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3.3. Dateninterpretation – Grounded Theory

3.3.1. Die Grundlagen der Methode

Die Grounded Theory ist vor allem, um mit einigen Schlagworten zu beginnen, ein Interpretations- und Analyseverfahren, wobei die Art der Datenerhebung keineswegs eine bestimmte sein muss. Laut Glaser und Strauss können alle Arten von Daten mit Hilfe der Grounded Theory analysiert werden. Auch quantitative Daten sind davon nicht ausgeschlossen.91 In Strauss` Buch „Grundlagen qualitativer Sozialforschung“,

90 Hildenbrand (1998), S.11, vgl. Vorwort in Strauss (1998).

91 Glaser/Strauss (1998), S.26.

welches er ohne Glaser veröffentlichte ist dann allerdings nichts mehr davon zu lesen, dass auch quantitative Daten ohne weiteres mit der Grounded Theory analysiert werden können. Hier legt er ganz eindeutig das Gewicht auf die Analyse qualitativ erhobener Daten.

Da in dieser Arbeit nur mit qualitativen Daten gearbeitet wurde, scheint diese Differenzierung hier nicht von gesteigertem Interesse zu sein und der Autor behält es sich vor hier von einer näheren Diskussion dieser Problematik abzusehen.

Die Besonderheit der Grounded Theory liegt nun aber nicht unbedingt darin, dass alle möglichen Arten von Daten bearbeitet, organisiert und analysiert werden können, sondern vielmehr darin wie diese Analyse vor sich geht, oder besser gesagt, wie durch die Grounded Theory eine Theorie zustande kommt.

Hildenbrand bezeichnet das Missverständnis, welches der Grounded Theory schon lange anhaftet, damit, dass der Begriff „Grounded Theory“ zunächst mit

„gegenstandsbezogener Theorie“ übersetzt wurde92. Und „gegenstandsbezogen“

sollte doch jede Theorie sein. Grounded Theory meint nun aber nicht allein eine Theorie, die auf einen Gegenstand bezogen ist, sondern vielmehr, dass sie aus dem Gegenstand entstanden ist. Die Besonderheit der Grounded Theory liegt demnach darin, dass die mit diesem Verfahren generierte Theorie in den Daten verankert ist.

Also die Theorie aus den Daten generiert wird und nicht, wenn man im Jargon der qualitativen Methoden spricht, die bereits bestehende Theorie über die Daten gestülpt, oder die Daten in eine bestehende Theorie hinein gezwängt werden.93

Mit diesem Anspruch einer Theoriegenerierung aus den Daten ist natürlich eine ganze Reihe von Forderungen und auch Auflagen, also bestimmte methodische Herangehensweisen, verbunden. Zum einen handelt es sich bei der Grounded Theory, wie aus der Formulierung „Theoriegenerierung aus den Daten“ bereits zu erkennen ist, um einen im Kern eher induktiven Ansatz, da zunächst auf der Ebene der Daten begonnen wird und nicht bereits vorformulierte Hypothesen getestet werden. Diesen Rahmenprozess kann man durchaus als eine erste TRIADE bezeichnen:

92 Hildenbrand (1998), S.11.

93 Vgl. hierzu auch Böhm (2000), S.475ff.

• Induktion94

• Deduktion

• Verifikation

Mit Induktion ist hier die Entwicklung von Hypothesen oder Fragen aus den Daten gemeint. Auffälligkeiten in den Besonderheiten der Daten werden demnach in Hypothesen umgewandelt und durch Deduktion wieder an das Material rückgebunden. Diese Rückbindung kommt einer Überprüfung oder einer Verifikation gleich. Das heißt durch diese Triade ist bei der Grounded Theory der Rückbezug zu den Daten stets gewährleistet und es kann , sofern der Forscher sich an diese Vorgehensweise hält, nicht passieren, dass er vom Material abschweift oder es gar ganz aus den Augen verliert.

An diese grundsätzliche Vorgehensweise schließt sich die Forderung an den Wissenschaftler oder Forscher an, dass er nicht explizit nach einer Theorie sucht, sondern dass es sich bei der Grounded Theory mehr um den Prozess der Entdeckung von Theorie geht. Ein Forscher muss sich dessen stets bewusst sein und daher stets versuchen den Daten offen gegenüber zu treten und sich nicht ausschließlich von seinem bereits vorher erworbenen Wissen leiten lassen.

Die weiteren Besonderheiten dieser Vorgehensweise, oder dieses Stils95 Theorien zu generieren hat Bruno Hildenbrand in vier Punkten zusammengefasst, die meines Erachtens die Spezifika der Grounded Theory recht gut wiedergeben:96

1. Der Fall wird als eigenständige Untersuchungseinheit aufgefasst und auch als solche behandelt. Als Fall kann dass angesehen werden, was von Strauss selbst auch als „soziale Welt“ bezeichnet wird. Als „Fall“ oder auch „soziale Welt“ gilt hierbei eine autonome, strukturierte Handlungseinheit, die zum einen eine Geschichte hat, zum anderen offene Grenzen aufweist und zum dritten und vielleicht wichtigsten, in welcher ein bestimmtes Problem gelöst wird (z.B.

Krankenhaus, Familie, verschiedene Diskursgemeinschaften, und auch Berghütten). 97

2. Sozialwissenschaftliche Interpretation wird von Strauss als Kunstlehre betrachtet. Der Forscher erarbeitet sich ein Grundgerüst, ein Handwerkszeug und ist dann auf sich allein gestellt. Er arbeitet dann mit diesem Werkzeug die

94 Es wird hier in der Literatur auch von der Abduktion gesprochen, einem Schlussverfahren, dass, ausgehend von einer Idee, zu allgemeinen Schlüssen kommt. Vgl. Reichertz (2000).

95 Strauss (1998), S.30.

96 Hildenbrand (1998), S. 11ff. Siehe auch Hildenbrand (2000), S. 32ff.

97 Siehe auch Abschnitt 3.1.4. „Raum der Verstehens“.

Farben und Formen seiner sozialen Umgebung heraus (gleich einem Künstler, der die Farben oder Formen seiner Umgebung aufnimmt). Er beobachtet, er versucht zu verstehen und wenn möglich auch zu erklären.98 Es sind demnach zwei Komponenten dieses Charakteristikums, die hier auffallen. Zum einen der unvoreingenommene Blick99 und zum anderen das Gestalten von Wirklichkeit in der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit.

3. Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken: Wie weiter oben bereits ausgeführt, ist das wissenschaftliche dem alltäglichen Handeln und Denken nicht unähnlich. Das alltägliche Denken ist allerdings, im Vergleich zum wissenschaftlichen Denken, stärker routinisiert. Das wissenschaftliche Denken verfügt, im Gegensatz zum alltäglichen Denken, über das Privileg der Handlungsentlastetheit.

4. Die Offenheit sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung: Dieses Kriterium scheint einerseits sofort einleuchtend, andererseits desillusionierend. Begriffe sollten zum einen keine unumstößlichen Artefakte sein, da dadurch ein Fortschritt des Denkens verhindert würde. Zum anderen taucht dann die etwas metaphysisch anmutende Frage auf: Wenn nicht wissenschaftliches Denken und Begriffe feststehen, was steht dann überhaupt fest? Forschung im Sinne der Grounded Theory zu betreiben heißt demnach keine unumstößlichen Theorien zu produzieren. Da das Untersuchungsobjekt (sei es Mensch, Gruppe, oder Raum) sich stetig wandelt, oder allgemeiner gesprochen, da sich die soziale Wirklichkeit stetig wandelt, müssen sich auch die wissenschaftlichen Begriffe stetig wandeln und sich immer wieder an der Wirklichkeit bestätigen. Die Prozesshaftigkeit dieser Art der Forschung wird demnach sehr stark in den Blickpunkt gestellt.

Die im vierten Punkt angesprochene Prozesshaftigkeit bildet einen, man kann fast sagen, starken Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Forschungs-richtungen. Sie wird sowohl in dem ersten Buch von Glaser und Strauss100, als auch in den folgenden Schriften, die die Autoren teilweise mit anderen Autoren veröffentlicht haben, stark betont.101

98 Zu den Begriffen „Verstehen“ und „Erklären“ siehe Abschnitt 3.1. dieser Arbeit. Vgl. auch Soeffner (1999) S.43ff.

99 Hildenbrand (1998), S.13.

100 Glaser/Strauss (1967), “The discovery of Grounded Theory – Strategies for Qualitative Research“

101 Vgl. Glaser/Strauss (1998), Strauss (1998), Strauss/Corbin (1996).

Am deutlichsten wird die Forderung der Grounded Theory nach ständiger Veränderung und Angleichung an die Daten, also eben die Prozesshaftigkeit in der zweiten TRIADE. Diese Triade wird von Strauss als das Charakteristikum der Grounded Theory bezeichnet, deren temporale und relationale Aspekte vom Forscher stets berücksichtigt werden müssen. Die drei Komponenten der TRIADE sind: Datenerheben – Kodieren – Memo schreiben.