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Tradition, Moderne und sozialer Wandel auf Berghütten

5. Angewandte Theorie – Versuch einer Theoriegenerierung

5.4. Tradition, Moderne und sozialer Wandel auf Berghütten

Nachdem nun die internen Strukturen der kleinen Lebens-Welt Berghütte in einer vorläufigen „Theorie" zusammengefasst wurden, sollen an dieser Stelle noch einige Worte zur Tradition und „Moderne“ auf den Hütten und zum sozialen Wandel in dieser Welt angemerkt werden.

Sozialer Wandel ist schon lange eines der großen Themen in der Soziologie und hat seit den Theorien von beispielsweise Marx, Engels und Pareto oder Durkeim selbst einen Wandel erfahren hin zu Theorien, die immer mehr auch am sozialen Wandel in sozialen Teilstrukturen orientiert sind und nicht mehr ganze Gesellschaften

243 Weber (1976), S. 130, S. 144.

anhand von einem Hauptmerkmal244 erklären wollen.245 Für die hier folgenden Überlegungen sollen jedoch nicht diese Theorien in ihrer Gänze ausgebreitet werden, sondern es scheint hier ausreichend einige kurze Worte zum sozialen Wandel anzumerken, um dann die soziale Welt der Berghütte unter diesem Aspekt nochmals genauer zu betrachten. Sozialer Wandel kann in einer hier ausreichend erscheinenden Definition als die Veränderung quantitativer und qualitativer Verhältnisse und Beziehungen zwischen den materiellen und normativ-geistigen Zuständen, Elementen und Kräften in einer Sozialstruktur verstanden werden. Wobei davon auszugehen ist, dass soziale Spannungen, wie zum Beispiel partielle Entwicklungsrückstände, Interessengegensätze oder Konflikte, die den sozialen Wandel vorantreibenden Kräfte sind. Demgegenüber steht die Institutionalisierung als Verfestigung und Erstarrung sozialer Normen und Verhaltensbeziehungen.

Institutionalisierung bedeutet demnach Widerstand für sozialen Wandel. Wenden wir uns nun unserem konkreten Fall zu: der sozialen Welt der Berghütte.

Wie wir gesehen haben ist die soziale Welt der Berghütte in gewisser Weise abgetrennt von der Alltagswelt oder der, wie sie jetzt schon öfters genannt wurde,

„Talgesellschaft“. Dennoch sind die Veränderungen auf den Hütten, die eine pluralisierte, von vielen verschiedenen Lebensstilen gezeichnete, Gesellschaft mit sich bringt, augenscheinlich. Die auf den Hütten verkehrenden Menschen spielen zwar auf der Berghütte andere Rollen als im Tal. Es ist aber anzunehmen, dass eben nicht eine vollkommene Trennung der je nach sozialer Welt relevanten Deutungsmuster durchgehalten werden kann. Daher ist hier davon auszugehen, dass sowohl traditionelle als auch „moderne“ Handlungsmuster sich auf der Berghütte treffen. Es steht sich also, wie wohl auch in anderen Teil-Wirklichkeiten, Tradition und Moderne gegenüber.246 Der soziale Wandel ist demnach auch auf einer Berghütte spürbar, das heißt existent.

244 Wie zum Beispiel Marx, der sozialen Wandel, oder bei ihm „Klassenkämpfe“, allein zu erklären suchte durch das Missverhältnis bei der Produktionsmittel- und somit der Kapitalverteilung.

245 siehe exemplarisch den Sammelband von Müller/Schmid (Hrsg.)(1995), Vester et al. (2001) und auch Georg (1998).

246 Es sei hier exemplarisch auf Teil-Wirklichkeiten verwiesen, die meiner Ansicht nach eine gewisse Ähnlichkeit mit der kleinen Lebens-Welt der Berghütte haben. So stehen sich im Bereich des Wintersports oder des Skifahrens der alte Stil und das neue „Freeriding“ gegenüber. Betrachtet man das Klettern, dann stehen in gewisser Weise das Sport- und Extremklettern der älteren alpinen Variante des Kletterns gegenüber. Vgl. bezüglich des Kletterns auch Hitzler (2001), S. 189ff. Hitzler geht dort allerdings auch davon aus, dass das Sportklettern als Szene integriert ist in die Vereinstätigkeiten des DAV. Dennoch ist meiner Ansicht nach immer noch deutlich, dass sich die

„alte“ und die „neue“ Version des Kletterns gegenüberstehen.

Gehen wir auch hier nochmals zurück zu den Daten und den vorgestellten Analysen, um diese „These“, wie man es nennen könnte, mit Inhalt zu füllen. Rufen wir uns die „einfachen“ Beschreibungen ins Gedächtnis, die weiter oben247 zu den zwei Hütten gegeben wurden, dann fällt auf, dass wir der Hochtal-Hütte aufgrund ihrer Größe und ihres Komforts und auch wegen der Art und Weise wie sie geführt wird als moderne Hütte bezeichnen können. Im Gegensatz dazu steht die See-Hütte.

Ihre Größe, Lage, Versorgung und auch ihre Gäste zeigen, dass sie als eine traditionelle Hütte betrachtet werden kann. Dass die beiden Hütte so große Unterschiede aufweisen, mag zum einen an ihrer unterschiedlichen Lage liegen (die eine liegt in einem touristisch sehr gut erschlossenen Gebiet und hat durch die bekannten Berge in ihrer Umgebung gute Werbemöglichkeiten, die andere liegt in einem Seitental, ohne gute Anbindung an andere Hütten und mit kaum einem bekannten Berg in direkter Reichweite), aber viel eher ist davon auszugehen, dass die Unterschiede in der Vereinszugehörigkeit begründet liegen, da beide Hütten unterschiedlichen Vereinen unterschiedlicher Länder angehören.248 Der Schweizer Alpenverein, dem die See-Hütte gehört, ist immer noch mehr der Tradition verhaftet, als der Deutsche (DAV) oder der Österreichische (ÖAV) Alpenverein und legt viel Wert darauf, dass seine Hütten als Schutzhäuser in der Tradition eines frühen Alpinismus erhalten bleiben.249 Der DAV und der ÖAV sahen lange Jahre ihre Verpflichtung zwar darin, Tradition zu wahren, es aber gleichzeitig immer mehr Menschen zu ermöglichen die Berge zu bereisen. Und dies geschah durch die Verbesserung von Wegen, Hütten, Speisekarten – also einer Erhöhung des Komforts in und um die Hütten. Trotz der Unterschiede kann man in allen Vereinen einen Grundgedanken entdecken, nämlich die Pflege verblassender Traditionen.250 Da die Berghütten Teil der Vereine sind, findet dieser Grundgedanke meines Erachtens vor allem auf den Berghütten seine Umsetzung. Auf der See-Hütte wird die Pflege der Tradition strikt eingehalten, aber die Hochtal-Hütte ist eines der Beispiele, und ich möchte behaupten nicht das einzige, wo die Pflege der Tradition nicht mehr an erster Stelle steht, sondern ein wirtschaftliches Denken Einzug gehalten hat, welches die Tradition langsam aus der Hütte verbannt. Die Bewahrung der verblassenden

247 Siehe Kapitel 4.2.1. und 4.2.2 dieser Studie.

248 Siehe Kapitel 4.2.4. dieser Studie.

249 Dies ist in dieser Studie meines Erachtens, auch wenn es zwei Einzelfälle waren, durch die sehr unterschiedlichen Hütten deutlich geworden (Vgl. nochmals Abschnitt 4.2.3. dieser Studie).

250 Vgl. hierzu Scheuch (2003), S. 122. Die Pflege verblassender Tradition ist laut Scheuch die Hauptaufgabe eines Vereins.

Tradition ist zwar in den Regeln und Strukturen, die noch immer existent sind, vorhanden, aber diese werden sowohl durch die veränderten Anforderungen der Gäste nach mehr Komfort, als auch durch die veränderten Einstellungen der Wirte (wirtschaftlich-orientiertes Denken des „jungen“ Wirtes) bezüglich ihrer Arbeit immer mehr in den Hintergrund gedrängt.

Schauen wir nochmals auf die zwei Wirte bzw. die zwei Typen, den „jungen“

und den „alten“ Wirt. Auch hier fällt auf, dass der „alte“ Wirt, wie wir ihn auf der See-Hütte treffen, der Tradition, des „Lebens-wie-früher“ mit Einfachheit in Unterkunft, Komfort, Verpflegung und auch Kommunikation mit der „Außenwelt“ verbunden ist.

Der „junge“ Wirt hingegen, wie wir ihn ansatzweise auf der Hochtal-Hütte finden, tendiert mit seiner Arbeitsweise eines Managers oder Koordinators und Aussagen wie „man muss den Leuten schon was bieten“, mit Werbetafeln und Verkauf und Vermietung von Ausrüstungsgegenständen, sowie einer umfangreichen Speisekarte, aber dennoch der Durchsetzung von Hüttenregeln und einer gewissen Autorität einerseits zur Erhaltung der Tradition, andererseits erkennt er auch den Wandel, der sich ereignet an, indem er sich der „Moderne“, die auch in den Bergen und auf den Hütten Einzug gehalten hat nicht verschließt.

Auch bei den Besuchern der Hütte ist der Wandel meines Erachtens in ihren Einstellungen zu und Vorstellungen von einer Hütte erkennbar. Nehmen wir an dieser Stelle zum Beispiel den Touristen: er wird sich auf der Hochtal-Hütte weit öfters einfinden als auf der See-Hütte.251 Der Genusswanderer („Hotel“wanderer) erwartet auch den Komfort des Tales in den Bergen und selbst bei den Berggehern werden teilweise Kommentare laut, dass die warme Dusche – als Zeichen von Modernisierung und Wandel – nicht gerade verächtlich, sondern freudig betrachtet wird. Ein weiterer Aspekt des Wandels ist die immer stärkere Entwicklung von solchen Typen, wie wir sie im „Hotel“wanderer und im „Sorglosen“ verkörpert sehen.

Vom „Hotel“wanderer wird vor allem der im Tal befindliche Lebensstandard auf der Hütte erwartet und die traditionsreiche Lebensweise der Hütten gilt ihm nicht viel.

Dem „Sorglosen“ kann ein Freizeitverhalten zugeschrieben werden, welches sich zwar im Handeln innerhalb der Hütte nicht von dem des Erfahrenen unterscheidet, welches aber vor allem bezüglich der Risikofreudigkeit außerhalb der Hütte stark von dem der dargestellten anderen Typen abweicht. Ohne sich hier meines Erachtens in der Interpretation zu weit vor zu wagen kann behauptet werden, dass sich auf den

251 Die unterschiedlichen Größenverhältnisse sind berücksichtigt.

Berghütten auch ein Wandel vollzieht der, wenn man hier Schlagworte benutzen will, als Veränderung in Richtung auf eine Erlebnis-Wirklichkeit, Freizeit-Wirklichkeit oder Risiko-Wirklichkeit zu bezeichnen ist.252

Den Wünschen und Einstellungen des modernen Menschen folgt demnach auch, zumindest zum Teil, die Entwicklung in dieser sozialen Teil-Wirklichkeit der Berghütte. Wobei die soziale Welt der Berghütte dennoch, und das scheint mir hier der Kernpunkt zu sein, den Spagat zwischen der Erhaltung der Tradition und der Modernisierung schaffen muss. Der soziale Wandel geht auch an dieser Teil-Welt nicht vorbei. Allerdings ist es Teil ihrer Existenzgrundlage und auch Existenzberechtigung die Traditionen, Regeln, Bräuche und Normen zu erhalten.

Denn dies sind, wie wir gesehen haben, diejenigen Aspekte der kleinen Lebens-Welt der Berghütte, die, zusammen mit dem gelebten Zusammengehörigkeitsgefühl das ausmachen, warum sich Menschen dafür entscheiden dieser sozialen Welt beizutreten.

Dennoch kann hier davon ausgegangen werden, dass die in der Alltagswelt („Talgesellschaft“) verinnerlichten Muster durch die Mitglieder selbst in die kleine Lebens-Welt der Berghütte gebracht werden. Diese Muster werden somit auch zu einem Teil dieser Welt. Dies geschieht meines Erachtens wiederum durch den von Berger und Luckmann aufgezeigten Ablauf von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung. Dadurch werden neue Muster oder gewandelte Muster in die soziale Welt der Berghütte integriert, sie werden zu einem Teil des Wissensbestandes und somit auf diesem Wege auch an andere weitergegeben. Die soziale Welt der Berghütte wandelt sich durch die Weitergabe und durch den stetigen Austausch von Wissen zwischen den Mitgliedern. Das heißt, dass trotz des Versuchs der Beibehaltung von Tradition, Wandel, auch in der sozialen Welt der Berghütte, unvermeidlich ist und die Berghütte selbst, obwohl teilweise als Enklave der Tradition betrachtet, unweigerlich in die Nähe der „Moderne“ rutscht.

252 In Anlehnung an die Titel von Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ und Becks „Risikogesellschaft“.