• Keine Ergebnisse gefunden

Wenn einer der wichtigsten Aspekte des Subsidiaritätsprinzip mit der bekannten Formel "so viel Staat wie nötig, so wenig Staat wie möglich"

prägnant charakterisiert werden kann, dann stellt sich gleichzeitig für den Ethnologen die Frage, ob und inwieweit seine Disziplin einen sinn­

vollen Beitrag zu diesem Thema leisten kann. Diese Frage ist nicht ganz unberechtigt und zwar aus folgenden Motiven:

1) Der Subsidiaritätsbegriff mit seinen theoretischen und praktischen Implikationen ist ausschliesslich ein Erzeugnis der okzidentalen und speziell der christlichen Tradition. Es kann daher vermutet werden, dass er einen kulturspezifischen Charakter besitzt und dass er folglich in "fremden" Gesellschaften ausserhalb des westeuropäischen bzw.

nordamerikanischen Kontextes keine Entsprechung findet.

2) Der Subsidiaritätsbegriff - wie es auch die bereits zitierte Formel deutlich ausdrückt - setzt die Existenz des Staates und besonders des institutionellen Flächenstaates voraus. Die "klassische" Ethnologie -wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann - befasst sich aber in der Regel mit Gesellschaften, die mindestens dem Grundsatz nach triba! organisiert sind und die daher fast fraglos als vorstaatlich bzw. als nichtstaatlich definiert werden.

Die "Objekte" einer solchen Ethnologie sind also Gesellschaften, die auch als "segmentar" bzw. "akephal" bezeichnet wurden: Sie bestehen aus kleinen Gruppen (Clans, "lineages", Sippen usw.) die im politischen Bereich nicht in einen bürokratisierten und übergreifenden Zentralver­

band mit hierarchischer Ordnung eingebettet sind: Die einzelnen Seg­

mente sind eher autonome Einheiten, die einmal kooperieren und dann wieder rivalisieren. Auch die Autorität der einzelnen Clan- bzw.

"Iineage"-Führer beruht nicht so sehr auf institutioneller Herrschaft, sondern vielmehr auf dem Prestige, das dem "Häuptling" von der Ge­

meinschaft tagtäglich zugesprochen wird. Seine Stellung ist also - wie Vierkandt betont hat - vom Zusammenfallen seiner Absichten mit der allgemeinen Stimmung abhängig: will er andere Pfade einschlagen, so läuft er Gefahr, dass seine "Untertanen" ihm den Gehorsam versagen oder sogar davonlaufen.1

In segmentaren Gesellschaften fehlt auch das dynastische Prinzip voll­

kommen: Erblichkeit im politischen Bereich wenn es eine solche gibt -ist an die Bedingung gleicher Begabung gebunden. Die "big men" aus Melanesien bzw. die "Häuptlinge" segmentärer Sozialgebilde aus Afrika und Südamerika müssen, um sich ihre Führungspositionen zu erhalten, stets ihre ausserordentlichen Befähigungen, die sich im Handlungs­

system in kriegerischer Tapferkeit, Jagdgeschick, Schlichtung- und Rede­

kunst sowie vor allem wie im Falle zahlreicher Stämme Neuguineas -in verschwenderischer Grosszügigkeit konkretisieren, unter Beweis stel­

len. Segmentäre Gesellschaften sind also innerhalb der Gruppe (Clan,

"lineage", Sippe, Dorfgemeinschaft) durch das Prinzip der "generalisier­

ten" Reziprozität, die aus gegenseitiger Hilfswilligkeit wie etwa beim unentgeltlichen Leihen von Geräten und bei der Gastfreundschaft be­

steht, gekennzeichnet.2

Das Prinzip der "generalisierten" Reziprozität erinnert allerdings, wenn man die sozialethische Terminologie benutzt und falls dieser Ver­

gleich überhaupt zulässig ist, mehr an andere Formen der Solidarität als an diejenige der Subsidiarität.3 Diese zwei Argumente, die eigentlich für die Nichtbeteiligung der Ethnologie an der Subsidiaritätsdebatte spre­

chen, besitzen zweifelsohne eine gewisse Gültigkeit. Sie enthalten jedoch zugleich einige relevante Ungenauigkeiten und müssen daher aus folgen­

den Überlegungen revidiert werden.

1) Seit vielen Jahren hat sich die Ethnologie von der "small is beautiful"-Perspektive segmentärer Jäger- und Sammler-Gesellschaften distan­

ziert. Unser Fach befasst sich immer stärker mit "komplexen" Gesell­

schaften, die eben durch ihre Staatlichkeit charakterisiert sind. Orien­

talische Despotien in Asien, zentralistische Imperien in Mittel- und Südamerika sowie sakrale Königtümer in Afrika stellen lediglich

1 Vierkandt, 197.

2 Sahlins, 147 ff.; Vierkandt, 194.

3 Utz, 13 ff.; Sahlins, 147,

einige gute Beispiele für "Objekte" ethnologischer Forschung dar, die über höchst differenzierte politisch-bürokratische Strukturen verfü­

gen. Solche Gesellschaften stützen sich geradezu auf arbeitsteilige Verwaltungsstäbe, die den Kern der staatlichen Herrschaft bilden. In einem solchen Kontext ist es deshalb sinnvoll zu überprüfen, ob und inwieweit Formen der Subsidiarität bestehen.

2) Der Subsidiaritätsbegriff ist definitionsmassig durch einen relationa­

len Charakter geprägt, denn er impliziert das Reflektieren über die Beziehungen zwischen sozialen Aggregaten und zwar zwischen

"grossen" und "kleinen" Gruppen, d.h. zwischen übergreifenden Herrschaftsinstitutionen und lokalen Verbänden und Koalitionen.

Die ethnographischen Quellen sprechen nun sehr deutlich: Auch das totalitärste System, wie beispielsweise dasjenige der Inkas im vorkolum­

bianischen Peru, lässt ein Quantum an "Offenheit" zu, die sich in tole­

rierten oder gar anerkannten Arten formeller bzw. informeller Lokalau­

tonomien herauskristallisiert. In jeder staatlich organisierten Gesellschaft nehmen also die Zentralinstanzen - trotz ihrer totalisierenden, globali­

sierenden und homogenisierenden Tendenzen eine gewisse "subsidiäre"

Funktion ein. Subsidiarität ist freilich weder ein universales Prinzip, noch ein Merkmal der "conditio humana" und auch kein Grundbedürf­

nis. Alle diese Begriffe sind für den empirisch arbeitenden Ethnologen viel zu abstrakt, da sie in keinem konkreten Verhaltensmuster eine Ent­

sprechung finden. Was dagegen durch ethnographische Materialien fest­

gehalten werden kann, sind vermutlich die "funktionalen Äquivalenten"

zum okzidentalen Subsidiaritätsprinzip. Konkreter gesprochen: Die Menschen als Akteure und als Mitglieder "kleiner" Gruppen sind im Alltag stets dabei, über die vom Staat getroffenen Entscheidungen zu verhandeln. Mit Hilfe von formellen Verbänden, informellen Koalitio­

nen und zahlreichen Handlungsstrategien, die meistens aus dem eigenen, direkten bzw. mediatisierten Erfahrungsraum entspringen, akzeptieren, beanstanden und manipulieren die Akteure die staatlichen Bestimmun­

gen und Massnahmen. Durch diese im vorweltlich geprägten "local knowledge"4 verankerten Verhandlungen wird der Staat sozusagen alltäglich "subsidiarisiert".

4 Geertz, 167 ff.

Durch diese unterschiedlichen Verhandlungsinstrumente, die man auch als "the weapons of the weak"5 oder als "the power of the power-less"6 bezeichnen kann, versuchen die Akteure in je spezifischer Weise gerade den Zustand des "soviel Staat wie nötig, so wenig Staat wie mög­

lich" zu verwirklichen. Dem Ethnologen geht es nun darum, diese Stra­

tegien interpretierend zu rekonstruieren, wobei die Frage nach dem Sinngehalt im Hinblick auf die jeweilige rechtlich-politische "Sensibili­

tät" von zentraler Bedeutung ist. Vier Beispiele sollen den Blick des Eth­

nologen bezüglich der angeschnittenen Problematik verdeutlichen.

Inkaischer "Despotismus" und lokale Autonomie

Uber das polit-ökonomische System der Inkas herrscht im allgemeinen eine gewisse Verwirrung. Im Zuge der Diskussion um die spanische Er­

oberung und um die darauffolgende Kolonialherrschaft ist ein Bild des inkaischen Imperiums konstruiert worden, in dem das mächtigste An­

den-Reich vor der Entdeckung Amerikas als positive Bezugsgesellschaft präsentiert wird.

Die Inkas sind vor allem für die gegenwärtigen Peruaner geradezu der Inbegriff der eigenen glorreichen Vergangenheit, die durch die spanische Eroberung abrupt unterbrochen und zerstört wurde. Ab diesem Zeit­

punkt hat sich die Geschichte umgedreht, und zwar in die falsche Rich­

tung, so dass, wenn die Inkas die positive Bezugsgesellschaft verkörpern, die Spanier die negative darstellen. Dabei wird wohlgemerkt stets miss­

achtet, dass die Eroberer - genauso wie in Mexico - vermutlich niemals siegreich gewesen wären, wenn sie nicht auf die Komplizität und auf die offene Unterstützung zahlreicher von den Inkas unterworfener Völker­

schaften hätten rechnen können. Die Conquistadoren waren numerisch viel zu schwach und technologisch gar nicht so eindeutig überlegen, um ein so mächtiges Reich zu erschüttern und zu bezwingen. "La vision des vaincus"7, die als Grundlage für die national-populistische Geschichts­

konstruktion dient, lässt allerdings diese historischen "Details" beiseite und beruft sich vielmehr in nativistischer Nostalgie auf die prachtvolle vorkoloniale Epoche "als die Welt noch in Ordnung war". Dabei wird

5 Scott.

6 Havel.

7 Wachtel.

dementsprechend auch auf den beispielhaften Charakter der politischen Strukturen hingewiesen: Gerechte und grosszügige Herrscher, tapfere Krieger sowie treue und zufriedene Untertanen sind somit die üblichen Protagonisten dieser harmonischen Drehbücher.

Ohne die spanische Kolonialherrschaft rehabilitieren zu wollen, muss in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass das inkaische Impe­

rium - im Gegensatz zu den historischen Konstruktionen des national­

populistischen Diskurses - ein äusserst zentralistischer Staatsverband war, der nach der gegenwärtigen rechtlich-politischen "Sensibilität" westeu­

ropäischer Provenienz eine totalitäre Färbung besass. Es handelte sich um ein patrimonialistisches Reich, in dem ein grosser Teil des Bodens als Eigentum des Herrschers betrachtet wurde. Paradigmatisch war die da­

mit zusammenhängende bürokratische Organisation, die vor allem mit der strengen Kontrolle des gesamten Wirtschaftssektors und der entspre­

chenden Infrastrukturen beauftragt war.8 Das Inka-Reich ist daher mehr­

mals mit den sozialistischen Staaten verglichen worden;9 diese Gegenüber­

stellung ist zweifelsohne anachronistisch und unzutreffend, obwohl sie eine gewisse Faszination besitzt. Jedenfalls war das Anden-Imperium eine marktlose Gesellschaft, die den freien Tausch von Gütern nur in wenigen peripheren Bereichen zuiiess,10 so dass es noch heute aJs kJassisches Bei­

spiel für ein Redistributionssystem gilt." Im Inka-Reich fungierte also der Staat, wie John Murra zutreffend sagt, als Markt: Der Staat und nicht der Markt übernahm die Produkte einer Bevölkerungsgruppe, die dann von der Zentralgewalt mit denjenigen einer anderen permutiert wurden.12

Selbstverständlich wurde ein Teil der Produktion für die Versorgung des Hofes, des Verwaltungsstabes und des Militärs zurückbehalten. Da die Zentralverwaltung praktisch alle wirtschaftlichen Transaktionen, die die Umverteilung der produzierten Güter im ganzen Gebiet des Reiches ga­

rantierten, steuerte, gab es zwischen den verschiedenen Bevölkerungstei­

len grundsätzlich keine direkten ökonomischen Beziehungen.

All dies klingt im ersten Augenblick etwas schwerfällig und sinnlos.

Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass das Inka-Imperium auf Grund der spezifischen geographischen Lage durch ein System unter­

8 Metraux, 84.

9 Baudin, Karsten.

15 Mayer/Mintz/Skinner, 13 ff.

11 Polanyi 1978; Polanyi 1979.

12 Murra, 18.

schiedlicher, vertikal gegliederter, ökologischer Stufen charakterisiert war, das zwischen Küste ("Costa") und Hochland ("Sierra") einen maxi­

malen Höhenunterschied von über 4000 m betrug.13 Murra, der sich mit diesem Problem intensiv befasst hat, konnte eine sehr komplexe Typolo­

gie der ökologischen Stufen entwickeln. Im Rahmen dieses Beitrages ge­

nügt es - etwas vereinfachend - die drei wichtigsten Typen zu erwähnen:

- Die Stufe der ucosta"y in der vor allem Baumwolle, Mais und "Wanu"

produziert bzw. gesammelt wurde;

- die Stufe der "montana" am östlichen Hang der Anden, wo man hauptsächlich Holz und Coca fand und

- die Stufe der "Sierra", die vornehmlich die Region der Viehzucht und des Knollenanbaus war.14

In einer gegebenen Stufe, die in der Regel von einer multiethnischen und sozial differenzierten Gesellschaft bewohnt war, wurden also Güter pro­

duziert, die in den höheren bzw. niedrigeren Ebenen nicht auffindbar waren. In der Stufe besass die ansässige Bevölkerung sozusagen ein öko­

logisch bedingtes Monopol über die angebauten und hergestellten Er­

zeugnisse. Der springende Punkt ist nun, dass die notwendigen Wirt­

schaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen ökologischen Stufen auf Grund der geographischen Bedingungen und der ungewöhnlichen Ausdehnung des inkaischen Territoriums - wie die meisten Autoren überzeugend nachweisen - lediglich durch die Existenz eines "starken"

Staates garantiert waren, der seinerseits nicht nur das Friedensgebiet gewährleistete, sondern auch die Produktionsverteilung monopolisierte sowie die Verkehrswege und Infrastrukturen unter strenger Kontrolle behielt.15 Berühmt sind in diesem Zusammenhang sowohl das erstaunlich gut ausgebaute imperiale Strassennetz als auch die von den lokalen Ge­

meinschaften betreuten "tambos", die mit den Karawansereien des Vor­

deren und Mittleren Ostens vergleichbar sind.16

Das Inka-Reich, um wiederum eine gelungene Formulierung von John Murra zu übernehmen, war also stets darauf bedacht, die vertikale Kontrolle von möglichst vielen ökologischen Stufen zu verwirklichen.17

13 Murra, 31 ff.

14 Murra, 43.

" Murra, 70 ff.

16 Metraux, 78.

'7 Murra, 31.

Dies scheint ein altbewährtes Modell sämtlicher Anden-Gesellschaften zu sein, denn auch die vorinkaischen Reiche haben auf die gleichen Wirt-schaftspraktiken zurückgegriffen;18 auch die kolonialen und postkolo­

nialen "Haciendas" haben in modifizierter Form das Prinzip der Kon­

trolle mehrerer ökologischer Stufen übernommen. Die Besonderheit des Inka-Imperiums bestand allerdings darin, dass kein anderer vorkolonia­

ler Staatsverband mit der Verwaltung eines so grossen Gebiets konfron­

tiert war.

Um die vertikale Kontrolle der ökologischen Stufen und das damit verbundene Funktionieren des komplizierten Redistributionssystems tatsächlich zu garantieren, war der Inka-Staat auf eine effiziente, wenn auch unbeugsame Bürokratie angewiesen. In der Tat stellt das inkaische Beamtentum wie kaum ein anderes in der menschlichen Geschichte das Paradigma bürokratischer Herrschaft im Sinne Max Webers dar. Ob­

wohl die Beamten, in einem straffen hierarchischen Rahmen eingeglie­

dert, in der Regel keine spezialisierten Fachmänner waren,19 verrichteten sie - soweit die Quellen - ihre vielfältige Tätigkeit kompetent und loyal.

Selbstverständlich gibt es auch hier einen Haken, denn die inkaische Bürokratie war durch eine "doppelte Schiene" charakterisiert, die uns et­

was "totalitaristisch" dünkt. Neben dem erwähnten Verwaltungsstab gab es eine Gruppe von Funktionären, die dem Herrscher direkt unterstellt waren und die als parallele Kontrollinstanz des Beamtenapparats fun­

gierte.20 Von öffentlichen Amtsinhabern verübte Delikte gegen den Staat oder gegen den Inka als Patrimonialherr wurden meistens mit dem Tod geahndet.21

Bisher wurde absichtlich der Eindruck erweckt, dass die Inka-Monar­

chie einen deutlich zentralistischen und absolutistischen Charakter besass; dies könnte noch bekräftigt werden, wenn man an die Umsied­

lungspolitik denkt, die aus Sicherheitsgründen zur Zwangsverschlep­

pung von ganzen Völkerschaften vom Zentrum in die Peripherie und umgekehrt führte.22

Gleichzeitig muss man nun diesen Standpunkt etwas revidieren. Para­

doxerweise liess der "despotische" Inka-Staat grössere Freiräume für die

18 Murra, 32 ff.

" Meiraux, 89.

:: Meiraux, 89.

:I Meiraux, 89.

- Metraux, 90 f.

Lokalautonomien als die lässige und daher weniger kontrollierende Ko­

lonialherrschaft. Zweifelsohne war auch das Inka-Reich das Erzeugnis imperialistischer Expansion und Eroberung, aber es gelang ihm - wie Metraux feststellt -, den "Despotismus" der Zentralgewalt mit der Tole­

ranz gegenüber den vorgegebenen politischen Strukturen und Sozialord­

nungen der unterworfenen Gesellschaften zu kombinieren. Die zentrali­

sierenden Tendenzen wurden durch die Praxis der indirekten Herrschaft ausgeglichen.23 Zu diesem Zustand leistete vor allem eine Institution einen wesentlichen Beitrag: Es handelt sich dabei um das "ayllu" das Vic­

tor von Hagen eine Erdzelle genannt hat.24 Wörtlich heisst "ayllu"

eigentlich "Stamm", "Genealogie", "Geschlecht", "Familie";25 eine ge­

nauere Definition könnte folgendermassen lauten: Das "ayllu" ist eine ethnisch homogene, patrilinear organisierte Agrargemeinschaft, deren

"Wir-Gefühl" der Vorstellung entspringt, gemeinsame reelle bzw. fiktive Vorfahren zu besitzen. Wichtig ist noch zu erwähnen, dass die Lände­

reien, die nicht dem inkaischen Patrimonialstaat gehörten, gemeinsames Eigentum des "ayllu" waren. Von Hagen hat diese Agrargemeinschaft mit einer "Holdinggesellschaft" verglichen, die ihrerseits die Ackerflä­

chen unter kleinere Verwandtschaftsgruppen weiter- und periodisch nach Bedarf neu verteilte.26 Jede dieser Untergruppen hatte schliesslich den Rechtsanspruch auf die Hilfe der anderen "ayllu"-Mitglieder bei der Kultivierung, Bewässerung und Verbesserung des Bodens, so dass es meistens zu kollektivartigen Formen der Landarbeit kam.27

Die "ayllus" als autonome Institutionen waren zweifelsohne präinka-isch und es gab gewiss zahlreiche Versionen, die voneinander abwichen;

wie dem auch sei, der Inka-Staat hat trotz Zentralismus und Absolutis­

mus die interne politische, soziale, religiöse und wirtschaftliche Ord­

nung dieser Agrargemeinschaften kaum angetastet. Die "ayllus" wurden dagegen eher, so wie sie waren, nach dem Muster der "encapsulation"28

ins Imperium inkorporiert.

Die Inka-Bürokratie griff demzufolge nicht ins innere Leben der "ayl­

lus" ein, sie sammelte jedoch aus den Agrargemeinschaften die für das Funktionieren des Redistributionssystems notwendigen Güter und

kon-23 Metraux, 72.

trollierte, dass die Mitglieder der "ayllus" ihre obligatorische Arbeit in den Ländereien des Staates verrichteten.29 Dafür organisierte der Staat sowohl die Konstruktion und die Erhaltung der Verkehrswege sowie der komplexen und kostspieligen Bewässerungsanlagen als auch die materi­

elle Hilfe für die von Missernten und Naturkatastrophen betroffenen

"ayllus".30 Das Redistributionssystem war auch dazu da, die notleiden­

den Agrargemeinschaften zu versorgen.31

Es wäre nun falsch zu meinen, die Beziehungen zwischen Patrimo-nialstaat und autonomen Agrargemeinschaften verliefen automatisch oder reibungslos. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Reich wie das Inka-Imperium seine Herrschaftsansprüche stets auszudehnen ver­

suchte; es ist aber auch ein Faktum, dass sich die "ayllus" durchgehend mit allen Mitteln solchen Expansionstendenzen widersetzten. Zwischen der "einkapselnden" Struktur und den "eingekapselten" Gemeinschaften bestanden also ständig Spannungen, die in der Regel von Vermittlerrol­

len gemässigt wurden. Es galt auch für das Inka-Reich die von Bailey in seinem klassischen Werk "Stratagems and Spoils" gemachte Feststel­

lung:

"Middlemen, in the Situation of encapsulation, are roles which come into existence to bridge a gap in communication between the larger and smaller structures."12

Im Inka-Imperium wurde diese Rolle vom "curaca" d.h. dem lokalen Häuptling, der von mehreren "ayllus" als Autoritätsperson anerkannt wurde, übernommen.33 Wie es sich für jeden Vermittler gehört, war der

"curaca" in welcher Form auch immer sowohl in der "einkapselnden"

Organisation als auch in den "eingekapselten" Gemeinschaften inte­

griert. Baileys Charakterisierung der Aktivitäten von Vermittlern passt in hervorragender Weise auch auf die "curacas":

"The essence of the role is to keep a foot in both camps. His interest is to keep going a process of bargaining: either in what he does or in what he says, or both, he must persuade the two sides that this is a S i­

tuation in which compromise can be made. He must convince them

19 Metraux, 84.

Metraux, 81.

51 Murra, 15 ff.

32 Bailey, 167.

33 Meiraux, 87; Murra, 6 ff.

that they are not engaged in pure conflict, but that they have interests in common and that if they keep their cyes upon these interests, both can, to some degree, emerge from the context as winners. In other words, he has to demonstrate that this is a non-zero-sum game."*4

Der "curaca" als Vermittler verfügte allerdings über eine "zweifache" Le­

gitimitätsgeltung, denn er war, wie bereits gesagt, eine Autoritätsperson im politischen Gefüge der jeweiligen "ayllus" und zugleich besass er eine an­

erkannte formelle Position in der Hierarchie des inkaischen Verwaltungs­

stabes, so dass er sowohl von den "einkapselnden" Strukturen als auch von den "eingekapselten" Gemeinschaften als für die Verhandlungen zwischen

"grossen" und "kleinen" Gruppen berufen betrachtet wurde. Auf der Stufe der "curacas" spielten sich also beispielsweise die Verhandlungen um die reziproken Forderungen und Angebote wie etwa die Abgaben und die Ar­

beitsleistungen der "ayllus" bzw. die Hilfeleistungen des Staates für not­

leidende Agrargemeinschaften ab. In diesen erfolgreich durchgeführten und immer neu durchdachten Vermittlungs- und Verhandlungsaufgaben lag eigentlich das Geheimnis für das von Metraux hervorgehobene flies­

sende Gleichgewicht zwischen Zentralgewalt und lokaler Autonomie, das bekanntlich jahrhundertelang das Inka-Imperium prägte.

Das Inka-Reich war gewiss kein irdisches Paradies, so wie der natio­

nal-populistische Diskurs es uns vorstellt; es handelte sich allerdings um einen zentralistischen, ja sogar absolutistischen Staatsverband, der para­

doxerweise eine politische "Sensibilität" für "Partikularität" (nicht für

"Partikularismus") besass. Gerade diese "Sensibilität" fehlte aber den als wirtschaftlich und administrativ "freizügiger" geltenden Spaniern voll­

kommen und die Konsequenzen dieses mangelnden Einfühlungsvermö­

gen sind noch heute spürbar.

Zentralgewalt und "Dorfgemeinschaft" in Indien

"Pancayat" ist in Indien ein Wort mit legendärem Beigeschmack. Verant­

wortlich dafür sind eigentlich die britischen Kolonialverwalter, die sich dezidiert für die Praxis des "indirect rule" ausgesprochen hatten.35 In der nachkolonialen Epoche ist der Begriff von indischen, im Westen ausge­

bildeten Intellektuellen und Politologen neu aufgegriffen worden, um

54 Bailcy, 167.

" Dumont, 218.

die "demokratischen" Wurzeln des traditionellen Indiens, die laut dieser Argumentation von den Engländern zerstört wurden, nachzuweisen und zu betonen.16 Hiermit sind politische Mythen und Legenden entstanden,

die "demokratischen" Wurzeln des traditionellen Indiens, die laut dieser Argumentation von den Engländern zerstört wurden, nachzuweisen und zu betonen.16 Hiermit sind politische Mythen und Legenden entstanden,