstaat hinaus: Teilgemeinschaften sind nicht nur Städte und Pro­

vinzen (öffentlich), sondern auch Stände und Gilden (privat, notwendig, freiwillig) sowie Familienverbände (privat, natürlich).

Dies ist vor allem eine entscheidende Erweiterung des Politischen.

Nicht nur wird das Föderalismuskonzept bis zur kleinsten Einheit an der gesellschaftlichen Basis erweitert, sondern es wird auch die private Exi­

stenz von Familien und Berufsverbänden mit in den Bereich des Politischen einbezogen. Für Althusius ist das ganz selbstverständlich, denn er kennt weder die klassisch-liberale Trennung von Individuum und Staat, wie sie etwa bei Hobbes und vor allem Locke ihren Anfang nimmt, noch die strikte Trennung von öffentlichem Staat und privatem Markt.

Der Markt ist noch weitgehend öffentlich, und das private Verhalten in der frühmodernen Gesellschaft daher mindestens teilweise auch politisch.

Die Tatsache, dass das Volk bei Althusius politisch nicht in erster Linie aus Individuen, sondern aus engeren und weiteren Teilgemein­

schaften zusammengesetzt ist, hat man bisweilen als "kollektivistische"

Bestimmung des Politischen gedeutet.33 Dies ist aber aus moderner Sicht eher missverständlich. Auf der Grundlage einer liberalen Zuordnung von Individuum und Staat wird Kollektivismus in der Regel als kollektive Vereinnahmung von Individuen oder Gruppen durch den Staat, also

"von oben" verstanden. Das genaue Gegenteil ist die Absicht der althu-sischen Föderalismuskonstruktion. Er begreift Politik als einen Prozess intergrupplicher Vergemeinschaftung "von unten". Richtig ist sicher, dass Althusius menschliche Existenz nicht als vereinzelt oder individua­

listisch, sondern ganz aristotelisch als gemeinschaftsorientiert begreift.34

Die nähere Bestimmung des Gemeinschaftszwecks und die subsidiäre Ausgrenzung des Allgemeinen und Besonderen schliesst aber minde­

stens eine staats-kollektivistische oder gar totalitäre Vereinnahmung par­

tikularer Existenz "von oben" aus.

Zweck einer jeden Gemeinschaft ist ja die gegenseitige Kommunikation und Bereitstellung alles dessen, was für ein harmonisches Sozialleben jeweils notwendig und nützlich ist. Das "Politische" daran ist aber gerade nicht etwa die Regulierung von Familien- oder Gildeninteressen von oben, son­

dern die Ausgrenzung eigenständiger Lebensbereiche von unten.35

3} Siehe Friedrich, 117-18.

iA Siehe vor allem (I. 31-32).

" Es kann nicht unterschlagen werden, dass Althusius eine ausgesprochen patriarchalische Vorstellung vom Familienleben hat, die sich vom Sozialleben in allen anderen

Konsozia-Am Beispiel der Provinz macht Althusius besonders deutlich, was der eigentliche Zweck föderalistischer Ausgrenzung engerer Lebens- und Gemeinschaftsbereiche ist. Für den Stadtpolitiker Althusius ist diese Ausgrenzung besonders wichtig, und er hat die Kapitel über die Provinz seinem Buch erst in den späteren Ausgaben hinzugefügt, also nach sei­

nem Amtsantritt in Emden. Es geht ihm hier um Autonomie und politi­

sche Mitwirkungsrechte der Landstände., welche er als den geistlichen sowie den Adels-, Städte- und Bauernstand genauer umschreibt.36

Die gewaltenteilige Mitwirkung der Stände an der Politik ist notwen­

dig wegen der komplexen Vielseitigkeit provinzieller Verwaltungsaufga­

ben, welche von einem allein nicht bewältigt werden können.17 Dieses Argument führt Althusius möglicherweise nicht zuletzt ins Feld, um dem provinziellen Grafenhaus ständische Mitwirkung schmackhafter zu machen. Der eigentliche Grund provinzieller Gewaltenteilung ist ein an­

derer. In vermeintlich untertäniger Bescheidenheit verweist Althusius auf "Spuren jener Freiheit, welche den Mitgliedern der Provinz erhalten bleibt, wenn sich alle und jeder an der Besorgung öffentlicher Angele­

genheiten beteiligt sehen"38

Wie weit diese Spuren der Freiheit aber in Wirklichkeit reichen sollen, macht er gleich klar, wenn er dem Provinz-Präfekten vorhält, dass er den einvernehmlichen oder Mehrheitswillen der Stände auf keinen Fall über­

stimmen kann.39 Dies ist umso bemerkenswerter, als Althusius nicht glaubwürdig an der Tatsache vorbeigehen kann, dass im Reich die

Für-cionen prinzipiell durch die "natürlichen" Unterschiede zwischen Mann und Frau unter­

scheidet. In der Betonung "gegenseitiger" Rechte und Pflichten aber, und überhaupt in der Betonung, dass Familienordnung privat, aber dennoch Teil des Politischen ist, mag man immerhin eine grundsätzliche Begrenzung patriarchalischer Willkür sehen. Siehe insbesondere (1. 46).

16 (VIII. 4, 40). Bedeutsam ist hier der ausdrückliche Einschluss des Bauernstandes entge­

gen der Praxis im Reich, aber im Einklang mit derjenigen in Ostfriesland. Dies unter­

streicht den Anspruch einer allumfassenden Bestimmung des Politischen, ist aber auch in praktischer Hinsicht bedeutsam; Man bedenke etwa das Scheitern der Autonomie der oberitalienischen Stadtrepubliken - nicht zuletzt am unvermittelten Gegensatz zwischen Stadt und Land.

37 Non enim unus potest sufficere ... (VIII. 3).

31 Vestigia quaedam libertatis provincialibus reservantur, dum omnes & singuli vident, se quoque ad curam rerum publicamm admitti (ibid.).

Althusius verweist in (XIIl. 67) auf die entsprechende Formulierung bei seiner Diskus­

sion der Abstimmungspraxis im Reichstag. Dort (XXXIII) heissc es, dass die Stände den Herrscher vereint überstimmen können, weil mehr Autorität und Macht bei den vielen ist, als bei dem einen, welcher von diesen bestellt wurde: Sententia igitur universorum statuum & ordinem praevalet praesidiis seu summi magistratus sententiae. Nam major autoritas & potestas in multis, quam in uno, qui a multis illis est constituto ...

sten nicht gewählt werden, sondern ihr provinzielles Herrschaftsrecht gewöhnlich entweder durch Erbfolge oder durch Einsetzung von oben erhalten.40 Taktisch benutzt er diesen Umstand zu einer weiteren Schwä­

chung provinzieller Herrschaftsgewalt, indem er auf ihre Begrenztheit im Reichsverband hinweist.41 Aber auch innerhalb dieser Grenzen bleibt sie ständischer Zustimmung unterworfen.

Für den Universalherrscher oder "obersten Magistraten" entwirft er dann ebenfalls einen genauen und begrenzten Katalog subsidiär ausge­

gliederter Befugnisse, welche sich in erster Linie auf die Herstellung ein­

heitlicher Lebensverhältnisse in einem modernisierten Gemeinwesen be­

ziehen, also insbesondere Handel, Geld- und Steuerwesen umfassen.42

Besondere Betonung legt Althusius dabei auf die Regulierung des "öf­

fentlichen Handels"41, ohne den ein zeitgemasser Lebenswandel nicht möglich ist.44

Allgemein aber ist diese oberste Herrschaftsbefugnis - ebenso wie die Herrschaftsbefugnis auf jeder Konsoziationsstufe - durch das Zustim­

mungserfordernis der Gemeinschaftsglieder begrenzt. Was diese be-schliessen, ist für den Herrscher bindend - "ausser wenn der Gemeinwil­

le etwas anderes zu beschliessen wünscht".45 Übergeordnete Herr­

schafts- und Regulierungsbefugnisse sind demnach genau enumeriert, al­

les andere verbleibt im Kompetenzbereich der Teilverbände.46

Dennoch kommen dem obersten Herrscher oder Magistraten überge­

ordnete Aufgaben und Pflichten zu. In der Verwaltung allgemeiner Ge­

rechtigkeit ist ihm ein Balanceakt aufgegeben, wonach "das Recht eines je­

den Gemeinschaftsmitglieds erhalten, keinesfalls verringert oder aber auf Kosten eines anderen vermehrt werden soll"47 Hieraus ergibt sich erneut eine genauere Bestimmung des wesentlichen Inhalts von Subsidiarität.

« (VIII. 50).

41 (VIII. 54).

42 (XI. 4); siehe auch die Wiederholung unter der Rubrik spezieller Aufgaben des obersten Magistraten (XXXII).

° mercatus publicus (XI. 5).

44 Sine commerciis igitur commode in hac sociali vita vivere non possumus (XI. 7).

45 nisi communi voluntate aliud placeat (IX. 18).

46 Jener Bereich der im amerikanischen Föderalismus dann als "residual powers" umschrie­

ben ist.

47 In hac justitiae administratione pro regula observandum Semper, ut in ea moderatio adhi-beatur, ut Reip. membro cuilibet suum jus conservecur, non minuatur, aut in perniciem alterius augeatur (XXIX. 2).

Der Konsens unter den Gemeinschaftsmitgliedern darf sich nicht nur auf das beziehen, was dem Eigenimeresse der einzelnen vorbehaJren blei­

ben soll, sondern muss auch eine allgemeine Anerkennung unabdingba­

rer Gemeinschaftsaufgaben zur Erhaltung von Eintracht, Einheit, Ruhe und Ordnung umfassen.48 Althusius spricht in diesem Zusammenhang von Selbstgenügsamkeit.49 Subsidiarität kann aJso im aJthusischen Sinne nicht bedeuten, dass jeder für sich behalten kann, was ihm jeweils für sich gewinnmaximierend erscheint, sondern dass jeder abzugeben bereit ist, was für die Einvernehmlichkeit des Ganzen unumgänglich ist. Das ist natürlich ganz frühmodern gedacht, im Sinne der alten "korporativen Libertät".50 Im Hinblick auf eine subsidiär organisierte moderne födera­

listische Ordnung jedoch wird das Spannungsgefüge zwischen Teil- und Gesamtinteresse durchaus deutlich.

Subsidiarität wird zum Gestaltungsprinzip sowohl für die Beibehaltung partikularer Eigenständigkeit als auch für die Bereitschaft zum sozialen und regionalen Ausgleich. Mindeststandards müssen von allen eingehal­

ten werden können. Ist dies nicht der Fall, darf die übergeordnete Instanz

"von oben" und "subsidiär" eingreifen und ausgleichen. Bei Althusius ist das noch nicht explizit vorgedacht, aber die ständige Betonung von Ein­

tracht, Selbstgenügsamkeit und Gegenseitigkeit schliesst jedenfalls aus, Subsidiarität als Freibrief für die Maximierung von Eigeninteressen in einem föderalistisch aufgebauten Gemeinwesen umzuinterpretieren.

Am deutlichsten wird das vielleicht bei der Diskussion allgemeiner Konzilien oder Reichstage. Hier wiederholt Althusius zunächst den alten konziliaren Konsensvorbehalt, wonach, was alle angeht, auch von allen entschieden werden muss. Aber dann macht er deutlich, worauf sich solche Entscheidungen beziehen sollen: nicht negativ auf einen Minimalkonsens, welcher jeden Teil von einer Verpflichtung auf das Gemeinschaftsinteresse entbindet, sondern positiv auf jene Gemein­

schaftsaufgaben, welche der "Fähigkeiten, Tugenden, Hilfeleistungen und den lebhaften Einsatz aller bedürfen"51

48 Siehe (XXXI. 1-8); Althusius verweist unier anderem auf den Konflikt zwischen Guel-phen und Ghibellinen in Florenz.

" autarkeia {XXIX. I); vergleiche auch (XI. 7), wo er den "öffentlichen" Markt als Ein­

tracht stiftende gegenseitige Kommunikation von notwendigen und nützlichen Gütern beschreibt.

50 Siehe unter anderem Raumer.

51 quod omnium facultates, vires, auxilia & sanguinem requirit (XVII. 60); vergleiche zur Diskussion der Reichstage auch (XXXIII).

Von "Föderation" oder "Konföderation" spricht Althusius direkt nur im Zusammenhang mit einer Erweiterung des Gemeinwesens." Die moderne Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund vorausneh­

mend, beschreibt er vollständige und partielle Konföderationen nach dem jeweiligen Integrationsgrad: entweder Vollintegration unter einheit­

liches Bundesrecht in allen Teilen, oder Teilintegration mit begrenzter Zwecksetzung und unter Beibehaltung eigenständiger Souveränitäts­

rechte.53 Für den letzteren Fall macht er dann eine bedeutsame Unter­

scheidung zwischen symmetrischen und asymmetrischen Bündnissen.

Die ersteren erlauben gegenseitige Hilfe auf der Basis von Gleichheit, in den letzteren steht ein Volk über dem anderen.54

Nur unter Gleichheitsbedingungen aber können Frieden und Freund­

schaft gedeihen.55 Der Hauptzweck föderaler Vergemeinschaftung ist es daher, "notleidenden und bedürftigen Mitgliedern der Universalgemein­

schaft beizustehen und prompte Hilfe zu gewähren".56 Die Gleichheit von Lebensbedingungen, um die es hier geht, ist aber keine absolute (,aequalitas\ denn das würde nur Zwietracht sähen, sondern eine ange­

messene und faire (aequabilitas).57 Hieraus ergibt sich schliesslich noch einmal genauer das Wesen von Subsidiarität in einem föderalen Gemein­

schaftsverband.

Autonomie und subsidiäres Selbstbestimmungsrecht der Teileinheiten werden durch die föderale Gliederungsstruktur gewährleistet, insbeson­

dere durch die gesellschaftliche Erweiterung des Föderalismusprinzips in private und funktionale Partikulargemeinschaften mit naturgemäss ähnlicheren und daher konsensfähigeren Interessenslagen. Gleichzeitig

52 Vergleiche aber die ähnliche Diskussion von Städtebünden mit Verweis auf die Schweiz (V. 20-21).

53 Plena ... confederatio est, qua alienum regnum, eiusque regnicolae, vel provincia ... in plenum integrumque jus & communionem regni adsumuntur (XVII. 27); Non-plena confederatio est, qua diversae provinciae vel regna, salvo singulis suo majestatis jure ...

se obligant (XVII. 30).

94 Fedus . .. par & aequum ... licet auxilia mutua ... fedus ... impar, quo unus populus altero superior (XVII. 49-50).

55 quo pares, aequo federe in pacem flc amicitiam venirent (ibid.).

S<1 Auxilium est, quo, operarum & rerum communicatione, membro consociationis hujus

universalis laboranti & indtgenti succurritur, idque prompto auxilio juvatur (XVI. 2).

,7 (VI. 47); Ahhusius bezieht sich hier auf die Lebens- und Standesverhähnisse in der Stadt.

Indem er di e Stadt aber abwechselnd als vollständige politische Ordnung (politeuma)

und Universalgemeinschaft (universitas) bezeichnet (V. 1, 7), wird die allgemeine Absicht durchaus deutlich.

bleibt allen die kooperative Bereitschaft zur Herstellung gleichartiger Lebensbedingungen aufgegeben. Subsidiarität kann in diesem Sinne aus Althusius also nicht als ein Entscheidungsmechanismus, sondern immer nur als eine qualitative Anleitung für angemessene Kompetenzverteilung herausgelesen werden.

3. Zusammenfassung

Subsidiäre Verankerung aller Herrschaftsmacht ist die verfassungsmäs­

sige Grundlage des Gemeinwesens. Dabei geht es Althusius nicht nur um eine grundsätzliche Kompetenzvermutung zugunsten der jeweils niedrigeren Gemeinschaftsstufe, sondern vor allem um die Begründung von Herrschaftbefugnis aus der Einvernehmlichkeit aller Teileinheiten.

Im Gegensatz zur dualistischen Gegenüberstellung von Herrscher und Volk fusst Subsidiarität bei Althusius auf einer konstitutionellen Einbindung komplementärer Rechtsbereiche. Dabei liegt aber das We­

sentliche nicht in einem "für sich behalten", was man lieber selber ent­

scheiden möchte, sondern in einer den sozialen Bedürfnissen insgesamt entsprechenden Verteilung von Macht und Herrschaft auf die jeweils an­

gemessenste Verwaltungs- und Regierungsebene in einer vielgliedrigen Föderation.

Subsidiarität wird so zum Gestaltungsprinzip sowohl für die Beibe­

haltung partikularer Eigenständigkeit als auch für die Bereitschaft zum sozialen und regionalen Ausgleich. Mindeststandards müssen von allen eingehalten werden können. Nur wenn dies nicht der Fall ist, darf die übergeordnete Instanz "von oben" und "subsidiär" eingreifen und aus­

gleichen.

Man darf diese Überlegungen insgesamt aber nicht einfach als mecha­

nistisches Entscheidungsmodell verstehen, sondern eher als eine qualita­

tive Anleitung für gemeinschaftliches Handeln als politische Kultur. Als Vordenker des Subsidiaritätsprinzips bietet Althusius in diesem Sinne eine gemeinschaftsorientierte und kooperative Alternative zur Grundle­

gung der Rahmenbedingungen individuellen Handelns in einer konkur­

renzierenden Marktgesellschaft bei Thomas Hobbes.