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Tobias Denecke, Dagmar Hilfert-Rüppell & Kerstin Höner

Im Dokument Lehrkräftebildung neu gedacht (Seite 131-136)

Classroom Management (CM) gilt als ein bedeutendes Element der Professionalisie-rung von Lehrkräften (KMK, 2019). Es hat Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität, stellt aber gleichzeitig hohe Anforderungen an Lehrkräfte (König & Lebens, 2012).

Multiple, spontan und simultan ablaufende Prozesse sorgen für ein komplexes Unter-richtsgeschehen, bei dem der Einsatz eines entsprechenden CMs zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung beitragen kann (Doyle, 2006). Insbesondere im experimentell-naturwissenschaftlichen Unterricht scheint das CM eine ebenso große Herausforderung wie auch Chance zu sein (Pawlak & Groß, 2020a). Video-vignetten aus authentischem, naturwissenschaftlichem Unterricht können hier einen Beitrag leisten, indem sie beobachtenden Personen ermöglichen, lernrelevante As-pekte innerhalb komplexer Unterrichtssituationen zu identifizieren und professionell wahrzunehmen (z. B. Hilfert-Rüppell et al., 2018). Vor allem in fachdidaktischen Aus-bildungskontexten scheint die Analyse videografierter Unterrichtssituationen eine vielversprechende Methode zu sein (z. B. Hörter et al., 2020). Dabei ist der Einfluss verschiedener instruktionaler Strategien sowie der Einbettung von Unterrichtsvideos in ein spezifisches Lernarrangement auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung und den Lernerfolg empirisch belegt (Blomberg et al., 2013; Gaudin & Chaliès, 2015).

Der vorliegende Beitrag stellt den Einsatz authentischer Videovignetten aus natur-wissenschaftlichem Unterricht als digitale Lehr-Lern-Tools zur Theorie-Praxis-Integ-ration innerhalb der Lehrkräftebildung mit besonderer Berücksichtigung der Rolle spezifischer instruktionaler Strategien und die sich daraus ergebende Perspektive vor, die Analysefähigkeiten und damit die professionelle Wahrnehmung von (angehen-den) Lehrkräften hinsichtlich des naturwissenschaftsspezifischen CMs zu fördern.

1. Lehr-Lern-Konzept und Lernbegleitung der Studierenden

Im Lehramtsstudium der TU Braunschweig wurde am Institut für Fachdidaktik der Naturwissenschaften ein Lehr-Lern-Konzept für Masterstudierende der Fächer Bio-logie, Chemie und Physik entwickelt, welches die praxisorientierte Förderung eines CM-bezogenen Analyseprozesses semesterübergreifend verfolgt und damit dem An-spruch nach passgenauen Lehr-Lern-Formaten zur Genese von Core-Practices, hier fokussiert auf Aspekte der (fachspezifischen) Anforderungen an Klassenführung, nachkommt. Anknüpfend an das Vorwissen der Studierenden werden im

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spiel zwischen Videoanalyse unterrichtlicher Situationen fremder Lehrpersonen und eigener Unterrichtspraxis Akkomodations- und Assimilationprozesse angestoßen, die zu einem Theorie-Praxis-Transfer neu gewonnener Erkenntnisse und einem ku-mulativ vernetzten Lern- und Entwicklungsprozess beitragen können.

Konkret bedeutet dies, dass die Studierenden im ersten Semester des Masters für das Haupt- und Realschullehramt an einer Lehrveranstaltung teilnehmen, in des-sen Rahmen eine theoretische Vermittlung von Wisdes-sensinhalten zum naturwisdes-sen- naturwissen-schaftsspezifischen CM sowie die Analyse von zwei authentischen Videovignetten aus dem experimentell-naturwissenschaftlichen Unterricht über eine Online-Video-plattform erfolgt. Die durch die individuelle Videoanalyse und im Austausch mit den Peers gewonnenen Erkenntnisse finden in dem sich anschließenden sechsmonatigen Praxisblock des zweiten Semesters Anwendung, indem die Studierenden ihren eige-nen Unterricht hinsichtlich fachspezifischer CM-Facetten professionell wahrnehmen, kritisch reflektieren und ggf. bereits adaptiv handeln. Diese unterrichtspraktischen Erfahrungen aus dem zweiten Semester fließen wiederum in eine Analyse von zwei weiteren Videovignetten im dritten Semester ein und tragen somit zu einer erfolg-reichen Verzahnung von Theorie und Praxis bei.

Das situierte und fallbasierte Lernen findet so seine Verankerung sowohl in theo-riebasierten Konzepten als auch in der praxisorientierten Analyse in aufeinander auf-bauenden Lehrveranstaltungen. Bei der Umsetzung des Lernarrangements berück-sichtigt sind die durch Blomberg et al. (2013) extrahierten Planungsheuristiken, die die Effektivität des Videoeinsatzes maßgeblich beeinflussen und im Folgenden näher beleuchtet werden.

2. Videovignetten als digitales Lehr-Lern-Tool

Im Zentrum des Lehr-Lern-Konzepts stehen kurze Unterrichtsvideovignetten von zwei- bis fünfminütiger Länge aus experimentell-naturwissenschaftlichem Unterricht erfahrener Lehrkräfte, die mit Kontextmaterialien (z. B. den zur Verfügung gestellten Experimentiermaterialien) angereichert sind (vgl. Hilfert-Rüppell et al., 2018), und die die Schülerinnen und Schüler während des gemeinsamen experimentellen Prob-lemlösens zeigen. Bei der Auswahl geeigneter Videoszenen wird auf die drei Haupt-dimensionen Beziehungsförderung, Verhaltenskontrolle und Unterrichtsgestaltung des Linzer Konzepts zur Klassenführung (vgl. Lenske & Mayr, 2015) zurückgegriffen, wobei der Fokus auf der Frage nach der Sicherstellung eines störungsarmen, sicheren und lernförderlichen experimentellen Umfelds liegt (vgl. Pawlak & Groß, 2020a). Die ausgewählten Experimentiersituationen machen daher fachspezifische CM-Facetten zum Gegenstand, wie z. B. die Einhaltung von Experimentierregeln, die Verteilung von Experimentierrollen oder Scaffolding-Maßnahmen im experimentellen Prob-lemlöseprozess, und ermöglichen eine mehrfache, multiperspektivische Betrachtung (Pawlak & Groß, 2020b).

Eine systematische und fokussierte Analyse derartiger Unterrichtsvideovignetten kann über die situationsbezogenen Fähigkeiten erfolgen (Blömeke et al., 2015), wobei

133 Fachspezifisches Classroom Management beobachten Dimensionen kognitiver Anforderungen (König & Lebens, 2012) durch das Videotool ermöglicht werden müssen. In geschlossenen Aufgabenformaten systematisieren die Studierenden – in einem aus der Synthese aus Theorie und eigenen Fundstellen im Videomaterial entwickelten Kategoriensystem – lernrelevante Szenen in der Video-vignette, beschreiben und bewerten diese. Abschließend formulieren die Studieren-den in einem offenen Antwortformat zu ihrer Beurteilung passende Maßnahmen zur Förderung der unterrichtspraktischen Fähigkeiten für die Lehrkraft mit Rückgriff auf das Kategoriensystem und auf ihre Kenntnisse zu fachdidaktischen Theorien und Modellen zum CM. Diese Kombination von offener und geschlossener Aufgaben-stellung, bei der die Studierenden mehrere Repräsentationsformen verknüpfen und ihre Lösungen zusätzlich begründen müssen, ermöglicht ein hohes kognitives Akti-vierungspotenzial.

3. Ausgewählte Ergebnisse

Die bisher gewonnenen Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Videovignetten gut eignen, um fachspezifisches CM beobachtbar und analysierbar zu machen. Den Studierenden gelang es, die Unterrichtssituationen aus fachdidaktischer und bil-dungswissenschaftlicher Perspektive mit Bezug zu dem abgebildeten CM zu beschrei-ben. Exemplarisch stellt Tabelle 1 den Ausschnitt einer eingesetzten Unterrichtsvideo-vignette einschließlich wortwörtlich transkribierter Sprachinhalte und begleitet durch die Beschreibung des fachspezifischen CMs einer studentischen Analyse dar.

Tab. 1: Einblick in die studentische Videoanalyse einer Unterrichtsvideovignette zur „Tren-nung von Stoffen“ aus dem Chemieunterricht einer sechsten Klasse eines niedersäch-sischen Gymnasiums.

Videoausschnitt Transkript Analyse Explanation

[00:52 bis 01:15] S4: „Den Gasbrenner stelle ich …“

S1: „Stopp mal, zuerst gucken, ob die Gas-zufuhr und die Luft-zufuhr zuerst mal aus sind.“

S3: „Ausgeschaltet.“

S1: „Ja, ich weiß, aber zuerst mal gucken!“

S3: „Es ist alles ausge-schaltet.“ der Umgang mit der Gaszufuh[r]“

[B.707]

Die korrekt wahrge-nommene Situation wurde in der Analyse in den Zusammenhang (vgl. Pawlak & Groß, 2020b).

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Bezugnehmend auf die Beschreibungen in Form einer Kategorienzuordnung und In-haltsbegründung wurden nach einer entsprechenden Interpretation und Bewertung zudem förderliche Maßnahmen formuliert, die darauf abzielten, das wahrgenomme-ne CM zu optimieren. Hierbei zeigte sich, dass die von den Studierenden genannten Maßnahmen (z. B. Vermittlung von Sicherheitsaspekten, Verteilung von Experimen-tierrollen oder Phasierung von Experimentierschritten) die Herstellung und Auf-rechterhaltung der Ordnung anvisierten und damit der Reduktion von Komplexität nachkamen (vgl. Doyle, 2006).

Die Videoanalyse wurde von gut drei Viertel der Studierenden als interessant und nützlich für die eigene Professionalisierung evaluiert. Sie ermögliche eine An-wendung des aktuellen Wissens vor dem Hintergrund einer realen, authentischen Unterrichtssituation und sei gleichzeitig bedeutsam für die zukünftige Tätigkeit als eigenständige Lehrkraft.

4. Diskussion und Fazit

Der Einsatz von naturwissenschaftsspezifischen CM-Videovignetten kann bereits in der Ausbildung an der Hochschule einen Beitrag dazu leisten, die für die Ausführung der beruflichen Tätigkeiten zu erlangende professionelle Wahrnehmung im Zusam-menspiel zwischen Fachdidaktik und Bildungswissenschaft zu trainieren. Die Erfas-sung von Wissen zum CM kann dabei mit Hilfe des vorgestellten Lehr-Lern-Tools messmethodisch so erweitert werden, dass diese nicht nur auf deklarativer Ebene, sondern verstärkt kontext- und situationsbezogen erfolgen kann. Die Ergebnisse be-stätigen, dass die Analyse in dem dreischrittigen Verfahren gelingt, wobei die mög-liche Kompetenzentwicklung der Studierenden zukünftig noch weiterverfolgt wird.

Die Wirksamkeit der Begleitmaterialien sowie der Einfluss des Curriculums und der Lehrenden auf die Analysefähigkeiten wurden nicht berücksichtigt und könnten ebenfalls in nachfolgenden Studien in den Blick genommen werden.

Ein Transfer des Einsatzes der Videovignetten auf weitere fachinhaltliche Bereiche (z. B. Sprache im Fach) oder die zweite und dritte Phase der Lehrkräftebildung scheint vielversprechend zu sein. Gleichwohl gilt es hierbei, die mit einem derartigen Ein-satz verbundenen Herausforderungen zu berücksichtigen, wie z. B. das Einholen von Genehmigungen, die Aufnahme und den Zusammenschnitt lernrelevanter Video-sequenzen und nicht zuletzt deren Einbettung in entsprechende Lernarrangements.

Förderhinweis

Das diesem Beitrag zugrundeliegende Vorhaben wird im Rahmen der gemeinsamen

„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des BMBF unter dem Förderkennzeichen 01JA1909 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen bzw. dem Autor.

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Literatur

Blomberg, G., Renkl, A., Sherin, M., Borko, H. & Seidel, T. (2013). Five research-based heu-ristics for using video in pre-service teacher education. Journal for Educational Research Online, 5(1), 90–114.

Blömeke, D., König, J., Suhl, U., Hoth, J. & Döhrmann, M. (2015). Wie situationsbezogen ist die Kompetenz von Lehrkräften? Zur Generalisierbarkeit der Ergebnisse von videoba-sierten Performanztests. Zeitschrift für Pädagogik, 61(3), 310–327.

Doyle, W. (2006). Ecological management and classroom management. In C.M. Evertson &

C.S. Weinstein (Hrsg.), Handbook of classroom management. Research, practice, and con-temporary issues (S. 97–126). Mahwah, NJ: Erlbaum.

Gaudin, C. & Chaliès, S. (2015). Video viewing in teacher education and professional de-velopment: A literature review. Educational Research Review, 16, 41–67. https://doi.

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Hilfert-Rüppell, D., Eghtessad, A. & Höner, K., (2018). Interaktive Videovignetten aus natur-wissenschaftlichem Unterricht. Förderung der Diagnosekompetenz von Lehramtsstudie-renden hinsichtlich der Experimentierfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Zeit-schrift für Medienpädagogik, 31, 124–141. https://doi.org/10.21240/mpaed/31/2018.03.31.X Hörter, P., Gippert, C., Holodynski, M., & Stein, M. (2020). Klassenführung und

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KMK. (2019). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultus-ministerkonferenz vom 16.12.2004 i. d. F. vom 16.05.2019.

König, J. & Lebens, M. (2012). Classroom Management Expertise (CME) von Lehrkräften messen: Überlegungen zur Testung mithilfe von Videovignetten und erste empirische Befunde. Lehrerbildung auf dem Prüfstand, 5(1), 3–28.

Lenske, G. & Mayr, J. (2015). Das Linzer Konzept der Klassenführung (LKK). In K. Zierer (Hrsg.), Jahrbuch für allgemeine Didaktik. (S. 71–84). Schneider Verlag Hohengehren.

Pawlak, F. & Groß, K. (2020a). Einsatz von Schülerexperimenten im inklusiven Chemieun-terricht – Chancen und Herausforderungen aus Sicht der Chemielehrenden. Chemkon, 27(1), 1–7.

Pawlak, F. & Groß, K. (2020b). Classroom-Management für das sichere und Gemeinsame Experimentieren. In S. Habig (Hrsg.), Naturwissenschaftliche Kompetenzen in der Gesell-schaft von morgen. 46. Jahrestagung der GDCP in Wien, 2019. (S. 94–97). Universität Duisburg-Essen.

Videobasierte Kompetenzentwicklungskette in

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