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Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend

III. Partizipation und Subsidiarität

Was folgt aus den hinsichtlich der jeweiligen Vorstellung von Freiheit an­

gestellten Überlegungen bzw. wie ist unter Zugrundelegung der je ge­

machten Voraussetzungen ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen zu denken? Der Tugenddiskurs und die ihm zuzurechnende Vorstellungs­

welt des klassischen Republikamsmus und der Zivilgesellschaft beruhen auf der Idee, dass sich die Bürger vor allem durch Tugend im Sinne einer freiwilligen Intendierung des Gemeinwohls von blossen Untertanen un­

terscheiden. Sie sind bereit, ihre jeweiligen Privatinteressen hintanzustel­

len, wenn es das Wohl des Gemeinwesens erfordert, denn sie sehen in ihm weniger eine Ressource ihrer Interessenverfolgung als vielmehr den Ort, an dem sie sich qua Partizipation als Freie und Gleiche erfahren. So ist das politische Gemeinwesen auch und vor allem der Ort ihrer Selbst­

verwirklichung - während Untertanen den Staat als eine Instanz erfah­

ren, die sie zu etwas zwingt, was sie aus freien Stücken nie und nimmer getan hätten. Steht dieser überhaupt zu ihrer Selbstverwirklichung in einer Beziehung, dann in einer der Beschränkung und Beschneidung.

Freiheit wird hier also nicht als politische Partizipation begriffen, son­

dern besteht wesentlich im Schutz vor willkürlichen und unkalkulierten Eingriffen des Staates oder auch anderer in die Sphären ihrer privaten Lebensgestaltung; sie ist gleichbedeutend mit ihrer persönlichen Sekuri-tät. Sekurität hebt ab auf Regelungen und Garantien durch zentralisierte Apparate des Staates, während Partizipation und die Bereitschaft zur Übernahme von Subsidiaritätsverpflichtungen Hand in Hand gehen.

Die Differenzen zwischen beiden Konzeptionen sind bedeutsam vor allem bezüglich der Fähigkeit der jeweiligen Diskurse zur Wahrnehmung und Bearbeitung von Problemen, die entweder aus der diesen Gesell­

schaften eigenen Ökonomischen Dynamik erwachsen oder aber zur Selbstreproduktion politischer Ordnungen unter der Bedingung einer zunehmenden Erosion jener Werte und Einstellungen führen, die ihnen

unverzichtbar sind. Das erste Problemfeld soll das sozio-ökonomische heissen, während das zweite als sozio-moraliscb bezeichnet wird. Das er­

ste ist fundiert auf der Kategorie des Interesses und zielt auf eine Form gesellschaftlicher Synthesis, die als liberal bezeichnet werden kann, das zweite dagegen ist begründet auf der Kategorie der Tugend, die als repu­

blikanisch oder zivilgesellschaftlich bezeichnet werden soll. Was sie un­

terscheidet, ist kein antithetischer Gegensatz, sondern eine unterschied­

lich nuancierte Wahrnehmung ein und desselben Problemfeldes, in dem sozio-ökonomische und sozio-moralische Veränderungen aufs engste miteinander verbunden sind.

Pointiert wird man sagen können, dass das als liberal bezeichnete Ordnungsmodell den sozio-moralischen Problemkomplex als eine ver­

nachlässigbare Grösse behandelt und die hieraus resultierenden Pro­

bleme entweder dem Markt als Regulierungsmechanismus der sozio-ökonomischen Sphäre überweist oder auf den Staat als Instanz der Handlungsermöglichung und Handlungsbegrenzung im politischen Be­

reich venraut. Demgemass auch stellt sich im liberalen Ordnungsmodell die Frage nach Bürgertugend und Subsidiarität nicht, zumindest nicht systematisch, sondern allenfalls kontingent - dann nämlich, wenn die für das Funktionieren von Markt und Verfassung erforderlichen Werte und Einstellungen nicht oder doch nur unzureichend vorhanden sind. Ganz anders ist dies im republikanischen Modell politischer Ordnung, das nicht nur vom Versagen des Marktes oder der institutionellen Mechanis­

men der Verfassung eine Gefährdung der Demokratie befürchtet, son­

dern daneben einen dritten Aspekt politischer Ordnung, eben die sozio-moralischen Voraussetzungen demokratisch verfasster Gemeinwesen, im Auge behält. Das republikanisch-zivilgesellschaftliche Ordnungsmodell unterscheidet sich vom liberal-individualistischen darin, dass es neben den institutionellen Fragen auch die stets prekär bleibenden, weil eben nicht institutionalisierbaren sozio-moralischen Voraussetzungen der Ordnung thematisiert.

Dem Verzicht des liberalen Modells, die sozio-moralischen Vorausset­

zungen seines Funktionierens zu reflektieren, liegt die Vorstellung einer exakten Separierbarkeit von Staat und Gesellschaft und dazu komple­

mentär von Legalität und MoraJitat zugrunde. Sind im republikanisch-zivilgesellschaftlichen Modell Bürgertugend und Subsidiaritätsforderun-gen das sozio-moralische Bindeglied beider Bereiche, so unterstellt das liberale Modell, dass es eines solchen Bindegliedes nicht bedürfe, ja mehr

noch, dass seine Herausstellung letztlich freiheitsgefährdende Konse­

quenzen habe. Aus dieser Sicht ist jedwede Insistenz auf politischer Tu­

gend und Subsidiarität, wenn sie sich nicht von vornherein auf die Harmlosigkeit unverbindlicher Appelle beschränkt, ein Angriff auf die fundamentalen Voraussetzungen freiheitlicher Ordnung. Dabei ist die der Ordnung attribuierte Freiheitlichkeit zentral bestimmt durch die Möglichkeit einer trennscharfen Separation von Staat und Gesellschaft, Legalität und Moralität. Beiden Trennungen nämlich wird die Leistung zugeschrieben, Freiheit im Sinne persönlicher Sekurität gegen staatliche Willkür und autoritär zugemutete Verhaltenserwartungen zu garantie­

ren. Zu diesem Zweck wird unter dem Titel Legalität nur der Bereich der Handlungen normiert, während die Gesinnungen politischem Zugriff entzogen bleiben und allein den Forderungen einer politisch unverfüg­

baren Moralität unterliegen. Jede Auflösung dieser Separierung, die Politisierung der Moral ebenso wie die Moralisierung der Politik, ist dem liberalen Modell verdächtig, und natürlich steht die Bürgertugend, ver­

standen als eine, private und politische Sphäre verbindende, Verhaltens­

zumutung, unter solchem Verdacht.

Was hingegen diese Separierung von Moralität und Legalität wie die Trennung von Staat und Gesellschaft aus republikanisch-zivilgesell­

schaftlicher Sicht so problematisch macht, ist nicht die Trennung als sol­

che, sondern die darin stillschweigend eingeschlossene Behauptung, dass diese Separation erschöpfend sei und es keine Zwischenräume bzw. Dif­

fusionszonen gebe, die entweder keinem von beidem zugeschlagen wer­

den könnten oder aber beiden zugleich zugerechnet werden müssten, denn genau auf diese im liberalen Politikmodell wegdefinierten Zwi­

schenräume und Diffusionszonen bezieht sich Bürgertugend und Subsi-diaritätszumutung. Ein kurzer Blick auf die Neokorporatismus- und Po­

litikverflechtungsdebatte, wie sie seit einigen Jahren in der Politikwissen­

schaft geführt wird, aber auch auf die Diskussion der Verfassungsrecht­

ler über die Problematik gesellschaftlicher Steuerung vermittelst verfas­

sungsrechtlicher Bestimmungen zeigt, wie fragwürdig die Unterstellung einer präzisen Trennbarkeit von Staat und Gesellschaft geworden ist."

Hier erweist sich das scheinbar antiquierte, weil, so die These der Evolu­

tionstheoretiker, den alteuropäischen Verhältnissen geschuldete und

11 Vgl. Scharpf, Handlungsfähigkeit des Staates, 93-115, sowie Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 159 ff.

durch die sozio-ökonomische Entwicklung langst' überhplte Konzept einer auf Bürgertugend fundierten Zivilgesellschaft als erheblich an-schluss- und aufnahmefähiger als das auf einer präzisen Separierbarkeit von Staat und Gesellschaft begründete liberal-individualistische Modell.

Der Debatte um die Subsidiarität wird hierbei eine wachsende Bedeu­

tung zukommen.

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