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Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips

II. Das Wesen der Subsidiarität im Denken des Althusius

1. Subsidiarität und Dualismus

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war die alte Ordnung endgültig zerbro­

chen. Sie hatte in einem Neben- und Übereinander pluraler Rechts- und Herrschaftskreise unter dem Dach einer christlichen Universalkirche be­

standen. Die Reformation hatte dieses Dach zum Einsturz gebracht.19

Religionskriege waren die Folge. Glaubensfreiheit wurde zur Uberle­

bensfrage. Gleichzeitig war die Autonomie der partikularen Herrschafts­

kreise aber auch durch die immer stärker sich anbahnende Modernisie­

rung zentralisierter Verwaltungs- und Finanzstaaten gefährdet. Im Em­

den des Johannes Althusius zum Beispiel verliefen die Konfliktlinien zwischen dem Autonomiestreben des calvinistischen Bürgertums in der reichen Seehandelsstadt einerseits, und andererseits dem lutherischen Grafenhaus von Ostfriesland, welches in seinem Streben nach Umrü­

stung der Provinz in ein modernisiertes absolutistisches Staatswesen vor allem auf die Besteuerung der reichen Stadt nicht verzichten wollte.23

19 Dies isc k eine Schuld2uweisung. Das Dach war schon lange einsturzgefährdet gewesen, und nicht nur durch glaubensbedingte Zersplitterung. Schon auf dem Konzil von Kon­

stanz (1413-17) hatte es der neu gewählte Papst, Martin V., als notwendig befunden, zum ersten MaJ separate Konkordate mit den fünf vertretenen "Nationen" abzuschliessen.

- Siehe vor allem Antholz.

In dieser tiefen und durchaus gesamteuropäischen Krise von Autorität und Freiheit war ein grundsätzliches Umdenken des Wesens der Politik unumgänglich geworden. Zwei Vorschläge waren zunächst vorherr­

schend, und beide kamen aus Frankreich, wo die Religionskriege mit dem Massaker der Bartholomäusnacht von 1572 einen grausamen Höhe­

punkt erreicht hatten.

Vier Jahre nach der Bartholomäusnacht veröffentlicht Jean Bodin seine Six Livres de la Republique. Sein Vorschlag ist es, die Krise moni­

stisch durch Ausschaltung aller autonomen Zwischengewalten zu been­

den. Mit seiner epochemachenden Formulierung des Souveränitätsprin­

zips als absolut und unteilbar entzieht er den partikularen Teilverbänden jede autonome Herrschaftsbefugnis. Die Stände der alten Ordnung wer­

den - ganz modern - als dezentralisierte Amtsträger in einen unitari­

schen Verwaltungsstaat eingebaut.2' Ebenso modern ist sein Vorschlag, Glaubensfragen politischer Regelung einfach zu entziehen, den Konflikt also durch tolerante Trennung von Politik und Religion zu entschärfen.22

Bodins Vorschlag ist kühn, kann aber weder die französischen Huge­

notten noch die partikularen Kräfte im Reich überzeugen. Seine politi­

sche Theorie eilt der Zeit weit voraus. Hugenotten und Calvinisten müs­

sen weiter ums Überleben kämpfen. Gleichwohl können sie das Erstar­

ken souveräner Zentralherrschaft nicht mehr leugnen. In den Wider-standslehren der sogenannten Monarchomachen verdichtet sich der Über­

lebenskampf daher theoretisch zu einem Vorschlag "dualistischer" Aus­

balancierung bestehender Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse.

Ausgangspunkt ist die Idee eines religiösen Doppelbundes: ein "Gna-denbund" mit Gott, dem sich weder Volk noch Herrscher entziehen können einerseits, und ein Bund zwischen König und Volk zur Begrün­

dung rechtmässiger Herrschaft andererseits. Die Argumentation verläuft etwa folgendermassen:23 Beide, Volk und Herrscher, sind Gott direkt verantwortlich und rechenschaftspflichtig für die Einhaltung des ersten oder Gnadenbundes, welcher die in den beiden Tafeln des Dekalogs ent­

haltenen Gebote für ein frommes und gerechtes Leben umfasst. Ein sol­

ches Leben ist aber nur möglich, wenn beide, Volk und Herrscher, die Gebotsgrundsätze einhalten. Dies bedarf gegenseitiger Kontrolle. Der

21 Vergleiche vor allem Quaritsch, 268-69.

22 Siehe vor allem Bodins nachgelassenes Religionsgespräch "Colloquium Heptaplomeres".

" Siehe klassisch Ostreich, 11-23.

eine Teil ist auch für den anderen direkt verantwortlich. Der Herrscher ist nicht "von Gottes Gnaden" einseitig bestimmter Wächter über das Volk, sondern Bundespartner neben dem Volk. Inhalt und offensichtlicher Zweck der Konstruktion eines zweiten Bundes oder Herrschaftsvertrags ist die Begründung eines Volksrechtes zur Kontrolle legitimer Herrschaft.

Weiter folgt daraus ein Recht auf Widerstand gegen willkürliche (und das heisst: den Gnadenbund verletzende) Herrschaft.24 Herrschaftsrecht und Widerstandsrecht bleiben aber dualistisch nebeneinander geordnet, das Recht des Herrschers ist originäres Recht, nur bei Herrschaftsmiss-brauch wird Widerstand zur Pflicht. Herrschaft wird weder als mandati­

scher Regierungsauftrag begründet, noch subsidiär aus irgendeinem all­

gemeinen und vorrangigen Volksrecht abgleitet.

Einen entscheidenden Schritt weiter geht erst Althusius. Im Reich mit seinen viel stärker als in Frankreich zersplitterten Partikularkräften ist eine territoriale Befriedung auf dualistischer (ebenso wie monistischer) Basis faktisch unmöglich und theoretisch abwegig. Vielleicht ist das Reich deswegen manchen Zeitgenossen als ein "Monstrum" erschienen.

Wo absolutistische Einigung von oben ebensowenig möglich ist wie eine dualistische Ausbalancierung bestehender Kräfte, drängt sich ein födera­

listischer Lösungsvorschlag geradezu auf. Bei Althusius wird Subsidiari­

tät zum entscheidenden Bestandteil föderalistischer Organisation.

Er erweitert den doppelten zum dreifachen Bund, indem er dem Herrschaftsvertrag einen Gesellschaftspakt vorschaltet. Die Logik ist einfach: Wenn das Volk direkt rechenschaftspflichtig gegenüber Gott ist, und sich diese Rechenschaftspflicht auch auf die Einhaltung rechtmässi­

ger Herrschaft beziehen soll, muss das "Volk" in die Lage versetzt wer­

den, diese Kontrolle auch angemessen ausüben zu können. Der Gesell­

schaftspakt wird zur konstituierenden Voraussetzung für den mandati­

schen Herrschaftsauftrag.

Wichtig ist dabei die Unterscheidung von Gesellschaftsp<a&f und Herrschaftsvmrdg. Bekanntlich hat Thomas Hobbes diese Unterschei­

dung ein halbes Jahrhundert später aufgehoben. Bei ihm fallen Gesell­

schafts- und Herrschaftsvertrag zusammen. Zweck des Gesellschaftsver­

trages ist nicht die Begründung gegenseitiger sozialer Kommunikation, sondern die friedenstiftende Begründung notwendiger Herrschaft.

-4 Eine brillante Zusammenfassung calvinistischer Widerstandslehren findet sich in den

" Vindiciae contra tyrannos" des anonymen Junius Brutus von 1579; siehe Harold Laskis Einführung zu Brutus, Junius: A Defence of Liberty Against Tyrants.

Neuere Hobbes-Interpretationen sind dabei zu dem Schluss gekommen, dass die Aufgabe des Leviathan nicht in erster Linie darin liegt, die ver­

einzelten Bürger machtpolitisch in Schach zu halten, sondern sie auf die Verhaltens- und Verkehrsregeln einer zivilen Konkurrenzgesellschaft einzuschwören. Es handelt sich demnach um den grandiosen Versuch der theoretischen Herleitung einer neuen bürgerlichen politischen Kul­

tur und Ideologie.25

Althusius kann ähnlich interpretiert werden. Er umschreibt den Ge­

sellschaftspakt als einen konsozialen Einigungsbund, durch welchen sich die symbiotischen Gesellschaftsmitglieder auf die gegenseitige Kommu­

nikation alles dessen verpflichten, was für ein harmonisches Sozialleben nützlich und notwendig ist. Politik wird in erster Linie als horizontale Partnerschaft definiert.26 Der Herrschaftsvertrag ist indessen als ein Mandatsverhältnis umschrieben, in dem der Herrscher nur diejenigen Befugnisse erhält, welche ihm explizit zuerkannt worden sind. Alles andere verbleibt in gesellschaftlicher Kontrolle nach dem nun genauer bestimmten Zweck subsidiärer Herrschaftsvermutung, wonach ein Gemeinwesen umso stabiler erscheint, je weniger Macht seine Herrscher besitzen.27 Was sich bei Althusius andeutet, ist der nicht weniger gran­

diose Versuch der theoretischen Herleitung einer alternativen gemein-schaftsorientierten politischen Kultur und Ideologie.

Subsidiäre Verankerung aller Herrschaftsmacht ist die verfassungsmäs­

sige Grundlage des Gemeinwesens. Durch seine Wahl wird dem jeweili­

gen Herrscher die Sorge für das "Fundamentalgesetz des Gemeinwesens"

aufgegeben,28 und dieses Fundamentalgesetz beinhaltet "nichts anderes als jene Gesellschaftspakte, durch welche sich mehrere Städte und Provinzen übereinstimmend zu einem Gemeinwesen zusammenschliessen."29

25 Siehe Tuck, xvii-xviii.

26 Proposita igitur Politicae est consociatio, qua pacto expresso, vel tacito, symbiotici inter se invicem ad communicationem mutuam eorum, quae ad vitae socialis usum & consor-cium sunt utilia & necessaria, se obligant... Symbiotici... communionis sunt participes (I. 2 und I. 6).

27 Tantum autem juris habet hic summus magistratus, quantum illi a c orporibus consocia-cis, seu membris regni, est expresse concessum; Sc quod non datum ipsi est, id penes populum, seu universalem consociationem, remansisse dicendum est . . . idque ex natura contractus mandati... Quo minor autem esc potestas eorum qui imperant, eo dutius sta-biliusque siat imperium. (XIX. 7-8).

28 In electione vero summi magistratus, summa cura legis fundamentalis regni, habenda est (XIX. 49).

29 nihil aliud, quam pacta quaedam, sub quibus plures civitates Sc provinciae coierunt &

consenserum in unam . . . Rempubl. (Ibid.).

Inhalt dieser Gesellschaftspakte ist wie gesagt die Bereitstellung und Erhaltung alles dessen, was für ein harmonisches Sozialleben notwendig und nützlich ist. Förderung und Schutz dieses Soziallebens ist Gegen­

stand des mandatischen Herrschaftsauftrages. Herrschafts- und Gesell­

schaftsrecht stehen nicht mehr dualistisch nebeneinander, sondern das erstere besteht in erster Linie zur Beförderung des letzteren. In offen­

sichtlicher Anlehnung an den Freiheitskampf der Niederlande postuliert Althusius, dass sich ein Teil des Gemeinwesens von diesem lossagen kann, "wenn das öffentliche und manifeste Wohl dieses Teils das erfor­

dert" oder, mit anderen Worten, "der Herrscher die Fundamentalgesetze des Landes nicht beachtet"33

Im Gegensatz zur dualistischen Gegenüberstellung von Herrscher und Volk, König und Aristokratie, Reich und Ständen, fusst Subsidiari­

tät bei Althusius also auf einer konstitutionellen Einbindung komple­

mentärer Rechtsbereiche. Dabei gilt immer und auf jeder Regierungs­

ebene des zusammengesetzten Gemeinwesens, dass dem Volk Vorrang und Suprematie gegenüber den Regierenden gebührt, denn "jede verfas­

sungsgebende Gewalt besteht zuerst und hat Vorrang vor dem, was durch sie konstituiert wurde".31

Nun ist das "Volk n bei Althusius aber nicht einfach ein souveränes Wahl-volk, sondern ein genau umschriebener organisierter Volkskörper. Und das Wesentliche des althusischen Subsidiaritätsdenkens liegt nicht einfach in einem "für sich behalten", was man lieber selber entscheiden mochte, sondern in einer den sozialen Bedürfnissen insgesamt entsprechenden Ver­

teilung von Macht und Herrschaft auf die jeweils angemessenste Verwal-tungs- und Regierungsebene in einer vielgliedrigen Föderation.