• Keine Ergebnisse gefunden

Volker Press ist kurz nach dem Symposium unerwartet verstorben. Deshalb konnten das Literaturverzeichnis und die Fussnoten nicht mehr nachgetragen werden.

Das Subsidiaritätsprinzip ist ein theoretisches Konstrukt der Theologen, Philosophen und Politologen. Zur Rolle der Historiker gehört es tradi­

tionell, solche Konstrukte zu relativieren. Sie tun dies durch Konfronta­

tion mit den Fakten und geben vor, festzustellen, wie es tatsächlich ge­

wesen sei, um mit Leopold von Ranke zu sprechen. Aber dies verhüllt auch oft genug nur, dass sie ebenso der Suggestion der Gegenwart erlie­

gen und deren Vorstellungen in die Vergangenheit projizieren. Die For­

schung zur neueren'Geschichte hat dies vor allem in Deutschland -lange genug getan, indem sie in Staatwerdung, Bürokratisierung, Zentra­

lisierung, Verwaltungsstaat, Nationalstaat, Machtstaat die massgeblichen Kräfte der Geschichte sah. Ging die Geschichte diesen Weg nicht, so sprachen die Historiker gern von einer Fehlentwicklung. Dieses Schick­

sal ist nicht einmal dem ehrwürdigen Heiligen Römischen Reich erspart geblieben - es wurde im Bismarckreich vornehmlich als Hindernis für eine kleindeutsche Entwicklung gesehen.

Mehr noch: lange genug haben die Historiker eine weitere Fiktion ge­

fordert - gern zeichnete die ältere deutsche Geschichtsschreibung das Gemälde einer ausgebildeten mittelalterlichen Monarchie, die weit ins heutige Frankreich und Italien ausgriff, daran scheiterte und schliesslich dem "Partikularismus" das Feld überliess. Geschichte des Reiches war somit, überspitzt formuliert, im Gegensatz zu Westeuropa die Ge­

schichte eines permanenten Niedergangs seit den Tagen der Staufer, bei dem das Haus Habsburg eine eher negative Rolle spielte, bis der preussi-sche, der wirkliche "Heilsweg" beschritten wurde. Diese Sicht ist gewiss früh relativiert worden - aber gerade im Zeichen einer wiedergewonne­

nen deutschen nationalen Einheit erliegt auch heute noch mancher Hi­

storiker der borussischen Suggestion.

Für das deutsche Mittelalter ist jedoch das Herrschaftsdefizit des Kö­

nigtums heute sehr deutlich geworden - es entsprach auch weit starker

den Bedingungen einer Gesellschaft, die Mangel litt an Verbindungswe­

gen, Kommunikationsmöglichkeiten, an Geldwirtschaft, an entwickelter Schriftlichkeit. Von daher waren der zentralen Autorität des Königs und ihren Einwirkungsmöglichkeiten in den lokalen Bereich von vornherein enge Grenzen gesetzt. Dies führte natürlich zu einer Praxis der Subsidia­

rität, auf die man notwendigerweise angewiesen war. Eine Alternative gab es nicht; die lokalen und regionalen Gewalten mussten respektiert, eingebunden, im günstigsten Fall instrumentalisiert werden. Der Prozess der herrschaftlichen "Verdichtung", wie ihn Peter Moraw genannt hat, war ein gesamteuropäischer und vollzog sich nur langsam.

Gleichwohl erscheint für die Diskussion des Subsidiaritätsprinzips von zentraler Bedeutung, dass seit Beginn der deutschen Geschichte -von der hier vor allem gehandelt werden soll - eine zentrale Autorität da war, die sogar starke Ansprüche formulierte - zunächst die merowingi-schen, dann die karolingischen Herrscher, allmählich die deutschen Kö­

nige. Diese Autorität berief sich zunehmend auf Tradition und Machtan­

spruch der römischen Imperatoren, aber ihr Königtum war von begrenz­

ter Möglichkeit. Es stützte sich auf das Königsgut und war vor allem wirksam durch die jeweils im regionalen Bereich geübte Präsenz des Herrschers. Vergleichbar gestaltete sich das Verhältnis von entstehendem Fürstenstand zum rangniedereren Adel und dem später aufkommenden Ministerialenstand; andererseits wurde auch ihr Herrschaftsanspruch zunehmend theoretisch unterlegt, eine Diskussion, die in Mitteleuropa dann ins Prinzip der Landesherrschaft bzw. Landeshoheit mündete. Für die Kirche, deren rationalere Organisation der weltlichen auf längere Zeit überlegen war, galt ähnliches, wenngleich ihre - jedenfalls auf dieser Welt - begrenzten Ziele zunächst einen strafferen Zugriff ermöglicht hatten.

Das heisst, die ältere Geschichte war bestimmt vom Spannungsfeld zwischen dem Machtanspruch der Herren und ihren begrenzten Mög­

lichkeiten in der Realität. Subsidiarität ist zwar von unten her gedacht, aber sie setzt doch die Existenz einer übergeordneten Gewalt voraus. Die Nützung von Freiräumen gegenüber dem Machtanspruch der Obrigkei­

ten ist in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt der Histori­

ker geraten. Das wichtigste, bekannteste Beispiel stellen wohl Peter Blickles Untersuchungen zu den kommunalen Freiräumen in Stadt und Land dar, in denen die Moderne am ehesten ihre Vorläufer zu sehen ver­

mag - aber solche Freiräume gab es auch für Adel und Kirche. Sie bilde­

ten das Gegengewicht zum Herrschaftsanspruch der Fürsten, Grafen und Herren, die immer wieder ihre Probleme hatten, ihre Herrschaft nach unten abzusichern - ihrerseits vermochten sie jedoch Kaiser und Könige aus ihrem Bereich herauszuhalten.

Damit ist das zentrale Problem des mitteleuropäischen Staatwer-dungsprozesses angesprochen - er wurde nicht von Kaiser und Reich, sondern von den Fürsten durchgesetzt, sogar von den Kaisern selbst zu­

nächst nur in ihrer Eigenschaft als Fürsten, d. h. in ihren Hausmachtter­

ritorien. In den alten Kerngebieten des Reiches, in Schwaben, Franken und am Rhein, wo die einstige staufische Machtstellung zerfallen war, konnten schliesslich den fürstlichen Territorien sogar Reichsprälaten, Reichsgrafen, Reichsstädte, ja sogar Reichsritter als unabhängige Gewal­

ten zur Seite treten. Der Territorialisierungsprozess im Reich verlief zu­

nächst regional sehr unterschiedlich - mit unterschiedlichen Methoden, in unterschiedlichem Tempo, aber eine Gemeinsamkeit lässt sich doch hervorheben: Die Fürsten und Herren sammelten Herrschafts- und Rechtstitel, die sie zu arrondieren trachteten; sie gründeten Städte, um ihrem auf dem Domanialbesitz gegründeten Herrschaftssystem Verwal­

tungszentren zu geben; aber auch diese Städte schufen sich schnell ihre eigenen Freiräume. Damit erscheinen selbst hier die herrschaftlichen Durchsetzungsmöglichkeiten allenthalben begrenzt. Bischofsresidenzen wie Köln, Speyer, Worms, Konstanz, Regensburg und Lübeck, auch Genf und Basel entzogen sich ihrem geistlichen Landesherrn und traten als "Freie Städte" neben die Reichsstädte. Die zahlreichen Fehden des Spätmittelalters waren zu einem grossen Teil auch Auseinandersetzun­

gen um diese Freiräume.

Herrschaftliche Unterwerfung bedeutete keine völlige Ausschaltung des Eigenlebens der nachgeordneten Gewalten. Der "Verdichtungspro-zess" (Peter Moraw) hiess für das Reich immer wieder neue Kompro­

misse bei Herrschaftskonsolidierung, Einengung und Gewährleistung der Freiräume - man wird sich den Aufbau des "modernen Staates" nicht zu schnell, und schon gar nicht zu intensiv vorstellen dürfen. Gleichwohl gab es hier ein permanentes Konfliktpotential. Gewiss, der deutsche Landesstaat verstand es seit dem späten Mittelalter zunehmend, das Le­

ben im lokalen Bereich mitzuregulieren und die dort vorhandenen Ge­

walten zurückzudrängen: Rechtsvereinheitlichung, gesetzgebende Tätig­

keit, Organisation des täglichen Lebens, von Gerhard Oestreich als So-zialdisziplinierung bezeichnet. Aber der Landesstaat war gar nicht in der

Lage - bei einer noch bescheidenen Bürokratie, beschränkter militäri­

scher Kraft, in der Regel mangelnden Finanzen, seine Ansprüche in direkter Konfrontation durchzusetzen. Ihm ging es mehr darum, Kon­

flikte zu begrenzen und mit Hilfe der Beteiligten oder ihrer Standesge­

nossen eine Schiedsrichterrolle zu spielen. Im Landfrieden lag somit eine der wichtigsten Legitimationen fürstlicher, aber auch königlicher Herr­

schaft. Nicht Machtanspruch, sondern Ausgleich war die Lösung, die in der Vereinnahmung der lokalen Gewalten gipfelte. Herrschaft ruhte so­

mit nicht auf Beseitigung, sondern auf Vereinnahmung lokaler Herr­

schaftsträger - sie stellte Zusammenfassung, nicht Unterwerfung dar, denn man kam nach wie vor ohne das Wirken der lokalen Gewalten nicht aus. Ihnen blieb ein beträchtlicher Teil Eigenständigkeit, denn ohne sie vermochte selbst der bestorganisierte Landesstaat nicht zu funktio­

nieren - eine historische Sichtweise, die nur von der Zentrale ausgeht, vernachlässigt entscheidende Grundlagen der historischen Entwicklung und muss daher einäugig bleiben.

IL

So sehr im Reich das Territorialisierungsprinzip massgeblich wurde und andere ältere wichtige Organisationsprinzipien wie das Lehenswesen beiseite schob, so gab es doch viele Varianten. Vor allem ist die Kompo­

nente des Königtums nach wie vor nicht wegzudiskutieren - der deut­

sche König war seit dem Hochmittelalter überdies der designierte römi­

sche Kaiser und dessen Existenz war schon deshalb nötig, weil nach der Meinung der Theologen mit dem Wegfall des heilsnotwendigen Kaiser­

tums das Ende der Welt gekommen war. Die Verbindungen des deut­

schen Königtums mit einer imperialen Stellung brachten es mit sich, dass ersteres durch die Kosten des letzteren und vor allem durch seine Italien­

politik stark absorbiert war; das galt vor allem für die späten Staufer, aber auch für Karl V. Doch auch an der östlichen Peripherie des Reiches konnte die königliche Macht aufgesogen werden, so etwa beim Luxem­

burger Wenzel in seinen Auseinandersetzungen mit Hussitentum und Adel Böhmens, bei Sigmund in seinem ungarischen Herrschaftsmittel­

punkt, beim Habsburger Friedrich III. in seinen ständigen Auseinander­

setzungen mit dem östlichen Nachbarn und dem eigenen Adel.

Die Verbindung mit dem universalen Kaisertum hat für Deutschland und Italien die Entwicklung zum Nationalstaat gebremst und die Zer­