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4. Die Praxis – Menschen und Hütten / Hütten und Menschen

4.3. Menschen und Hütten

4.3.4. Der Bergführer

Der Bergführer ist einer von zwei Typen, die sich nicht unbedingt freiwillig auf einer Berghütte aufhalten. Ihm und dem Hüttenwirt kann man diese Freiwilligkeit in einem gewissen Sinne absprechen, denn beide befinden sich auf der Hütte um Geld, das heißt ihren Lebensunterhalt, zu verdienen, wenngleich sie sich beide diese Position oder Umgebung gewählt haben.178 Dies ist jedoch nicht der einzige Grund. Wenn ein Bergführer nicht vom Tal aus mit seinen zahlenden Gästen auf Tour geht, dann trifft er sie auf einer Berghütte. Meist sind die Gäste in diesem Fall bereits auf der Hütte und er kommt am Morgen der Tour nach oder er trifft auch noch am Abend davor ein.

In diesem Fall ist die Hütte also zunächst als eine Art Marktplatz für den Bergführer

178 Aufgrund dieses Sachverhaltes ist es uneindeutig, ob der Bergführer als Gast oder als Ansässiger betrachtet werden soll. Er hat sowohl Züge in seinem Verhalten, die einem Gast ähneln, aber auch die Privilegien eines dort Ansässigen.

zu betrachten. Hier oben trifft er seine Kunden und kann seine Ware anbieten, also sich selbst bzw. sein Wissen und Können.

Apropos Können: Der Bergführer hat, ähnlich dem Berggeher, ein profundes oder, besser gesagt, meist exzellentes Wissen über die Bergwelt im Allgemeinen und ganz besonders über eine bestimmte Region, in der er hauptsächlich seine Arbeit tut.

Er kann also im Sinne von Schütz oder Hitzler179 als Experte mit Expertenwissen angesehen werden. Dies allein unterscheidet ihn noch nicht unbedingt von dem Berggeher, der meist über ein ebenso profundes Wissen verfügt. Würde man demnach einen Bergführer abseits seiner gewohnten Umgebung treffen und würde er sich äußerlich nicht durch bestimmte Details (Aufnäher von Bergschulen oder Namensschildern oder ähnlichem) von den anderen abheben, dann könnte man ihn nicht unbedingt von einem Berggeher unterscheiden. Das heißt, dass der Bergführer für ein neues Mitglied der Welt der Berghütte zunächst mal nur durch die äußerliche Unterscheidung als Bergführer erkennbar wird. Gibt es äußerlich, also aufgrund der Kleidung etc., keine Möglichkeit den Bergführer von einem anderen Gast zu unterscheiden, dann müssen andere Merkmale herangezogen werden, die eine Unterscheidung möglich machen. So werden dann z.B. Statur, die Farbe der Haut, die sonstige Ausrüstung und vor allem der Umgang mit anderen Hüttenbesuchern oder dem Wirt als Unterscheidungskriterien herangezogen. So kann man feststellen, dass der Bergführer oft zerzauste Haare hat, eine sonnengegerbte braune Haut, die am Oberarm in ein bleiches Weiß übergeht und der meist sehr gute, aber ältere Bergschuhe trägt und dessen Ausrüstung meist etwas umfangreicher ist als für eine bestimmte Tour notwendig erscheint. Hinzu kommen Kriterien in Sprache und Auftreten, die einen Bergführer bei genauerer Betrachtung als solchen erkennbar machen. Sprache und Auftreten sind allerdings nicht vollständig voneinander zu trennen. So ist aufgefallen, dass der Bergführer zum einen durch seine Sprache und zum anderen durch seine Art, den Worten Nachdruck zu verleihen, den anderen mitteilt, dass er die Führungsposition innehat. Er entscheidet schlussendlich über die Route oder über die Abmarschzeit und sein Wort gilt. Er steht somit auf einer hierarchischen Position über seinen Gästen, wenngleich er ohne sie diese Aufgabe gar nicht hätte.

Dies bringt uns zur Perspektive des Anderen, also desjenigen, der als Kunde mit dem Bergführer eine Tour geht. Da während der Beobachtung aufgefallen ist,

179 Vgl. hierzu wiederum Schütz (1972), S. 85ff. Siehe auch Hitzler (1994).

dass bei Erzählungen oder Schilderungen von Routen eines Bergführers kaum oder keine Widerworte von Gesprächspartnern gegeben wurden, wird hier angenommen, dass das Wort einen Bergführers als feststehend, wahr oder vertrauenswürdig gilt.

Die Gesprächspartner sehen im Bergführer die Instanz oder den Experten, als der er hier bereits vorgestellt wurde. Die widerspruchsfreie Kommunikation erinnert fast schon an Gläubige, die nicht das Wort gegen einen Priester erheben würden, da dadurch die letzte Instanz angegriffen würde. Damit soll nicht behauptet werden, dass ein Bergführer eine gottgleiche Stellung innehat, aber durch die Daten lassen sich diesbezüglich begründete Vermutungen aufstellen. Der Bergführer ist demnach eine, wenn auch nicht die, Zentralfigur. Er wird als Wissender angesehen oder als Lehrer. Dieser Autoritätsglaube basiert nicht nur auf dem, was der Bergführer vorstellt, was er sagt oder tut, sondern auch und vor allem auf seinem Titel.180 Der Titel „Bergführer“ bringt ihm diese Privilegien. Und auch wenn es sich bei einem spezifischen Bergführer nicht um einen guten Bergführer handelt, so wird ihm dennoch durch diesen Titel zunächst ein hoher sozialer Status zugeschrieben. Zum Bergführer macht ihn demnach nicht nur sein Wissen oder seine Erfahrung, sondern eben der erwähnte Titel. Obgleich der Titel das Wissen und die Erfahrung nicht zwingend beinhalten ist der Status des Bergführers, auch ohne den direkten Nachweis seines Wissens, der eines Experten, der ihn vom „Mann auf der Straße“181 unterscheidet.

Aufgrund dieser Konstellation von Wissen und sozialem Status, ergeben sich für den Bergführer Privilegien, aber auch Pflichten. Die Privilegien, hier allesamt bezogen auf den Raum der Berghütte, sind zusammenfassbar als „lebens- und arbeitserleichternd“. So hat der Bergführer z.B. das Privileg mit einen Auto oder Motorrad (sofern es der Weg zulässt) bis zur Hütte zu fahren. Er bekommt einen separaten Raum für seine Ausrüstung oder auch einen separaten Raum zum Übernachten. Diese Privilegien werden hier so genannt, weil sie Verbesserungen der Lebenssituation des Bergführers darstellen. Dies war jedoch früher eher umgekehrt.

In den frühen Jahren des Alpinismus182 war der schönere oder komfortablere Raum in einer Hütte den Gästen vorbehalten. Die Bergführer mussten sich oft kleine Räume mit ihren Kollegen teilen. Dieses Verhältnis zwischen Bergführer und Geführten hat sich gewandelt. Vom einfachen „Arbeiter“ wurde der Bergführer mit der

180 Vgl. Bourdieu (1987), S. 31 ff.

181 Vgl. Schütz (1972), S. 85ff.

182 Vgl. Krämer (1985), S. 10.

Zeit zum „Privilegierten“. Damit hat sich das frühere Verhältnis also stark gewandelt.

Dennoch ist der Bergführer, auch wenn er selbst dies nach außen so darstellt und auch von den Gästen und Kunden so angesehen wird, nicht nur ein Privilegierter oder Wissender. Denn die Pflichten seines Berufes sind eben auch damit verbunden, dass er jeweils unterschiedliche Kunden mitunter 30 mal im Jahr auf ein und denselben Berg führt, sodass damit eine bestimmte Routine oder gar Eintönigkeit verbunden ist, die seinen Beruf auch nicht von anderen unterscheidet. Dies scheint vielen Berggehern und Wanderern nicht bewusst zu sein, wenn sie mit einem Bergführer auf Tour sind oder sich mit ihm unterhalten. Denn es existiert, so wird hier behauptet, ein Mythos183 des Bergführers als eines abwechslungsreichen und den gesellschaftlichen Zwängen enthobenen Berufs. Dieser Mythos scheint beiden nicht direkt bewusst zu sein und wird daher nicht explizit zum Thema von Unterhaltungen.

Jedoch durch die Erzählungen des Führers, die, gegenüber seiner Interaktionspartner, nie die Eintönigkeiten seines Berufs enthalten, wird dieser Mythos aufgebaut. Er entwickelt sich somit als Konsequenz des Verhaltens des Bergführers, wobei hier nicht davon ausgegangen wird, dass dieses Verhalten absichtsvoll, also zweckgerichtet, genau auf die Entwicklung eines solchen Mythos hinzielt. Durch den unhinterfragten Glauben (Glauben-Wollen) der Interaktionspartner an die Vielschichtigkeit und Abwechslung des Bergführerberufs wird dieser Mythos jedoch zu einem Teil des Wissensbestandes der Berghütte, wodurch er auch an die Mitglieder und über diese auch an andere, neue Mitglieder weitergegeben und reproduziert wird.

Die Hütte ist für den Bergführer, und das soll hier am Ende nochmals hervorgehoben werden, der Ort, an dem er zum dem wird oder das bleibt, was er ist:

Nämlich, in den Augen der Gäste, derjenige, der eine sehr enge Bindung an und das ein sehr großes Wissen über die Bergwelt im Allgemeinen hat. Auf der Hütte ist er, neben oder nach dem Wirt, der unhinterfragte Experte. Er braucht die Hütte um dieses Bild aufrechtzuerhalten. Die Hütte ist der Ort, an dem dieses Bild gespeichert und bewahrt wird. Sie ist aber nicht nur das Gedächtnis, oder das Archiv für solche

183 „Mythos“ wird dieses Verhältnis nur genannt in Ermangelung eines besseren Ausdrucks. Darunter soll lediglich verstanden werden, dass der Bergführer für die meisten Personen die auf einer Berghütte verkehren eine erstrebenswerte Position innehat. Er befindet sich Tag ein, Tag aus dort, wo die meisten seiner Kunden nur ein paar Mal im Jahr sein können. Die mit dem Beruf des Bergführers verbunden Pflichten werden bei solchen Betrachtungen von „außen“, also von den Kunden, meist nicht berücksichtigt. Ihre Vorstellungen sind geprägt von den erfahrenen Situationen und somit geprägt von der Person des Bergführers als einen freundlichen, wissenden „Naturburschen“, der die Probleme der „Talgesellschaft“ kaum kennt und somit, so kann angenommen werden, genau das verkörpert, was der Wanderer oder auch Berggeher für erstrebenswert hält.

Vorstellungen, sondern ganz praktisch für ihn auch der Ort, an dem er die Grundlage für seinen Lebensunterhalt trifft: Die Menschen, die ihm vertrauen und mit ihm gegen Bezahlung auf Tour gehen.