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Selbst- und Fremdeinschätzung

4. Die Praxis – Menschen und Hütten / Hütten und Menschen

4.3. Menschen und Hütten

4.3.1. Der Berggeher 164

4.3.1.2. Selbst- und Fremdeinschätzung

Der Berggeher ist also unter den Hüttengästen derjenige, der die größte Erfahrung in diesem Raum, dieser Umgebung besitzt. Dies ist zum einen an den Touren erkennbar, die von ihm gemacht werden und die von anderen nicht zu begehen wären, wie z.B. Gletscherquerungen, die für den Berggeher teilweise nur Übungstouren sind. Die Empfindungen für leichte oder schwere Touren sind verschoben. So war die Gletscherquerung für einen Berggeher auf der Hochtal-Hütte am Tag zuvor nur eine „Tour zur Eis-Eingewöhnung“ und der 3300m hohe Gipfel war

„zwar eine schöne Tour, aber eben recht einfach“. Auf die Frage, was denn dann eine schwere oder anspruchsvolle Tour sei, antwortet dieser, dass der Bianco-Grat am Piz Bernina oder eine Tour über das Mer de Glace hoch zum Mont Blanc schon etwas Besseres wäre.

Dieses Beispiel führt zu der begründeten Vermutung, dass die Einschätzungen von Touren durch den Berggeher immer relativ zu seinem Wissen und zu seiner Erfahrung sind. Bei ihm verschiebt sich das Schwierigkeitsniveau einer Tour, wie bei einem anderen Sportler oder Koch oder Heimwerker dergestalt, dass nicht die gleichen Dinge oder Arbeiten als anstrengend, gefährlich, arbeitsintensiv oder anspruchsvoll gelten wie bei anderen Menschen mit weniger Erfahrung in einem diesbezüglichen Rahmen. Begriffe wie „leicht“ und „schwer“, oder „anspruchsvoll“

sind also relativ und der Zusatz „anspruchsvoll“ für den Berggeher mag einem

„unmöglich“ für den Touristen gleichkommen.

Der Berggeher ist als Typ, wie er bis hierher dargestellt wurde ein Wissender.

„Er kennt sich aus“169, und wenn er nach Touren oder Routen gefragt wird zeigt oder veräußert er dieses Wissen auch, nicht jedoch ohne eine gewisse Vorsicht. Vor allem dann, wenn er nicht genau weiß mit wem er es zu tun hat. Kennt er seinen Gegenüber oder glaubt ihn einschätzen zu können, dann gibt er bereitwillig Auskunft über die Schwierigkeiten und auch die beeindruckenden Ausblicke einer bestimmten Route. Dies geschieht zum einen, so die hier verfolgte Interpretation, aufgrund dessen, dass nach einer Phase des Kennenlernens der Berggeher zu wissen glaubt, dass er einen Gesprächspartner gefunden hat, der sein Verständnis und seine Empfindungen, das Leben in den Bergen betreffend, teilt, und zum anderen, weil er es als seine Aufgabe ansieht in gewissem Maße Verantwortung zu übernehmen und

169 Ausspruch einer meiner Gesprächspartner mit einem Fingerzeig auf einen anderen Hüttenbesucher, als ich frage, wer mir etwas über die Situation auf den Gletschern sagen kann.

seinen Gesprächspartner auf die Eventualitäten einer Tour vorzubereiten. Dies zeigt wiederum ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, welches, zumindest unter Berggehern, vorhanden sein muss und als grundlegende Bedingung für einen solchen Austausch angesehen werden kann.

Diese Lesart oder Interpretationsmöglichkeit wird meines Erachtens noch dadurch gestärkt, dass der Berggeher seine eigenen Fähigkeiten in derlei Gesprächen zwar angemessen einschätzt, aber eher zu Untertreibungen seines eigenen Könnens neigt, wenn er sich mit anderen vielleicht nicht gar so Erfahrenen unterhält, um sich mit ihnen auf eine ähnliche/annähernd gleiche Stufe zu stellen.

Andererseits werden von ihm dann auch sehr eindeutig Bedenken geäußert, wenn er glaubt, dass eine Tour für eine gewisse Gruppe oder einen Einzelnen zu schwer sei.

Dann werden die Fähigkeiten, die für eine Tour benötigt werden auch klar dargelegt und nichts beschönigt („Du musst schon wissen wie man am Seil geht und einen Pickel solltest Du auch benutzen können“). Das heißt, er würde von einer Tour abraten, die, nach seiner Einschätzung, nicht einfach ist und wo die Fähigkeiten seines Gegenübers nicht ausreichen. Als Wissender übernimmt er Verantwortung für andere, verlässt sich aber nie nur auf sich selbst, sondern holt stets Rat bei Bergführern oder dem Wirt.

Sich selbst betreffend riskiert der Berggeher nie alles, geht nie absichtlich bis zum Äußersten, denn ihm ist wohl bewusst, dass bestimmte Faktoren, wie z.B.

Wetter, Ausrüstung und eigene Fitness, nicht völlig berechenbar sind. So geht er nur Touren bei denen er sich völlig sicher ist diese auch schaffen zu können („Wenn Du das machen willst, dann musst Du bei einer kleinen Klettertour schon zwei Schwierigkeitsgrade mehr drauf haben, sonst darfst Du die hier nicht machen“). Für ihn steht zwar das Erlebnis im Vordergrund, aber er ist nicht bereit einen zu hohen Preis dafür zu zahlen. Und so hört man aus seinem Mund oft: „Wenn es nicht geht, dann kehrt man eben wieder um“ oder „ Wir machen keine Experimente!“. Denn, und damit trifft man wohl zumindest zum Teil den Kern dessen, was der Berggeher verkörpert, dieser will kein guter Berggeher werden, sondern ein alter170.

170 Unabhängig voneinander hörte ich diesen Spruch („kein guter, sondern ein alter Bergsteiger werden“) zweimal von Berggehern, die beide zuvor einen 3300m hohen Berg bestiegen hatten.

4.3.1.3. „Richtige Hütten gibt’s kaum noch“ – Beurteilungen des Berggehers Der Berggeher ist zwar derjenige, der, abgesehen von dem Wirt und dem Bergführer171, wohl die dauerhafteste Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Berghütte hat. Von ihm sind aber nur sehr sporadisch Äußerungen und Beurteilungen über Hütten und deren Aussehen, Veränderungen oder Regeln usw.

zu hören. Nachdem nach einigen Gesprächen nicht unbedingt eine eindeutige Richtung zu erkennen war, welche Kriterien für den Berggeher bei der Wahl einer Berghütte eine Rolle spielen, kann das meiner Ansicht nach nur in eine Richtung interpretiert werden. Auch wenn er Hütten als „schön“, „gemütlich“ oder „nett eingerichtet“ bezeichnet, so ist doch nicht ganz herauszufinden, was aus seiner Perspektive damit gemeint ist, das heißt, ob dieses „schön“ beim Berggeher eine bestimmte Form hat (wie dies beim Genusswanderer der Fall ist)172 und ob er damit irgendetwas Spezifisches verbindet (Einrichtung, Lage, andere Menschen) oder ob er etwas Bestimmtes auf einer Hütte sucht (Ruhe, Ursprünglichkeit). Dies öffnet den Weg für eine Interpretation, die zwar nicht ohne weiteres mit dem in Einklang zu bringen ist, warum der Berggeher in den Bergen ist, aber die hier als einzig Vernünftige offen bleibt.

Der Berggeher – und ich erinnere daran, dass es sich hierbei um einen Typus handelt, der wohl kaum genau so an einer Berghütte anzutreffen ist – hat keine Präferenzen, wenn es darum geht eine bestimmte Hütte für seine Touren zu wählen.

Er wählt nicht die Touren nach den Hütten aus, sondern definitiv die Hütten nach den Touren. Die Hütte ist für ihn, wie bereits erwähnt, ein Ort an dem Sicherheit besteht, ein Ort, an dem er seine Tour planen und organisieren kann und ein Ort, an dem für das leibliche Wohl gesorgt wird usw. Er ist wohl angetan von dem Gedanken auf einer Hütte, die der Hochtal-Hütte gleicht, die Möglichkeit einer warmen Dusche zu nutzen, aber genauso ist er mit traditionsreicheren Hütten verbunden, auf denen mehr oder weniger Verzicht geübt werden muss (wie auf der See-Hütte), weil die Möglichkeiten für eine „zivilisierte“ oder sagen wir besser „moderne“ Versorgung nicht gegeben sind.

171 Zu diesen Typen siehe weiter unten die Kapitel mit gleichnamigen Überschriften (4.3.4. und 4.3.5.).

172 Siehe Abschnitt 4.3.2. dieser Arbeit.