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sidium" heisst "Hilfe". Schon diese Etymologie stellt die Verbindung her zwischen Subsidiarität und Solidarität. Man kann sagen, dass die Subsi­

diarität in gewisser Hinsicht eine Modalität der Solidarität ist.

Die Solidarität ist das Prinzip, das uns dazu bewegt, dem Freund, dem Mitbürger oder schlechterdings dem leidenden Mitmenschen zu helfen.

Die Solidarität bricht die eiserne Strenge des trockenen Leistungs- und Austauschprinzips. Nach dem Austauschprinzip soll jeder Leistung eine Gegenleistung entsprechen, und zwischen beiden soll ein Gleichgewicht bestehen. Dieses Prinzip steht im Mittelpunkt der Marktmechanismen.

Der Markt ist wesentlich der Ort des Austausches, wo die Willen freier Menschen aufeinandertreffen und sich über einen gewissen Inhalt einigen.

Der freie Austausch setzt den freien Menschen voraus. Ohne diesen Aus­

tausch der Gleichwertigen kann eine freie Gesellschaft nicht bestehen und ist eine wirtschaftliche Rechnung unmöglich, wie es L. von Mises bewie­

sen hat.

Eine freie Gesellschaft kann aber nicht einseitig auf dem Austausch­

prinzip aufgebaut werden. Die Austauschgerechtigkeit ist eine unab­

dingbare, aber nicht genügende Bedingung für den regelrechten Ablauf des gesellschaftlichen Lebens. Jeder Mensch will frei über sein Vermögen verfügen, aber zugleich weiss jeder Mensch, dass vieles von dem, was er braucht, vom Markt nicht besorgt werden kann. Liebe, Zärtlichkeit, Ge­

wissen, aber auch Gesundheit, Körperteile und Freiheit können und sol­

len weder gekauft noch verkauft werden. Der Markt kann sich nicht diese Grenzen setzen; die sollen ihm von starken politischen, kulturellen und religiösen Institutionen auferlegt werden, wenn wir den Menschen und seine Funktionsfähigkeit bewahren wollen.

Warum genügt der Markt und das Austauschprinzip nicht? Der Grund ist, dass wir einen leidenden Mitmenschen nicht mit voller

Gleichgültigkeit betrachten können. Eine empiristische Philosophie wird uns hier von einem Empathie- oder Sympathiegefühl reden. Eine meta­

physische und phänomenologische Philosophie wird uns sagen, dass der Mensch in seinem Wesen selbst zugleich Person und Gemeinschaft ist.

Wir können die Frage dahingestellt lassen, welche Interpretation mehr den Tatsachen und der allgemeinen Erfahrung entspricht. Auf alle Fälle ist uns die Solidarität als Sachverhalt in unserer Erfahrung unmittelbar gegeben. Das Mitleid enthält eine Forderung. Wir sind uns dessen be-wusst, dass dem Menschen etwas zukommt, dass ihm in seinem Not­

stand geholfen werden soll, auch im Falle, dass er nicht dazu imstande ist, eine gleichwertige Gegenleistung zu erbringen. Der Grund ist die menschliche Würde, und auf ihr beruht die Gratuität. Der Markt und das Austauschprinzip werden in einer gesunden Gesellschaft durch eine Sphäre der Gratuität abgegrenzt und ausgeglichen. Die Familie ist die gesellschaftliche Institution, die am meisten von der Gratuität durch­

drungen ist. In der Familie wird der Austausch unter den Familienmit­

gliedern nicht durch das Gleichgewichtsprinzip geregelt, sondern durch die Gratuität und die Liebe.

Der Unterschied und zugleich der Zusammenhang von Leistungs­

prinzip und Gratuität kann durch eine Auslegung des sprachlichen Aus­

drucks "dies ist mein Land" besser zur Evidenz gebracht werden. "Dies ist mein Land" kann bedeuten, dass ich dieses Stück Land durch meine Arbeit oder von meinen Eltern erworben habe. In diesem Fall bezeichnet der Ausdruck ein Verhältnis des privaten Besitzes, des Sondereigentums.

Ich kann aber "dies ist mein Land" jedesmal sagen, wenn ich vom Aus­

land in meine Heimat zurückkomme. Wenn ich den Boden von Fiumi-cino, dem Flughafen Roms, betrete oder von einem Hügel auf die Land­

schaft Gallipolis, der Stadt, in der ich geboren wurde, herabschaue, darf ich wohl sagen "dies ist mein Land", wenn ich auch keinen Besitz dort habe. Als Bürger habe ich Rechte, die sich von denen bezüglich meines privaten Eigentums unterscheiden. Diese Rechte gehören mir nicht we­

gen einer Leistung, einer persönlichen oder der eines meiner Vorfahren, sondern nur, weil ich geboren wurde. Sie sind, im streng etymologischen Sinne des Wortes, Naturrechte. Naturrechte heissen Rechte, die mir von Natur aus zufliessen, die ich habe, weil ich geboren wurde. Natur kommt aus dem lateinischen Wort "nasci", das heisst "geboren werden".

Von Natur aus habe ich ein Recht auf das Land, in dem ich geboren wurde oder in dem meine Familie sesshaft ist. Das Naturrecht wird hier

zum Bürgerrecht, weil es durch die Geschichte der Familie weiter be­

stimmt wird. Es gibt aber auch ein allgemeines Recht jedes Menschen, einen Ort auf dieser Erde zu finden, wo er leben kann. Wenn einer keine Bürgerrechte besitzt, dann tritt sein Naturrecht in dieser undifferenzier-teren Form auf.

Wir haben uns am Anfang dieses Abschnitts das Ziel gesetzt, das We­

sen der Subsidiarität zu bestimmen. Statt dessen haben wir ständig über Individualität und Solidarität argumentiert. Es musste so sein, weil die Subsidiarität gerade das Verhältnis von Individualität und Solidarität de­

finieren hilft und nur im Lichte dieser zwei anderen Begriffe angemessen gedeutet werden kann.

2. F. von Hayek hat einmal gegen den Begriff "soziale Gerechtigkeit" ar­

gumentiert. Ich werde jetzt versuchen, seine Argumentation in einer leicht veränderten Form wiederzugeben. Die menschlichen Rechte kön­

nen einen positiven oder einen negativen Inhalt haben. Das Recht auf Ei­

gentum, zum Beispiel, hat vorerst einen negativen Inhalt. Jeder ist dazu verpflichtet, mein Eigentum nicht zu verletzen und mich frei über meine Sachen verfügen zu lassen. Die meisten Menschen erfüllen diese negative Pflicht, sich nicht einzumischen, ohne überhaupt zu wissen, dass ich exi­

stiere. Mein Recht ist allgemein, gilt vor jedem Menschen, der in der Welt lebt, und ist zugleich negativ. Ich kann aber auch Rechte haben, die einen positiven Inhalt haben. Ich habe zum Beispiel das Recht, mein Gehalt von meinem Arbeitgeber am Ende des Monats zu empfangen. Dieses Recht hat einen positiven Inhalt, eine gewisse Summe Geld, eine kon­

krete Leistung. Dieses Recht ist aber nicht allgemein, gilt nicht gegen­

über jedem menschlichen Wesen. Mein Arbeitgeber und nur mein Ar­

beitgeber soll mir dieses Geld geben. Tut er das nicht, dann darf ich nicht dieselbe Summe von einem anderen Menschen beziehen. Die Verpflich­

tungen mit einem positiven Inhalt gelten nicht allgemein, sondern nur gegenüber einem oder einigen bestimmten Menschen. Es ist leicht, die Folgerung zu ziehen: Allgemeine Rechte können nur einen negativen In­

halt haben. Rechte mit einem positiven Inhalt gelten nur in einem be­

stimmten Bereich. Bestimmt man nicht die Menschen, die dazu ver­

pflichtet werden, den Inhalt der Rechte zu vollziehen, ist die Behauptung der Rechte eine leere rhetorische Formel. Dies ist aber gerade das, was die Vertreter der "sozialen Gerechtigkeit" tun. Sie sagen, dass alle Men­

schen zum Beispiel das Recht auf Gesundheit oder Erziehung haben.

Damit wird aber kaum erklärt, wer die entsprechende Gegenleistung er­

bringen sollte, wer dafür zu bezahlen habe. Es ist leicht, im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu sagen, dass alle Menschen das Recht auf dies und jenes haben, solche Sätze können aber nicht zu Leitlinien kohären­

ter Politiken werden und geben nur zu Hoffnungen Anlass, die nie er­

füllt werden können und am Ende nur Desillusionen den Weg bereiten.

So weit die Gegner der "sozialen Gerechtigkeit".

Der Begriff "soziale Gerechtigkeit", wie er in diesem Zusammenhang verwendet wurde, überdeckt sich mit jenem der Solidarität und ist ein Versuch der Solidarität, sich einen Geltungsbereich in der Politik und im Recht zu schaffen. Wenn aber die Kritik der sozialen Gerechtigkeit recht hat, ist die Solidarität kein politischer Begriff und muss ausschliesslich im privaten Bereich gelten. Was die Rechtssphäre betrifft, ist der Einzelne ausschiesslich auf sich selbst verwiesen und hat keinen berechtigten An­

spruch auf die Hilfe anderer. Diese können natürlich helfen; aber nur auf der Basis einer privaten Entscheidung. Wenn wir das nicht akzeptieren wollen und auf der Behauptung beharren, dass es eine soziale Gerechtig­

keit gibt, dann fehlt uns jeder Massstab, um die Solidaritätspflicht zu be­

grenzen, wir machen jeden Menschen für den Wohlstand der ganzen Menschheit verantwortlich, und unsere Ansprüche auf seinen tätigen Einsatz reichen bis zur vollen Enteignung.

Diese Argumentation ist nicht nur von theoretischem Belang. Sie ist zugleich eine Reaktion einerseits auf eine gewisse Dritte-Welt-Ideologie und andererseits auf die Ausbreitung des sozialen Staates. Der Dritte-Welt-Ideologie ist es gelungen, in vielen Bereichen die Menschen der ent­

wickelten Länder in Verlegenheit zu bringen und ihrer Lebensform die Legitimationsbasis zu entziehen, indem jeder einzelne Mensch der rei­

chen Länder direkt und unmittelbar für die Rettung der Armen der Welt verantwortlich gemacht wurde. Der soziale Staat ist in gewisser Hinsicht der Staat der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit gewesen. Er hat das grosse Prinzip anerkannt, dass dem Notleidenden ein Recht auf Hilfe zukommt, auch im Falle, dass er nicht dazu imstande ist, eine Gegenlei­

stung zu erbringen. Dem sozialen Staat ist es aber nicht gelungen, die Grenzen dieses Prinzips eindeutig und klar zu ziehen. Es schien, dass je­

der von einer starken und einsatzbereiten gesellschaftlichen Gruppe ver­

tretene Anspruch an sich gerechtfertigt sei. Das Endergebnis war, dass einige Gruppen gefordert haben, nicht dabei unterstützt zu werden, eine Arbeit zu finden und befähigt zu werden, durch die eigene Leistung das

eigene Leben zu bestreiten, sondern jenseits des Marktes unterhalten zu werden. Angesichts solch überhöhter Forderungen bricht der soziale Staat zusammen, weil er nicht mehr die sozialen Ausgaben durch die Steuer zu finanzieren vermag und die Staatsschulden sehr bald ein Ni­

veau erreichen, das den Staat vor den Bankrott stellt. Philosophisch gese­

hen entsteht die Krise des sozialen Staates aus der Unfähigkeit, das Soli­

daritätsprinzip richtig abzugrenzen und auszulegen.

Müssen wir dann eingestehen, dass der soziale Staat vorbei ist und dass die Einführung des Solidaritätsprinzips in Politik und Recht ange­

sichts der harten Realität gescheitert ist? Es scheint mir, dass gerade die Einführung und die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips uns von einer solchen notwendigen Schlussfolgerung befreien kann.

Ein Beispiel kann unsere These besser veranschaulichen. Nehmen wir den Fall eines Menschen, der arbeitslos ist. Wenn wir davon überzeugt sind, dass jeder Mensch das Recht auf Arbeit hat, ohne dieses Recht wei­

ter zu bestimmen, dann sind wir verpflichtet, ihm vom Staat einen Ar­

beitsplatz anbieten zu lassen. Die allgemeinen Rechten mit positivem In­

halt entsprechenden Verpflichtungen fallen auf den Staat. Der Staat muss dann den Umfang der eigenen Tätigkeit erweitern und, direkt oder indi­

rekt, den Bereich des Marktes und der Privatinitiative verringern. Kaum nützt der Versuch, den Arbeitslosen eine Beschäftigung in Unternehmen zu finden, die privatrechtlich verwaltet werden, obwohl sie Staatseigen­

tum sind. Solche Firmen können im Prinzip nicht in Konkurs geraten und sind ein stetiges Hindernis für den Verlauf der Marktvorgänge und den Gang einer funktionierenden Marktwirtschaft. Auf die Dauer führt eine Politik, die solche Ansprüche gelten lässt, zur Sozialisierung aller Wirtschaftsbereiche.

Wie sieht dieselbe Lage aus, wenn wir das Subsidiaritätsprinzip einfüh­

ren? Das Subsidiaritätsprinzip sagt, dass keine Autorität oder Gemeinde einer höheren Ordnung sich in die Angelegenheiten einmischen soll, die dem Leben einer Gemeinde niedrigerer Ordnung angehören und die von ihr verwaltet werden können. Ein Interventionsrecht oder eine Interven­

tionspflicht besteht allerdings aber nur im Falle, dass die kleinere Ge­

meinde nicht imstande ist, einen Krisenzustand zu bewältigen. Der Ein­

griff trägt den Charakter einer Hilfeleistung, und dies heisst, dass die klei­

nere Gemeinde oder sonstige unterlegene Instanz die Hauptverantwor­

tung für die Handlung trägt. Dazu kommt der vorläufige Charakter des Eingriffs der höheren Instanz, die so lange dauern soll, bis die niedrigere

wieder fähig ist, die eigenen Verpflichtungen zu übernehmen. In dem so­

eben erwähnten Fall der Arbeitslosigkeit heisst dies, dass die erste Ver­

antwortung für die Erfüllung des Rechtes auf Arbeit dem Arbeitenden selbst zukommt. Er soll die Arbeit suchen, er trägt die Verantwortung, die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln und die Qualifizierung zu er­

werben, die es ihm erlaubt, eine nützliche Arbeitsleistung zu erbringen.

Es ist aber möglich, dass dies nicht genügt, um wirklich einen Arbeits­

platz zu finden. Es ist auch möglich, dass er allein unfähig ist, die notwen­

digen Fähigkeiten zu entwickeln. Dann braucht er die Hilfe seiner Fami­

lie, die ihn unterstützt, oder die Solidarität seiner Arbeitsgenossen. Diese Solidarität ist eine subsidiäre Solidarität, weil sie kaum nützen kann, wenn der tätige Einsatz des ersten Interessierten, und zwar des arbeitenden Menschen selbst, fehlt. Wenn diese erste Vorbedingung erfüllt ist, spielt diese Solidarität hingegen eine grosse Rolle, sowohl um die Qualifizie­

rung der Arbeit zu erhöhen und zu erweitern, als auch, um die damit zu­

sammenhängenden Kosten zu decken und um den arbeitssuchenden Men­

schen von den vorliegenden Arbeitschancen in Kenntnis zu setzen. Ein weiteres Niveau der Subsidiarität betrifft die Wirtschaftsgemeinschaft.

Die Entscheidung, eine Investition zu vollziehen, ist vorerst ökonomi­

scher Art. Ein Unternehmer darf sie nicht vollziehen, wenn die notwen­

digen Vorbedingungen fehlen. Sie ist aber zugleich ein moralischer Akt:

Die Bereitschaft, das Risiko anzunehmen, wird durch die menschliche Sympathie und das Bewusstsein der eigenen Mitverantwortung für das Schicksal anderer Menschen und der eigenen Gemeinde wesentlich mit-beeinflusst. Nur wenn wir all diese Instanzen aufgefordert haben, die eigene Verantwortung zu übernehmen, dürfen und sollen wir auch den Staat einbeziehen. Der Staat soll durch eine angemessene Geld- und Fi­

nanzpolitik die Vorbedingungen sichern, die die Investitionen möglich und rentabel machen. Durch die eigene Schul- und Arbeitspolitik soll der Staat den Bürgern dabei helfen, die notwendigen Kenntnisse zu erwerben und sich auch neu zu qualifizieren, falls eine technologische Revolution einen ganzen Wirtschaftsbereich so umwandelt, dass die dafür erworbe­

nen Qualifikationen völlig entwertet werden. In der Zwischenzeit tragen der Staat, der Einzelne und die verschiedenen Gemeinden, denen der Ein­

zelne angehört, in enger Zusammenarbeit die Verantwortung, ihm eine Lebensunterstützung zu geben. Dies geschieht häufig durch Arbeitslo­

senversicherungen, die teilweise vom Staat, teilweise vom Arbeitgeber und teilweise vom Arbeitnehmer bezahlt werden.

Das Subsidiaritätsprinzip erlaubt uns, klarer zu bestimmen, welche Verpflichtungen jedem gesellschaftlichen Kreis aus der Anerkennung eines Rechtes auf Arbeit erwachsen. Der Begriff "Subsidiarität" erlaubt uns, von "sozialer Gerechtigkeit" zu reden, ohne dass der Begriff so un­

klar definiert ist, dass er direkt in einen Gegensatz zu den Grundsätzen einer gerechten und funktionierenden wirtschaftlichen Ordnung tritt.

Die allgemeinen Rechte mit einem positiven Inhalt können nur durch die Zusammenarbeit vieler gesellschaftlicher Instanzen verwirklicht werden, die durch eine Politik gelenkt werden, die sich bemüht, die Solidarität in der Gesellschaft zu organisieren, statt sie durch die Aktion des Staates zu ersetzen.1

3. Ich hoffe, dass die vorausgehenden Erörterungen die praktische Be­

deutung des Subsidiaritätsprinzips als Ordnungsprinzip für die unerläss-liche Reform des sozialen Staates bewiesen haben. Der soziale Staat ist für unsere Gesellschaften ein grosser Fortschritt gewesen und hat breiten gesellschaftlichen Schichten die Möglichkeit eröffnet, sich von Elend und Furcht zu befreien und ein menschlicheres Leben zu führen. Ande­

rerseits ereignet sich in den letzten Jahren ein fragwürdiges Phänomen:

Die sozialen Ausgaben wachsen, aber die Zufriedenheit der durch diese Ausgaben bevorzugten Menschen wächst nicht oder nimmt sogar ab.

Warum? Zwei Hauptursachen sind zu erwähnen. Einige soziale Schich­

ten haben sich daran gewöhnt, von Sozialhilfe zu leben. Statt eine Hilfe zu sein, die die Menschen wieder dazu befähigt, autonom auf dem Markt zu wirken, wird die Sozialhilfe ein Mittel, ausserhalb des Marktes das eigene Leben zu bestreiten. Dem Menschen wird dadurch die Anstren­

gung erspart, sich mit der Wirklichkeit zu messen. Dadurch wird aber seine freie und autonome Entwicklung gelähmt. Die zweite Ursache des oben signalisierten Phänomens ist, dass viele Netze sozialer gegenseitiger Versicherungen, die früher bestanden haben, durch die Intervention des Staates ausser Kraft gesetzt werden. Bis vor wenigen Jahren war die Fa­

milie, und nicht nur die Kernfamilie, sondern auch die erweiterte Fami­

lie, die Hauptträgerin der Verpflichtung, für die jungen wie für die alten und sonstigen in Not geratenen Familienmitglieder zu sorgen. Jetzt ist dies nicht mehr der Fall. Die Netze der gesellschaftlichen Solidarität ha­

ben sich aufgelöst, und nur der Staat ist geblieben, um allen gerechten

1 Spieker 1986b.

oder auch ungerechten sozialen Ansprüchen Rechnung zu tragen. Die allgemeine gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung tragt einen Teil der Verantwortung, aber ein wichtiger Teil davon fällt den sozialen Poli­

tiken zu. Diese Politiken haben immer nur den Einzelnen als Partner für den Staat gewählt. Die Familien und die anderen gesellschaftlichen Gruppen sind kaum in Betracht gezogen worden, und dies hat wesent­

lich zu ihrer Abschwächung beigetragen. Es hat sich inzwischen heraus­

gestellt, dass staatliche Einrichtungen kaum imstande sind, menschlichen Bedürfnissen qualitativer Natur eine angemessene Befriedigung zu bie­

ten, und fast alle menschlichen Bedürfnisse sind qualitativer Natur. Der Alte will nicht nur ernährt und gepflegt werden. Er wünscht, dass durch die Art und Weise der Verpflegung ein menschlicher Kontakt aufgenom­

men wird, der der Beziehung einen menschlichen Charakter gibt. Dies ist in der Familie üblich, kommt aber nur schwer in einer bürokratischen Behandlungsform zustande. Das gesellschaftliche Solidaritätsnetz bietet zugleich auch ein Interesse für die Person, die sie vor der Depression und vor dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit des eigenen Daseins bewahrt.

Es muss hier hinzugefügt werden, dass ein empirisches Gesetz der Ver­

waltungswirtschaft sagt, das Geld werde um so besser und nützlicher ausgegeben, je näher der Verwalter beim zu befriedigenden Bedürfnis steht. Die Familie hat zwar einen berechtigten Anspruch, bei der Ver­

pflegung der Alten Hilfe zu bekommen, es nützt aber weder der Familie noch den Alten, dass ihr diese Verpflichtung völlig abgenommen wird.

Alle Versuche, den sozialen Staat zu reformieren, ohne ihn abzuschaf­

fen, müssen von der Voraussetzung ausgehen, dass bessere Dienstleistun­

gen mit abnehmenden Kosten erbracht werden müssen, und der Weg zu diesem Ziel scheint gerade durch die Mitbeteiligung der Familien und anderer interessierter gesellschaftlicher Gruppen zu gehen, d. h. über das Subsidiaritätsprinzip.

4. Wir haben bisher das Subsidiaritätsprinzip aus einem eher ungewöhn­

lichen Blickwinkel vorgestellt, und zwar jenem der realistischen Gestal­

tung eines sozialen Staates oder eines Staates der sozialen Gerechtigkeit.

Die Subsidiarität verhindert, dass der Staat überfordert ist und schliess­

lich an übertriebenen Ansprüchen zugrunde geht. In diesem Bereich vermittelt die Subsidiarität zwischen personaler Verantwortung und So­

lidarität und ermöglicht der Solidarität, die ihr gebührende Stelle in der Politik einzunehmen. Wir müssen aber gleichzeitig zumindest kurz auf

eine andere häufiger erwähnte Dimension der Subsidiarität hinweisen, die die erste vervollständigt. Diese ist die Verteidigung der Rechte des Einzelnen und der kleineren Gemeinden gegen unberechtigte Eingriffe übergeordneter Instanzen. In dieser Hinsicht hat die Subsidiarität die Funktion, die Autonomie der Gesellschaft gegen den Staat abzusichern.

Diese ist vielleicht die erste Form des Subsidiaritätsprinzips gewesen.

Diese ist vielleicht die erste Form des Subsidiaritätsprinzips gewesen.