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Ein Beispiel anhand von Inquiry into Radioactivity für den Einsatz in Gymnasien

Im Dokument Lehrkräftebildung neu gedacht (Seite 155-160)

Michael M. Hull & Andy Johnson

In der fachdidaktischen Forschung werden neue Unterrichtskonzepte in der Regel für eine bestimmte Gruppe von Lernenden entwickelt und erprobt. Obwohl über verschie-dene Altersstufen hinweg ähnliche Schwierigkeiten beim Lernen eines bestimmten The-mas auftreten können, differiert das Vorwissen zum Teil sehr stark. Dementsprechend werden Zielsetzungen und Anforderungen der Unterrichtskonzepte an die jeweilige Lerngruppe angepasst. Möchten Lehrkräfte empirisch erprobte Unterrichtskonzepte anwenden, müssen diese in vielen Fällen erst entsprechend der jeweiligen Gegeben-heiten adaptiert werden. Bildungswissenschaftliche Erkenntnisse (z. B. Debarger et al., 2017; Sawyer, 2004; Schrittesser, 2013) legen nahe, dass erfahrene Lehrpersonen die Fähigkeit entwickelt haben, Lernschwierigkeiten wahrzunehmen, was es ihnen ermög-licht neue Unterrichtskonzepte flexibel an die Bedürfnisse ihrer Lernende anzupassen.

Für angehende Lehrkräfte stellt dies jedoch eine besondere Herausforderung dar. Um diese zu ermutigen, trotzdem in Zukunft auf empirisch erprobte Unterrichtskonzepte zurückzugreifen, wurde ein Vertiefungsseminar entwickelt, welches zweimal an der Universität Wien gehalten wurde. Das Ziel des Vertiefungsseminars war es, Studierende des gymnasialen Lehramts dazu zu befähigen, den Lehrgang ‚Inquiry into Radioacti-vity (IiR)‘ für ihre eigene Unterrichtsplanung zu adaptieren. IiR ist ein Lehrgang zur Radioaktivität, der für Studentinnen und Studenten mit nichtnaturwissenschaftlichem Schwerpunkt an einer amerikanischen Universität entwickelt wurde. Die Studierenden des Vertiefungsseminars müssen daher einerseits die Materialien auf Deutsch überset-zen und andererseits kritisch hinterfragen, welche Teile des Konzepts im Unterricht ver-wendet werden können, da in der gymnasialen Oberstufe wesentlich weniger Zeit für das Thema Radioaktivität bleibt als an der Universität. Anhand dieses Beispiels sollen die Lehramtsstudierende die Fähigkeit erlernen und vertiefen, ein neues Unterricht-konzept an die Bedürfnisse ihres Unterrichts zu adaptieren und gleichzeitig von der Tiefenstruktur und dem Inhalt des Unterrichtskonzepts zu profitieren.

1. Inquiry into Radioactivity

Forschung zum Lernen der Themen Kernphysik und Strahlung zeigt wesentliche Un-terschiede zwischen dem Denken der Lernenden und den Zielen des traditionellem Unterrichts auf (z. B., Eijkelhof, 1990; Prather & Harrington, 2001; Riesch & Westphal,

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1975). Zum Beispiel neigen Lernende dazu, Strahlung Eigenschaften einer Substanz zuzuschreiben. Sie stellen sich z. B. vor, dass wenn Strahlung Gegenstände trifft, die nicht radioaktiv sind, eine „Strahlungssubstanz“ am Gegenstand haften bleibt, welche diesen radioaktiv macht.

Das IiR-Unterrichtskonzept möchte das allgemein verbreitete Wissen über Radio-aktivität erhöhen und ein Bewusstsein für das Thema schaffen. Es besteht aus vier Einheiten (‚Cycles‘) die sich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen. In Cycle 1 führen Lernende Experimente durch, aus denen sie die grundsätzlichen Eigenschaf-ten der ionisierenden Strahlung ableiEigenschaf-ten. Cycle 2 stellt die Idee vor, dass Atome Quel-len der Strahlung sein können. Cycle 3 beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von Strahlung mit Materie inklusive des menschlichen Körpers. In Cycle 4 geht es um Kernenergie, radioaktive Abfälle von Kernkraftwerken und Halbwertszeit.

IiR basiert auf der Methode des forschenden Lernens. Die Fragestellungen und Experimente der Lernenden werden durch Arbeitsblätter geleitet, deren Bearbeitung in Gruppen erfolgt. Die Aufgaben sind so aufgebaut, dass die Gruppen im Idealfall selbst Ideen entwickeln und die Lehrperson nur notwendige Hilfestellungen gibt. Die Themen in jeder IiR-Aufgabe sind anhand bekannter Lernschwierigkeiten aus frühe-ren Semestern ausgewählt worden. Am Beginn jeder Aufgabe sollen die Lernenden immer begründete Vorhersagen machen, bevor sie beginnen, ihre Untersuchungen durchzuführen. Nach jeder Aufgabe und jedem ‚Cycle‘ gibt es ein gemeinsames Ge-spräch, in dem Lernende gemeinsam ihre Ideen reflektieren.

2. Lernangebote des Vertiefungsseminars

Das Vertiefungsseminar dauert ein Semester. Die teilnehmenden Lehramtsstudieren-den der Physik treffen sich einmal pro Woche für 90 Minuten. Die Konzeption des Vertiefungsseminar stütz sich auf die Annahme, dass die Studierenden professionelle Handlungskompetenzen nur mit Übung entwickeln können. „Learning… has as its central defining characteristic […] that the mastery of knowledge and skill requi-res newcomers to move toward full participation in the sociocultural practices of a community“ (Lave & Wenger, 1991, S. 29). Daher ist es notwendig, dass die Studie-renden im Zuge des Seminars auch selbst Unterrichtsstunden halten. In jeder Einheit verbringen zwei Studierende 50 Minuten damit, eine simulierte Unterrichtsstunde durchzuführen. Diese beiden Studierenden agieren in der Rolle der Lehrpersonen, während der Rest der Studierenden die Rolle der Schülerinnen und Schüler über-nimmt. Nach der simulierten Unterrichtsstunde werden 25 Minuten damit verbracht, den zwei ‚Lehrpersonen‘ Peer-Feedback zu geben.

Die Struktur des Vertiefungsseminars orientiert sich am ‚Think, Pair, Share‘-Ansatz des ‚Peer-Instruction-Unterrichtkonzepts‘ (z. B. Crouch & Mazur, 2001). Dieser eignet sich besonders dazu, Studierende in die Gestaltung des Unterrichts zu involvieren und dadurch einen besseren Lernfortschritt zu erzielen. In einem ersten Schritt hinterfragt jede Studierende einzeln für sich in wöchentlichen Hausaufgaben, wie sie IiR für den Einsatz im Gymnasium adaptieren würden (‚Think‘). Dabei werden sie von der

Semi-157 Wie adaptiert man Unterrichtskonzepte erfolgreich?

narleitung unterstützt, indem diese Meinungen der Studierenden, die in der Hausauf-gabe geäußert wurden, mittels eines 15 Minuten langen Vortrags zusammenfasst (z. B.

„Weil wir vieles vom Cycle 2 überspringen, war das Ziel der Hausaufgabe diese Woche den Rest des Cycles durchzulesen und zu argumentieren, ob Sie den Inhalt im Unterricht verwenden würden … hinsichtlich Aufgabe 2.6 haben mehrere von Ihnen gute Begründun-gen angegeben die Aufgabe wegzulassen und andere von Ihnen haben argumentiert, dass wir diese Aufgabe verwenden sollten. Zum Beispiel …“). Im zweiten Schritt planen zwei Studierende gemeinsam eine Unterrichtssimulation (‚Pair‘). Hier müssen sie IiR für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe adaptieren und somit ihre erlernte Fähigkeit in die Tat umsetzen. Nach jeder Unterrichtssimulation diskutieren alle Studierenden zu-sammen, wie das Unterrichtskonzept für zukünftige Unterrichtsstunden noch besser ad-aptiert werden könnte (‚Share‘). Der Ablauf des Seminars ist in Abbildung 1 dargestellt.

Während des ersten Semesters, in dem das Vertiefungsseminar gehalten wurde, besuchten Schülerinnen und Schüler aus zwei Gymnasien das Vertiefungsseminar. Da jede Klasse nur eine Stunde im Seminar verbringen konnte, mussten die Lehramts-studierenden besonders kritisch hinterfragen, welche Teile von IiR am wichtigsten sind und sich trotz der Zeitknappheit als Einstieg in das Thema Radioaktivität eignen.

Im zweiten Semester, in dem das Vertiefungsseminar gehalten wurde, hatten die Studierenden aufgrund der Corona-Pandemie keine Gelegenheit, Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Stattdessen sollten sich die Studierenden in den Hausaufga-ben mit dem Lehrplan für Physik des Gymnasiums auseinandersetzen und folgende Fragen dazu beantworten: „Welche Themen der Radioaktivität müssen Schülerinnen und Schüler lernen?“; „Gibt es Aufgaben von IiR, die Sie bis jetzt kennen gelernt haben, die für diese Themen geeignet wären und die Sie verwenden würden, um diese Themen zu unterrichten? Wenn ja, welche?“ Es wurde betont, dass es für die Benotung un-erheblich sei, ob die Studierenden mit „Ja, ich werde IiR verwenden“ oder „Nein, ich werde IiR nicht verwenden“ antworten würden. Trotzdem gaben alle (N=24) Studie-renden im zweiten Semester an, dass sie IiR in ihrem zukünftigen Unterricht ver-wenden werden. Weitere Informationen zum Aufbau des Vertiefungsseminar sind im Online-Supplement1 des Kapitels einzusehen.

Zusammenfassend haben Studierende im IiR-Vertiefungsseminar an der Univer-sität Wien kontinuierlich geübt, ein neues Unterrichtskonzept anhand der vorhande-nen Rahmenbedingungen an österreichischen Gymnasien zu adaptieren und dadurch eine bedeutende Fähigkeit für ihr späteres Berufsleben zu entwickeln. Es lässt sich noch nicht absehen, welchen Einfluss dieses Vertiefungsseminar auf die zukünftige Unterrichtspraxis der Lehramtsstudierende haben wird. Die Rückmeldungen der Stu-dierenden in der Kursevaluationen zeigen jedoch, dass diese die im Seminar gesam-melten Erfahrungen durchaus positiv beurteilen und es erscheint plausibel, dass das Seminar Studierende ermutigt, um neue Unterrichtsplanungen in einer fundierten und flexiblen Weise zu adaptieren.

1 Ergänzendes Material steht unter www.waxmann.com/buch4349 zum Download zur Verfügung.

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3. Transfer des Lehrkonzepts

Das hier beschriebene Vertiefungsseminar orientiert sich an IiR, jedoch ist das Lern-ziel, das Adaptieren von neuen Unterrichtskonzepten zu lernen, auf andere Kontex-te übertragbar. Die Gestaltungsprinzipien des Seminars (planen, durchführen, und reflektieren von Unterrichtssimulationen sowie Hausaufgaben, in denen die Studie-renden hinterfragen, wie sie die Unterrichtskonzepte für den Einsatz in Gymnasium adaptieren können) sind ebenfalls übertragbar. Auch wenn es sich im hier beschrie-benen Seminar als unproblematisch erwiesen hat, könnte es sein, dass manche Stu-dierende Schwierigkeiten mit dem Übersetzen eines englischsprachigen Unterrichts-konzepts haben. Im Zuge der Anmeldung zur Lehrveranstaltung sollte daher bereits angemerkt werden, dass Englischkenntnisse eine notwendige Voraussetzung sind.

Das IiR-Unterrichskonzept ist verfügbar auf radiationliteracy.org. Drei Simula-tionen für das Unterrichtskonzept sind dort ebenfalls verfügbar. Eine wesentliche Anpassung des IiR-Unterrichtskonzepts für Gymnasien war die Vorbereitung von Videos anstatt von Experimenten mit radioaktiven Strahlern, die in österreichischen Gymnasien nicht zulässig sind. Einige dieser Videos sind auch verfügbar.

Literatur

Crouch, C. H., & Mazur, E. (2001). Peer instruction: Ten years of experience and results.

American Journal of Physics, 69(9), 970–977. https://doi.org/10.1119/1.1374249

Debarger, A. H., Penuel, W. R., Moorthy, S., Beauvineau, Y., Kennedy, C. A., & Boscardin, C.

K. (2017). Investigating Purposeful Science Curriculum Adaptation as a Strategy to Im-prove Teaching and Learning. Science Education, 101(1), 66–98. https://doi.org/10.1002/

sce.21249

Eijkelhof, H. M. C. (1990). Radiation and risk in physics education (CD[beta] Press).

Hausaufgaben

Abb. 1: Ablauf des Vertiefungsseminars inklusive Erläuterung, inwiefern die Phasen des Seminars zum übergeordneten Lernziel beitragen

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Lave, J., & Wenger, E. (1991). Situated learning: Legitimate peripheral participation. https://doi.

org/10.1017/CBO9780511815355

Prather, E. E., & Harrington, R. R. (2001). Student understanding of ionizing radiation and radioactivity. Journal of College Science Teaching, 31(2), 89.

Riesch, W., & Westphal, W. (1975). Modellhafte Schülervorstellungen zur Ausbreitung radio-aktiver Strahlung. Der Physikunterricht, 9, 75–85.

Sawyer, R. K. (2004). Creative Teaching: Collaborative Discussion as Disciplined Improvi-sation. Educational Researcher, 33(2), 12–20. https://doi.org/10.3102/0013189X033002012 Schrittesser, I. (2013). From Novice to Professional: Teachers for the 21st century and how

they learn their job. Learning to Be a Teacher in a Changing World. University of Barce-lona.

Zusatzmaterial: Unterrichtskonzepte

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