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Relevanz und Wissen – Persönlichkeitsbildung durch die soziale Welt

5. Angewandte Theorie – Versuch einer Theoriegenerierung

5.2. Relevanz und Wissen – Persönlichkeitsbildung durch die soziale Welt

Die Relevanz der Teil-Wirklichkeit oder der kleinen sozialen Lebens-Welt der Berghütte für den Einzelnen ist meiner Ansicht nach darin zu erkennen, wie der teil-gesellschaftliche Wissensvorrat der sozialen Welt im subjektiven Wissensvorrat218, also dem Wissen des Einzelnen, vertreten ist. Damit ist hier das persönliche Wissen über Strukturen, Regeln und Normen, sowie das praktische Wissen über bestimmte Abläufe oder Handlungen gemeint, also der subjektive Wissensvorrat, der in Berghütten relevant sind. Dieses Wissen kann als Indikator dafür angesehen werden, ob sich derjenige diese Welt zu einer „Heimatwelt“ macht und sie dadurch auch starken Einfluss auf seine Persönlichkeit ausübt oder nicht.

218 Vgl. wiederum Luckmann (1986), S. 9.

Schütz hat in seinem Aufsatz „Der gut informierte Bürger“219 drei idealtypische Unterscheidungen zwischen Individuen getroffen, die an dieser Stelle als geeignet erscheinen, die Verteilung des Wissens und damit die jeweilige Relevanz der kleinen Lebens-Welt für den Einzelnen zu bestimmen und zu charakterisieren.220 Schütz geht davon aus, dass es einen Wissensvorrat gibt, der theoretisch jedem zugänglich ist.

Weiter geht er davon aus, dass uns, den Individuen, bei praktischen oder einfacheren Aufgaben und Tätigkeiten auch ein einfacheres (rezepthaftes) Wissen ausreicht, um diese Arbeiten zu verrichten. Kein Mensch, so Schütz, muss wissen wie die einzelnen Vorrichtungen oder Technologien funktionieren, um einen Apparat zu bedienen. Wir hinterfragen die meisten Dinge, die wir in unserer Welt vorfinden nicht. Zur genaueren Untersuchung, warum wir nun einige Teile des überlieferten Wissens und „Weltkonzeptes“221 anerkennen und andere nicht, konstruiert er drei Idealtypen: Den Experten, den gut informierten Bürger und den Mann auf der Strasse.

Für den hier zu betrachtenden Sachverhalt ist es nicht notwendig Schütz Argumentation genauestens nachzuzeichnen, denn die drei Typen werden hier zwar in Anlehnung aber nicht in genauer Entsprechung zu Schütz verwendet.

Entscheidend für die Untersuchung der Wissensverteilung auf einer Berghütte ist zunächst, wie die drei Idealtypen charakterisierbar sind. Leicht vereinfacht gesagt ist das Wissen des Experten auf einem bestimmten Gebiet sehr klar und deutlich ausdifferenziert. „Seine Ansichten gründen sich auf gesicherte Behauptungen; seine Urteile sind keine bloße Raterei oder unverbindliche Annahmen.“222 Der Mann auf der Strasse hingegen hat ein funktionierendes Wissen, welches viele Gebiete umspannt, wobei die verschiedenen Gebiete nicht unbedingt untereinander verbunden sind. Er hat ein Wissen von Rezepten, welches ihm in den meisten Situationen sagt was er wie zu tun hat und wie er sich verhalten soll. Reicht sein Wissen nicht mehr aus, dann verlässt er sich auf seine Gefühle und Leidenschaften.

Aus seinem rezepthaften Wissen und unter dem Einfluss von Gefühlen errichtet er ein Konstrukt von Überzeugungen und Weltdeutung, auf das er sich solange

219 Schütz (1972), S. 85 ff.

220 Die von Schütz im weiteren Verlauf seines Aufsatzes aufgeführten Idealtypen „Augenzeuge“,

„Insider“, „Analytiker“ und „Kommentator“, die verschiedene Formen der Vermittlung von sozial abgeleitetem Wissen repräsentieren, sollen an dieser Stelle nicht einbezogen werden. Eine Zuordnung zu den fünf Typen der Berghütte wäre sicher möglich, führt aber meines Erachtens an dieser Stelle zu weit.

221 Schütz (1972), S. 87.

222 Ebd. S. 87.

verlässt, bis es ihn im Streben nach dem Glück behindert.223 Der gut informierte Bürger steht, so Schütz, zwischen den beiden anderen Typen. Er hat nicht das Wissen eines Experten, bleibt aber auch nicht der Vagheit des Rezeptwissens des Manns auf der Strasse verhaftet. Er will zu guten und vernünftig begründeten Meinungen auf all jenen Gebieten kommen, die ihn unmittelbar und auch mittelbar betreffen.

In der Berghütte lassen sich die Schütz’schen Typen meines Erachtens den fünf Typen von Hüttenbewohnern zuordnen. Wie in der Analyse und Beschreibung gezeigt worden ist, ist der Hüttenwirt der zentrale Punkt des Hüttenlebens. Er hat, bezogen auf den Raum der Hütte, das größte und differenzierteste Wissen und auch bezogen auf die umliegende Region kann sein Wissen als das eines Experten bezeichnet werden. Der Bergführer ist meines Erachtens auch als Experte zu bezeichnen. Im Schütz`schen Sinne vielleicht sogar noch eher als der Hüttenwirt.

Durch seine Ausbildung erlernt er nicht nur rezeptähnliches Wissen, sondern muss auch ein tiefer gehendes Verständnis bezüglich der Menschen und auch der Berge haben. Sein Wissen ist zunächst, was die Anwendungen und notwendigen Verfahren in den Bergen angeht, sicher ein rezeptähnliches Wissen, aber er muss eben auch lernen und wissen wann, wie und wo ein solches Wissen von Rezepten zu modifizieren ist und warum in bestimmten Situationen das eine oder das andere Verfahren nicht angewendet werden darf.224 Diese Fähigkeit macht ihn zu einem Experten. Der Berggeher wurde weiter oben dargestellt als derjenige, der eine gewisse Ähnlichkeit zum Bergführer haben kann, vor allem dann, wenn man das in der sozialen Welt der Berghütte relevante Wissen betrachtet. Und so kann man zumindest den „Erfahrenen“ auch als einen Experten betrachten. Der „Sorglose“

muss aufgrund eben seiner „Sorglosigkeit“ aus der Gruppe der Experten ausgeschlossen werden. Denn Sorglosigkeit deutet meines Erachtens eher auf gefühlorientiertes Handeln hin, welches dem Mann auf der Strasse ähnlicher ist. Der Genusswanderer wird hier mit dem gut informierten Bürger gleichgesetzt, da sein die Berghütte betreffendes Wissen meist weniger umfassend als das des Wirtes oder des Bergführers ist, aber doch bei weitem mehr umfasst als das Wissen des

223 Schütz (1972), S. 88.

224 Dies ist recht schnell deutlich zu machen: Der Wanderer geht an einem Tag eine bestimmte Tour nicht, weil das Wetter nicht gut aussieht. Der Bergführer geht nicht, weil das Wetter nicht gut aussieht und darum diese und jene Gefahren viel größer werden. Das heißt also, der Wanderer weiß, dass man bei schlechtem Wetter keine Touren gehen soll. Der Bergführer weiß das man bei schlechtem Wetter keine Touren gehen soll, weiß aber zusätzlich warum.

Touristen. Der Genusswanderer verwendet sein Wissen rezepthaft, aber ist durchaus gewillt sein Wissen in den für ihn relevanten Gebieten bis auf ein Expertenniveau auszudehnen. Zumindest kann behauptet werden, dass sein Wissen so umfassend ist, dass er fähig ist zu erkennen und zu beurteilen, ob ein sich als Experte ausgebendes Individuum auch ein Experte ist. Er kann demnach zumindest unterscheiden welche Aussage die eines Experten ist und welche Aussage von einem Laien kommt. Der Tourist ist meiner Ansicht nach identifizierbar mit dem Mann auf der Strasse. Er hat wohl ein breit gefächertes Wissen, also ein Wissen auf vielen Gebieten, aber das Wissen bezüglich der Teil-Wirklichkeit Berghütte ist doch sehr begrenzt. Er hat zum Beispiel ein grundlegendes Wissen über Techniken des Gehens, oder auch darüber welche Grundausrüstung für einen Aufenthalt in einer solchen Teil-Wirklichkeit notwendig ist, hat aber andererseits kein differenziertes Wissen über die verschiedenen Materialien oder auch die verschiedenen Regeln und Strukturen auf der Hütte.

Anhand dieser Gliederung mit Hilfe der Schütz’schen Idealtypen oder Kategorisierungen lässt sich nun meines Erachtens zeigen, für welche Gruppierungen die soziale Welt der Berghütte so etwas wie eine „Heimatwelt“ ist oder werden kann; eine Welt also, die für den jeweiligen Typus persönlichkeitsrelevant ist.

Der Experte, also in unserem Fall der Hüttenwirt, der Bergführer und zu Teilen auch der Berggeher, hat sich die soziale Welt der Berghütte wenn nicht als

„Heimatwelt“, so doch zumindest als Welt aufgebaut, die für sein Leben eine große Relevanz zu haben scheint, da hier allgemein davon ausgegangen wird, dass man sich nicht ein umfangreiches Wissen einer Teil-Welt oder Teilzeit-Welt aneignet, die nicht in gewissem Sinne auch eine größere Relevanz für das eigene Leben und damit für die eigene Identität hat. Für den Hüttenwirt ist dies der Fall, weil er zum einen die Hütte als seine Lebensgrundlage selbst gewählt hat und zum anderen, weil er in der Erhaltung und Weitergabe der Regeln, Normen und Strukturen „seiner“

sozialen Teil-Wirklichkeit den Sinn seiner Arbeit sieht. Dies spiegelt sich in seiner zentralen Stellung und seinem damit verbundenen Expertenwissen wieder. Für den Bergführer ist die Hütte, wie weiter oben bereits angedeutet wurde, der Ort, wo er (gleich dem Wirt) diejenigen Menschen trifft, die seine Lebensgrundlage bilden, seine Kundschaft. Sie sehen in ihm den Experten und schreiben ihm diese Position immer wieder zu. Der Bergführer kann die Welt der Berghütte als „Heimatwelt“ gewählt

haben, da er dort alles in konzentrierter Form wieder finden kann, was ihn und damit seine Identität ausmacht. Die Hütte ist für ihn direkter Bezug zu seinem zentralen Lebensthema, nämlich Menschen durch die Berge zu führen und ihnen deren Schönheit nahe zu bringen. Der Berggeher hat sich das relevante Wissen ebenfalls über eine lange Zeit angeeignet und durch längere Aufenthalte hat er das System der Regelungen und Normen stark verinnerlicht. Es ist auch bei ihm zu einer identitätsbildenden Komponente geworden und es wird davon ausgegangen, dass er sich in anderen Welten auf die Strukturen, die er in dieser Welt erlernt und verinnerlicht hat, bezieht.

Bei dem Experten in seinen hier vorgestellten drei Ausprägungen kann durchweg davon ausgegangen werden, dass seine Deutungsmuster seine eigenen Handlungsmuster anleiten, welche für uns in seinen praktischen Handlungen erkennbar werden. Ebenso wird dies in seinen Gesprächen mit anderen Interakteuren deutlich. Seine Handlungsmuster, hier also verstehbar als die veräußerten internalisierten Regeln, Bräuche und Strukturen der Berghütte, werden durch sein aktives Handeln an andere Mitglieder weitergegeben, die diese wiederum internalisieren und somit als ihre Deutungsmuster in ihrem Bewusstsein festsetzen.

Er fördert damit sozusagen das Fortbestehen des gesamten Wissensbestandes und durch seine Person werden die Strukturen und Regeln immer wieder reproduziert.

Was hier allerdings nicht mit Sicherheit gesagt werden kann ist, ob es sich bei der Teil-Wirklichkeit oder sozialen Welt der Berghütte für den Experten wirklich um die eine „Heimatwelt“ für ihn handelt. Es kann hier nur mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Berghütte eine für den Experten nicht eine „Welt am Rande“ ist, also keine Welt, die er nur hin und wieder betritt und die auch nur marginal zu seiner Persönlichkeitsbildung beiträgt.

Der gut informierte Bürger, in unserem Falle der Genusswanderer, sieht in der Teilhabe an der kleinen sozialen Lebens-Welt der Berghütte nicht zwingend eine

„Heimatwelt“. Meines Erachtens ist die Berghütte für ihn eine Welt unter anderen, wenn auch eine leicht bevorzugte. Persönlichkeitsrelevant wird sie für ihn nur vereinzelt. Er überträgt Teile der erlebten, gelebten und erlernten Regeln und Routinen auch auf andere Teile seines Lebens und nimmt somit einen Teil dieser Welt in sein Relevanzsystem auf und internalisiert diese Routinen, oder sagen wir einfach Verhaltensmuster, bis zu dem Grad, dass sie Teil seiner Persönlichkeit werden. Als solche internalisierten Muster können beim Genusswanderer zum

Beispiel sein Streben nach Genuss angesehen werden oder der freundschaftliche, gesellige Umgang mit anderen, der in einer Berghütte gepflegt wird.

Der Tourist, als der Mann auf der Strasse, hat, wie wir bereits gesehen haben, ein Rezeptwissen von durchaus breitem Umfang. Dieses Wissen beschränkt sich aber in der Welt der Hütte auf grundlegende Dinge, wodurch angenommen wird, dass er die Position am Rande der sozialen Welt, die ihm bereits weiter oben bescheinigt wurde, beibehält. Durch diese Randstellung bleibt auch die Relevanz, die die Hütte für sein Leben hat, eine untergeordnete. Das heißt hier wiederum, dass die geringe Relevanz, ausgedrückt im geringen Wissen, also keine persönlichkeitsbildenden oder -relevanten Effekte hat. Der Tourist sieht seinen Besuch oder seine Mitgliedschaft in dieser Welt als reine Abwechslung zu den Welten, an denen er in seinem anderen Leben, also seiner „Heimatwelt“, teilhat.

Nach der hier verfolgten Interpretation bleiben ihm die Regeln und Strukturen der Welt verborgen und er erkennt sie nur, wenn er durch Lob oder Sanktion darauf aufmerksam gemacht wird. In seinem persönlichen Relevanzsystem nimmt die kleine soziale Lebens-Welt der Berghütte mit all ihren Besonderheiten nur eine untergeordnete Rolle ein, wo hingegen, um einen Bogen zurück zu schlagen, im Relevanzsystem des Wirtes, des Bergführers oder des Berggehers die Welt der Hütte für die weitere Entwicklung oder Festigung der Persönlichkeit eine gehobene Position einnimmt.