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TEIL I: THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND STAND DER WISSENSCHAFT

3. Telemonitoring als Innovation in der Gesundheitsversorgung

3.1 Die Theorie der Innovation

Die Lehre über den Umgang mit Innovationen geht zurück auf Schumpeter, der bereits im Jahr 1926 in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung die Neukombination von Dingen und Kräften einforderte. Er spielte dabei auf neue, noch unbekannte Güter, die Erschließung neuer Märkte sowie die Entdeckung neuer Produktionsmethoden an und legte damit den Grund-stein für die sog. Innovationsforschung.78 Im Jahr 1947 konkretisierte er seine Definition, in-dem er Innovationen als Umsetzung neuer Kombinationen in die Realität bezeichnete („[…]

the doing of new things or the doing of things that are already done, in a new way.“79). In den folgenden Jahren entstanden zahlreiche weitere Definitionen, die den Begriff der Innovation teils enger, teils weitläufiger definieren, jedoch erfolgte bislang keine einheitliche und ver-bindliche Festlegung.80 Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff der Innovation maß-geblich von Hauschildt (1993) geprägt. Er versteht unter einer Innovation „[…] im Ergebnis qualitativ neuartige Produkte oder Verfahren, die sich gegenüber dem vorangehenden Zustand merklich […] unterscheiden. […] Die Neuartigkeit besteht darin, dass Zwecke und Mittel in einer bisher nicht bekannten Form verknüpft werden. Diese Verknüpfung hat sich auf dem Markt oder im innerbetrieblichen Einsatz zu bewähren. Das reine Hervorbringen der Idee genügt nicht, Verkauf oder Nutzung unterscheiden Innovation von Invention […].“81.

Um ein Verständnis für die Komplexität der unterschiedlichen Definitionsansätze zu erhalten, wird zunächst der Begriff der Innovation von dem der Invention abgegrenzt. Innovation und Invention unterscheiden sich dahingehend, dass es sich bei einer Invention lediglich um eine neue Idee handelt, die jedoch noch keine Umsetzung im wirtschaftlichen Sinne erfahren hat.

77 Vgl. Blachetta et al. 2016, S. 26.

78 Vgl. Schumpeter 1926, S. 100.

79 Schumpeter 1947, S. 151.

80 Vgl. Hauschildt et al. 2016, S. 3f; Vahs und Brem 2013, S. 20; Perl 2007, S. 20; Hauschildt 1993, S. 3.

81 Vgl. Hauschildt 1993, S. 8.

Sie kommt damit einer Erfindung gleich. Die Innovation hingegen erfährt eine Diffusion in den Markt und wird durch Nachfrager angenommen.82

Die Ausbreitung von Innovationen in einem sozialen System im Zeitablauf zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren ist dabei Gegenstand der Diffusionsforschung83.84 Als Diffu-sion wird dabei der Prozess charakterisiert, durch den eine Innovation über bestimmte Kanäle und einen gewissen Zeitraum unter den Mitgliedern eines sozialen Systems verbreitet wird.85 Der Prozess einer erfolgreichen Innovationsdiffusion verläuft idealtypisch in Form einer S-Kurve und lässt sich auf Makroebene wie in Abbildung 2 illustriert modellieren. Zu Beginn des Diffusionsprozesses ist der Anwendungsgrad der Innovation gering, steigt nach Erreichen ei-ner kritischen Masse deutlich an und verbreitet sich von dort eigenständig weiter. Erst gegen Ende des Diffusionsprozesses flacht der Kurvenverlauf langsam ab, bis die Innovation eine vollständige Adoption erreicht.

Abbildung 2: Diffusionskurve von Innovationen mit S-förmigem Verlauf.

Quelle: Darstellung in Anlehnung an Rogers 2003, S. 112.

Rogers konstruiert dabei eine Typologie verschiedener Übernehmer (adopters), die sich neben ihres sozioökonomischen Status, ihres Kommunikationsverhaltens sowie ihrer Persönlich-keitsmerkmale v.a. hinsichtlich ihres Adoptionszeitpunktes eingruppieren lassen.

82 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 21; Perl 2007, S. 20f.

83 Als Vorreiter wird Everett M. Rogers angesehen, dessen Buch Diffusion of Innovations von 1962 als Stand-ardwerk im Bereich der Diffusionsforschung gilt. Vgl. Rogers 1962.

84 Vgl. Hensel und Wirsam 2008, S. 27.

85 Vgl. Rogers 2003, S. 5f.

Anwendungsgrad

Forschung und Entwicklung

Markt- einführung

Innovation Diffussion

Zeit/

Phasen

Die ersten 2,5 % der Übernehmer werden dabei als Innovatoren (innovators) bezeichnet.

Diese besitzen eine hohe Risikobereitschaft und Unsicherheitstoleranz. Daher eignen sie sich besonders, neue Ideen zu erproben und zu integrieren. Zusammen mit den frühen Überneh-mern (early adopters; 13,5 %) spielen sie eine Schlüsselrolle im Diffusionsprozess und verhel-fen der Innovation durch ihren Vorbildcharakter innerhalb des sozialen Ecosystems zu einer wachsenden Akzeptanz.86

Hat die Innovation den Punkt der kritischen Masse erreicht, wird sie von der großen Gruppe der frühen Mehrheit (early majority; 34 %) übernommen. Diese sind zwar im Vergleich zu den innovators und early adopters meist keine Meinungsführer, tragen jedoch entscheidend zur Ausbreitung der Innovation bei. Die zweite große Gruppe der späten Mehrheit (late majority;

34 %) ist Innovationen gegenüber eher zurückhaltend eingestellt und übernimmt diese meist erst, wenn sich sozialer oder wirtschaftlicher Druck zeigt. Die late majority zeigt sich tenden-ziell risikoavers.87

Um eine vollständige Diffusion zu erreichen, muss die Innovation auch die sog. Nachzügler (laggards; 16 %) erreichen. Diese gelten als stark risikoavers und als grundsätzlich skeptisch gegenüber Neuerungen.88 Abbildung 3 zeigt in diesem Rahmen auf, dass das Überzeugen der early adopters und damit das Erreichen der kritischen Masse eine entscheidende Rolle für den Diffusionsprozess einer Innovation spielt. Diffusion bedeutet dabei „die tatsächliche Nutzung und Verbreitung der Innovation auf ihrem potentiellen Markt“89, die mit der Annahme der Innovation durch die innovators und die early adopters beginnt. Anders als der Übernahme-entscheidungsprozess, der einen individuellen Vorgang bei einem potentiellen Nachfrager darstellt, beschreibt die Diffusion das Resultat aller Adoptionsentscheidungen eines sozialen Systems.90

86 Vgl. Rogers 2003, S. 282f.

87 Vgl. ebd., S. 283f.

88 Vgl. ebd., S. 282ff.

89 Holwegler 2003, S. 10.

90 Vgl. Hensel und Wirsam 2008, S. 27.

Abbildung 3: S-förmige Diffusionskurve und Adopterkategorien Quelle: Darstellung in Anlehnung an Rogers 2003, S. 112.

Insgesamt lassen sich drei verschiedene Innovationsarten unterscheiden: (i) Produktinnovati-onen, (ii) Prozessinnovationen (auch Verfahrensinnovationen genannt) sowie (iii) Strukturin-novationen.91

Eine Produktinnovation stellt aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein neues Produkt dar, das die Wettbewerbsposition des Unternehmens bewahren und die Kundenzufriedenheit sicherstel-len soll. Daher ist diese Art der Innovation vorwiegend auf dem außerbetrieblichen Markt an-gesiedelt, um den Nutzen und die Effektivität für die Nutzer zu verbessern. 92

Prozessinnovationen führen primär nicht zu Verbesserungen auf Seiten der Nachfrager, son-dern stellen vorrangig innerbetrieblich auf eine effizientere Nutzung von Produktionsfaktoren bei der Erstellung von Produkten oder Dienstleistungen ab, wobei eine Nutzung zur Umsatz-generierung nicht ausgeschlossen ist.93 Produktinnovationen ziehen oft Prozessinnovationen nach sich und diese regen wiederum die Entwicklung neuer, innovativer Produkte an. Beide Arten sind somit häufig eng miteinander verbunden.94

91 Vgl. Hauschildt et al. 2016, S. 6; Vahs und Brem 2013, S. 54ff; Trott 2008, S. 16; Thom 1980, S. 32ff.

92 Vgl. Perl 2007, S. 38.

93 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 56.

94 Vgl. Bratan und Wydra 2013, S. 25f.

Innovatoren (2,5 %)

Frühe Übernehmer

(13,5 %)

Frühe Mehrheit

(34 %)

Späte Mehrheit

(34 %)

Nachzügler (16 %) Kritische

Masse

Adoptionsrate %

100

Unter Strukturinnovationen verstehen sich grundlegende Veränderungen in den systemischen Strukturen einer Branche. Sie werden daher auch als Systeminnovation bezeichnet. Über die geschaffenen Veränderungen in den Rahmenbedingungen haben sie zudem direkten Einfluss auf die im System stattfindenden Produkt- und Prozessinnovationen.95

Unabhängig von ihrer Art besitzen Innovationen vier typische Merkmale: (i) Neuheitsgrad, (ii) Unsicherheit, (iii) Komplexität und (iv) Konfliktpotential.96 Der Neuheitsgrad einer Innovation ist dabei das charakteristische Merkmal, über das sich Innovationen von Routineaufgaben dif-ferenzieren. Dieser Grad kann von einer geringfügigen Veränderung bereits etablierter Pro-zesse und Objekte bis hin zu gänzlichen Neuerungen variieren.97

Das Merkmal des Neuheitsgrades steht in direktem Zusammenhang mit dem der Unsicherheit.

Während des gesamten Inventionsprozesses einschließlich der nachfolgenden Schritte wie etwa der technischen Umsetzung, der Umstellung von Prototypen zur Serienfertigung und der Markteinführung sind Investitionen sowie die weiteren Prozessschritte risikobehaftet und schwer prognostizierbar. Je höher der Neuheitsgrad ist, umso weniger kann auf Erfahrungen aus vergangenen Innovationen zurückgegriffen werden und umso höher ist der Grad an Unsi-cherheit. Lediglich Erfahrungen, die den Innovationsprozess als solchen betreffen, sind an-wendbar und vermehrbar.98

Diese Unsicherheit wird auch durch das Ausmaß an Komplexität der Innovation bedingt. Kom-plexität beschreibt dabei „den Grad der Überschaubarkeit […], gemessen an der Anzahl der Elemente sowie der Anzahl und der Verschiedenartigkeit der Beziehungen dieser Elemente zueinander“99. Innovationen betreffen dabei eine Vielzahl inner- und außerbetrieblicher Teil-bereiche der jeweiligen Ecosysteme und sind deshalb nicht isoliert zu sehen, sondern als Quer-schnittsaufgabe, welche die Zusammenarbeit verschiedener Akteure erfordert. Als zentrale

95 Vgl. Bratan und Wydra 2013, S. 26.

96 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 31ff.

97 Vgl. Franken und Franken 2011, S. 209.

98 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 33; Perl 2007, S. 31f.

99 Vahs und Brem 2013, S. 33.

Herausforderung resultiert das Management dieser Komplexität.100 Nach Rogers (1971) be-zieht sich die Komplexität einer Innovation auch darauf, wie gut diese von der Gesellschaft verstanden und umgesetzt wird.101

Aus einer steigenden Komplexität und Anzahl an beteiligten Personenkreisen kann im Innova-tionsprozess Konfliktpotential entstehen, etwa wenn ein neues innovatives Produkt am Markt als direkter Konkurrent eines alten Produktes auftritt oder die Innovation in Konflikt mit der Rechtslage oder der öffentlichen Meinung steht. Eine bewusste Auseinandersetzung mit mög-lichen Konflikten ist erfolgskritisch, um diesen bereits im Innovationsprozess vorzubeugen und die Akzeptanz der Innovation zu erhöhen.102 Konflikte können jedoch nicht nur als Problem angesehen werden, sondern auch als Grundlage für weitere kreative Lösungen und damit als einhergehende Innovationen dienen.103

Zwischen den beschriebenen Merkmalen bestehen deutliche Zusammenhänge und Abhängig-keiten. In der vorliegenden Literatur gilt dabei der Neuheitsgrad als das konstitutive Merkmal einer Innovation, aus welchem sich mehrere Innovationsausprägungen ableiten lassen.104 Als Basisinnovationen werden dabei Innovationen bezeichnet, die in Bezug auf neue Technolo-gien einen Durchbruch bedeuten und für die in einem vorgelagerten Schritt neue Erkenntnisse generiert werden müssen.105 Sie sind daher als vergleichsweise komplex einzustufen, da nur in geringem Ausmaß auf bereits bestehendes Wissen zurückgegriffen werden kann.106 In der Regel folgen auf Basisinnovationen eine Vielzahl von Routine- oder Verbesserungsinnovatio-nen, die auf den Erkenntnissen dieser vorliegenden Innovationen oder Technologien auf-bauen.107 Aus Basisinnovationen müssen jedoch nicht nur gleiche Produkte in ausdifferenzier-ter Form hervorgehen, sondern sie können auch die Grundlage für weiausdifferenzier-tere Innovationen dar-stellen, die sonst nicht möglich gewesen wären.108 Derartige Folgeinnovationen stellen meist eine Verbesserung der Nutzenparameter oder eine Problemlösung dar.109

100 Vgl. Perl 2007, S. 35f; Bürgel et al. 1996, S. 19f.

101 Vgl. Rogers und Shoemaker 1971, S. 22.

102 Vgl. Franken und Franken 2011, S. 215.

103 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 35f.

104 Vgl. Hensel und Wirsam 2008, S. 9ff.

105 Vgl. Franken und Franken 2011, S. 205.

106 Vgl. Uhlmann 1978, S. 44.

107 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 64; Trommsdorff und Schneider 1990, S. 4.

108 Vgl. Henke et al. 2011, S. 13.

109 Vgl. Vahs und Brem 2013, S. 64; Trommsdorff und Schneider 1990, S. 4..

In diesem Zusammenhang sei kurz auf die Untergruppen der Imitationen und Scheininnovati-onen hingewiesen. Als ImitatiScheininnovati-onen werden bewusste Nachahmungen von Produkten und Problemlösungen existierender Innovationen anderer Wettbewerber bezeichnet. Scheininno-vationen täuschen dem Nutzer eine Verbesserung oder einen erhöhten Nutzen vor, obwohl dies im engeren Sinne nicht der Fall ist, etwa bei Designänderungen eines ansonsten gleich-bleibenden Produkts.110