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Transfermöglichkeiten

Im Dokument Lehrkräftebildung neu gedacht (Seite 181-186)

Annette Marohn & Yvonne Rath

4. Transfermöglichkeiten

4.1 Stolpersteine thematisieren

Unser Lehr-Lern-Labor hat uns vor Augen geführt, dass erfolgreiches Handeln der Studierenden in universitären Praxisphasen nicht allein von der Fähigkeit abhängt, erworbenes fachdidaktisches Wissen adäquat in Unterrichtsplanung und -handlung umzusetzen; es wird wesentlich mitbestimmt von der Fähigkeit, Situationen zu meis-tern, die von der ursprünglichen Planung abweichen. Fachdidaktische Seminare an anderen Universitäten, die Studierende auf Praxisphasen vorbereiten oder diese be-gleiten, können diese Situationen gezielt thematisieren.

Eine solche Thematisierung ist unabhängig vom thematischen Rahmen „Schüler-vorstellungen“ sowie den hier erwähnten Videos. Ausgangspunkt der Reflexion kön-nen Textvignetten, schriftliche Skizzen einer Unterrichtssituation, Videos aus eigekön-nen Forschungsprojekten oder Praxisberichte von Studierenden sein. Die in Tabelle 1 aufgelisteten Stolpersteine sowie die in der Online-Ergänzung genannten Ursachen können helfen, sich auf diejenigen Situationen zu konzentrieren, die bei Praxis-An-fängern besonders häufig beobachtet werden konnten. Ziel sollte es sein, potentielle Auslöser von problematischen Situationen zu erkennen, um diese bei zukünftigen Unterrichtsplanungen „präventiv“ zu berücksichtigen.

4.2 Video-Reflexionen gestalten

Im Rahmen des Lehr-Lern-Labors wurde untersucht, in welcher Weise sich Video-Reflexionen anregen und strukturieren lassen. Daraus ergeben sich zwei Empfehlun-gen: die Komplexität der Reflexionen schrittweise zu steigern (vgl. Online-Ergänzung, Tab. 4 und Abb. 2) sowie ein immer wiederkehrendes Reflexionsmuster zu etablie-ren. Ziel ist es, über eine sich wiederholende „reflection on action“ (Schön, 1983) ein Schema zu verinnerlichen, das im Idealfall auch in der späteren Unterrichtshandlung Reflexionen initiieren und strukturieren kann („reflection in action“). In Bezug auf

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die Analyse von Stolpersteinsituationen hat sich das Reflexionsschema sowie das zu-gehörige Baumdiagramm in Abbildung 1 bewährt. Dies bestätigen Einzelinterviews mit Studierenden am Ende der Lehrveranstaltung: Also, das [Reflexionsschema] fand ich sehr gut, weil man da auch wirklich nochmal auf diese Kernprobleme zu sprechen kommt. […] Und da hilft so ein Schema, weil man sonst nicht so ganz weiß, wie soll man da rein gehen?

4.3 Ein eigenes Lehr-Lern-Labor planen und reflektieren

Der Begriff des Lehr-Lern-Labors lässt Dozierende manchmal zurückschrecken: Er wird mit der Vorstellung eines besonderen Raumes mit spezieller Ausstattung in Ver-bindung gebracht sowie mit einem hohen Betreuungsaufwand. Das hier vorgestellte Konzept zeigt, dass ein Lehr-Lern-Labor auch in einem „normalen“ Seminarraum realisiert werden kann. Zudem müssen Studierende nicht zwingend eine eigene Unterrichtsstunde planen und erproben; sie können bereits vorhandene Materialien einsetzen oder sich auf die Beobachtung von Unterricht beschränken.

Vor dem Hintergrund der breiten Varianz möglicher Lehr-Lern-Labore möchte dieser Beitrag dazu anregen, eigene Formate zu entwickeln. Um die Planung einer solchen Veranstaltung zu unterstützen, wurde in Kooperation mit weiteren Fachdi-daktiken der Universität Münster ein Modell konzipiert (Abb. 2), das die (Weiter-) Entwicklung von sechs Lehr-Lern-Labor-Formaten unterstützt hat. Das Modell verdeutlicht, dass sich Anforderung und Unterstützung in einem Lehr-Lern-Labor die Waage halten sollten, um Überforderungen zu vermeiden. Anforderungen und Abb. 1: Reflexionsschema (angelehnt an Santagata & Guarino, 2011) und Baumdiagramm zur

Dokumentation der Reflexion

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„Oh Gott, was mach’ ich jetzt?“

Unterstützungsmaßnahmen können dabei wie auf einem „Schieberegler“ gezielt ein-gestellt werden.

Inhaltliche Unterstützung kann z. B. darin bestehen, dass die Studierenden in ihrer Planung von Experten begleitet werden. Strukturell entlastend wirkt sich aus, wenn Studierende mit nur wenigen Lernenden interagieren, in einem vertrauten Setting arbeiten (z. B. in einem bekannten Raum oder mit einer bereits vertrauten Schüler-gruppe) oder wenn die eingeladene Schülergruppe eine geringe Leistungsheterogeni-tät aufweist.

Das Modell in Abbildung 2 bietet zudem die Chance, ein Lehr-Lern-Labor an-hand der Schieberegler gemeinsam mit den Studierenden zu reflektieren und Anfor-derungen eventuell „nachzujustieren“. Unsere Reflexionen haben z. B. gezeigt, dass die Planung der Unterrichtsstunden in Partnerteams als komplexitätssteigernd empfun-den wurde: Ich finde, in der Durchführung macht es das gar nicht unbedingt einfacher, weil wir selber gemerkt haben, dass man sich manchmal so ein bisschen in die Quere kommt. Als unterstützend nennen dagegen alle Studierenden die Vorbereitung durch die Unterrichtsvideos: Ohne die Videos hätte man wahrscheinlich nicht so schnell eine Vorstellung davon gehabt, wie so eine Stunde aufgebaut werden muss. […] Ohne die Videos wäre das viel, viel schwieriger gewesen.

5. Fazit

Die gezielte Reflexion von Stolpersteinen im Lehrerhandeln hat sich als fruchtbare Er-gänzung der chemiedidaktischen Lehrerbildung an der Universität Münster erwiesen.

Dies belegen quantitative Analysen im Prä-Post-Design: die Selbstwirksamkeitser-wartungen der Studierenden in Bezug auf den Umgang mit unerwarteten Situationen stiegen signifikant bei starkem Effekt; gleiches gilt für die Fähigkeit, Ursachen von Abb. 2: Komplexität eines Lehr-Lern-Labors planen und reflektieren (Marohn et al., 2020)

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Stolpersteinen anhand von Videos zu identifizieren. Auffällig war zudem, dass die Unterrichtsplanungen der Studierenden durch die Antizipation möglicher Stolper-steine differenzierter wurden und im Vergleich zu früheren Planungen Alternativ-szenarien berücksichtigten.

Im Rahmen von Einzelinterviews im Anschluss an die Lehrveranstaltung betonten die Studierenden vor allem das Gefühl von Sicherheit, das sie durch die Auseinander-setzung mit Stolpersteinen im Lehrerhandeln gewonnen haben – auch im Hinblick auf das nachfolgende Praxissemester. Ein Studierender bringt es anschaulich auf den Punkt: So haben wir sie [die Stolpersteine] auch in die Planung mit reingenommen. Was wir machen können, damit das gar nicht erst passiert. Oder wenn es dann passiert, dann ist man ja schon ein bisschen sicherer und steht nicht vorne und fängt an zu zittern: Oh Gott, was mach‘ ich jetzt?

Das Projekt wurde im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.

Literatur

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„Oh Gott, was mach’ ich jetzt?“

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Zusatzmaterial: Unterrichtssituationen

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