• Keine Ergebnisse gefunden

5. ROSABETTY MUÑOZ: BAILE DE SEÑORITAS

5.4 Das tanzende Schiff

Chiloé es un navío enceguecido dando vueltas sin parar

sobre remolinos de agua. (S7)

Die drei Zeilen sind dem ersten Abschnitt des Buches als Motto vorangestellt. Sie stellen die prekäre Situation der Insel dar. Das Schiff Chiloé treibt führungslos auf dem Meer und dreht sich auf Strudeln im Kreis. Schon im Motto manifestiert sich also die Isotopie des Sehens und Erblindens. Die ganze Insel ist blind geworden, ohne Kurs und ohne Ziel.

Das Bild gibt zunächst die geographische Situation, aber auch die historische Entwicklung Chiloés wieder: Es liegt vom Festland abgeschnitten, also auf sich selbst gestellt an einer sehr exponierten Stelle des Ozeans, nämlich sozusagen an der Haustür, die fast alle Besucher durchschreiten müssen. Die Wasserstrudel versinnbildlichen die wechselvolle Geschichte der Insel, die verschiedentlich eingenommen und wieder preisgegeben wurde.

Diese sich wiederholende Bewegung drückt sich in „dando vueltas“ aus. Chiloé dreht sich im Kreise und kommt nicht von der Stelle. Die Geschichte geht nicht voran, die Verse beklagen das Fehlen einer Entwicklung.

Ein Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass es sich um eine Insel handelt, die für eine lange Zeit kaum mehr ist als ein im Stich gelassener Außenposten. Diese Situation schildern die beiden Texte Expuesta und Vuelo y Caída. Der Titel Expuesta spricht für sich,

5. ROSABETTY MUÑOZ: BAILE DE SEÑORITAS

und der dazugehörige Text erinnert an den Angriff der Piraten, die trotz Gewalt und Brandschatzung willkommen waren:

Prontos a herir

se amontonan en las afueras de mí.

Un ojo sobre otro.

Me voy a ellos con los brazos abiertos. (S23)

Wie bereits im Gedicht Bucaneros wird der Aggression mit Wehrlosigkeit und offenen Armen begegnet.

Der folgende Text Vuelo y Caída (S24) endet mit den beiden Versen „La profunda indefen-sión / de las vivientes que expusimos el pecho“. Hier wird die Frau wieder als Mutter dargestellt, die anderen Leben und Nahrung gibt. Zum anderen kann man an an das christ-liche Symbol des Pelikans denken, der seine Brust anderen ausliefert. In der Emblematik des Barock werden Pelikane dargestellt, die, um ihre Jungen vor dem Verdursten zu retten, sich die eigene Brust verletzen und sie ihr Blut trinken lassen. Sie symbolisieren das Martyrium Christi die seine selbstlose Liebe für die Menschen, die er mit seinem Blut errettet. Ich möchte nicht unterstellen, dass Muñoz die Fabel Der Pelekan von Lessing kennt, 104 aber doch auf eine erstaunliche Parallele aufmerksam machen. In dieser Fabel wird die bedingungslose, sich aufopfernde Liebe als Blindheit dargestellt – so wie auch das Verhalten der personifizierten Insel und der Frauen bei Muñoz als blind oder verblendet charakterisiert ist. Außerdem lässt sich auch hier ein Bogen zu Bucaneros schlagen:

„Vocación de abrazo para el hijo del pirata“ scheint vor diesem Hintergrund nichts anderes zu sein als die Fürsorge der Frauen für ihre Kuckucks-Kinder.

In der christlichen Symbolik ist der Pelikan ein ausgesprochen positives Symbol: Er steht für Frömmigkeit, häufig auch für Jesus, der sich für die Menschen opferte. Muñoz kommt aus einer gläubigen Familie. „Rosabetty Muñoz [...] desarrolla una escritura que evidencia marcas de un sujeto femenino católico.“ (Mansilla 1996:Introducción) Jedoch hat sie sich schon in ihrem Buch Canto de una oveja del rebaño kritisch mit der traditionellen Religiosität, mit der sie aufwuchs, auseinandergesetzt. Von der traditionellen Bedeutung des christlichen Symbols des Lammes bleibt in diesem Gedichtband nicht viel übrig, sie wird hinterfragt

104 Lessing lässt in seiner Fabel Der Pelekan den Adler dies Geschehen beobachten: „Ein frommer Pelekan, da er seine Jungen schmachten sahe, ritzte sich mit scharfem Schnabel die Brust auf, und erquickte sie mit seinem Blute. Ich bewundere deine Zärtlichkeit, rief ihm ein Adler zu, und bejammere deine Blindheit. Sieh doch, wie manchen nichtswürdigen Kuckuck du unter deinen Jungen mit ausgebrütet hast!“ (Lessing 1997:312)

5. ROSABETTY MUÑOZ: BAILE DE SEÑORITAS

107 und aufgeweicht.105 Etwas Ähnliches geschieht mit der Geste der dargebotenen Brust, die als Arterhaltungstrieb des Pelikan in der Religion mystifiziert wurde und im Text von Muñoz etwa im Sinne von Lessing als Kritik verstanden werden muss.

Hier komme ich wieder auf die im Kreise verlaufende Geschichte Chiloés zurück: Weder das politisch-geographische Ausgeliefertsein noch das instiktive Sich-selbst-Ausliefern werden als der Hauptgrund für die stagnierende Entwicklung nahegelegt, wie das Bild des trudelnden Schiffes sie darstellt. Die eigentliche Ursache der Ziel- und Orientierungs-losigkeit liegt den Versen des Mottos nach in der Blindheit. Chiloé ist blind gegenüber den wiederholten Invasionen und Übergriffen, blind gegenüber der eigenen Mitschuld.

Es ist fraglich, inwieweit man diese Feststellung auf die Eroberung der Insel beziehen kann. Ganz sicher ist es jedoch ein Appell der Autorin an die Frauen, ihren eigenen Beitrag am Sexismus und an der Diskriminierung der Frau zu erkennen. Und wahrscheinlich ist ebenso die Blindheit gegenüber Verbrechen der Militärdiktatur gemeint, also die Mitschuld der schweigenden Bevölkerung oder das Versäumnis – wie Sergio Mansilla es ausdrückt –, die Zeichen nicht erkannt zu haben. (Mansilla 1996c:41)

Muñoz weiß in diesem Zusammenhang auch um ihre eigene Blindheit gegenüber der Diktatur:

Delante de nosotros sí que sacaron – pero lo sé ahora – a profesores, desde el mismo liceo, para llevárselos. Y yo no supe entonces ni lo supe hasta muchos años después y sé que mis compañeros tampoco lo supieron. No fue un tema que se conversara.

Lo que pasaba en el país estaba mediatizado por tres o cuatro muros: la condición insular de Chiloé, los años que teníamos, nuestros hogares y ambientes. Me tocó estar justamente en un grupo en el que el tema no tenía ninguna relevancia. ¡Yo no sé cómo, pero no lo tenía! De manera que todo ese eco no me llegó hasta que salí de Chiloé. (Trujillo 1993b:Kap.3.5)

Muñoz’ Worte machen deutlich, dass die geographische Isolation Chiloés zur Blindheit und zur Ignoranz bestimmten Entwicklungen gegenüber geführt hat.

An zwei Stellen werden die Frauen direkt mit der Insel identifiziert: („un enfrentamiento de ojos / que provocó la rendición de la isla“, S10; „Y el archipiélago –maternal consistencia“, S19), durchweg ist jedoch eine starke Verbundenheit der Frauen zu ihrer Heimat zu spüren. Es ist, als beteiligte sich Chiloé, indem es sich im Wasser im Kreise dreht, am Tanz der Señoritas. Dieser Tanz der Geblendeten entsteht aus der Begegnung der Kulturen und aus der Begegnung der Geschlechter:

105 Vgl. hierzu: „Canto de la oveja del rebaño asume la eficacia de la imagen religiosa del pastor y su rebaño para una representación alegórica de la historia colectiva y personal en el Chile de fines de los años 70 y comienzos de los 80.“ (Mansilla 1996:Kap.4)

5. ROSABETTY MUÑOZ: BAILE DE SEÑORITAS

La presencia de los extranjeros crea las condiciones para que ocurra el “baile de señoritas”, que no es sino remedo grotesco de los sofisticados baile [sic] de sociedad y a la vez remedo de las danzas para la fertilidad, que en el caso de la mitología de Chiloé, hace alusión a la Pincoya. (Mansilla 1996:Kap.2)

Da Chiloé bekannt ist als Hort von Legenden und Mythen, sollte die Anspielung auf die Figur der Pincoya erläutert werden. Die Pincoya ist eine mythologische Gestalt, Tochter einer Frau und des Meeres-Königs, eines Zwitterwesens, halb Mann, halb Seelöwe. Sie wird beschrieben als hellhäutig und blond, worin sich bereits der europäische Einfluss mani-festiert. Von ihrem Vater hat sie die Fähigkeit, das Meer fruchtbar zu machen. Tanzt sie am Strand mit dem Gesicht zum Meer, so ist beim Fang von Fischen und Meeresfrüchten reiche Beute zu erwarten. Wendet sie jedoch beim Tanz das Gesicht dem Land zu, so werden die Fischer mit leeren Netzen nach Hause kommen. Normalerweise ist sie dem Volk von Chiloé wohlgesonnen: Sie rettet Schiffbrüchige und bringt die Ertrunkenen zum Geisterschiff Caleúche, wo sie in immerwährender Zufriedenheit ein neues Leben beginnen. Wenn jedoch jemand einem anderen Menschen oder dem Meer ein Leid zufügt, so bestraft die Pincoya die Menschen mit ihrem Tanz. (Quintana Mansilla:23ff.)

So zweischneidig wie der Tanz der blonden Pincoya ist auch der Tanz, bzw. das Verhalten der Frauen der Insel und letztlich der Insel selbst: Einerseits tanzen sie für die Fremden, die ihre Faszination ausüben und die Insel in ihren Bann ziehen, andererseits ist der Tanz Ausdruck der Traditionen und Bräuche von Chiloé. Im Tanz blicken sie vorwärts, und blicken zurück. Doch es fällt schwer, beides miteinander zu vereinbaren. Mansilla formu-liert das im Ton der Hoffnungslosigkeit:

Como la poesía de Muñoz efectivamente lo explicita, la representación lírica se vuelve despliegue de una identidad fragmentada que sabe que sus raíces ya no obedecen ni a pureza ni a homogeneidad cultural alguna. La pérdida del pasado premoderno activa el deseo, contradictorio, por el pasado como reacción contra un presente donde la “pena” y lo espectral tienen sus dominios: el pasado no es sino el triste espectáculo de la locura por lo imposible. (Mansilla 1996:Kap.2)

Im Text Miradura ist ein Aufbruch beschrieben. Zunächst machen die Bewohner aus ihrem Dorf ein Schiff:

trabajamos calladamente

disfrazando el pueblo.

Le armamos cuadernas cubrimos aparejos

desplegamos un velamen invisible para impulsarlo mar adentro. (S31)

In den letzten fünf Versen sehen sie die Küste hinter sich verschwinden. „Navegamos / sensuando con las olas / en roce erizado y espumante“.

Das Dorf – oder auch die ganze Insel – löst sich nun vollends vom Festland, von Chile. Da die Bewohner aktiv an dieser Loslösung arbeiten, ist kaum die unfreiwillige Isolierung

5. ROSABETTY MUÑOZ: BAILE DE SEÑORITAS

109 Chiloés Anfang des 17. Jahrhunderts gemeint. Das Geschehen erweckt eher den Eindruck von symbolischer Bedeutung durch die surreale Komponente: Chiloé scheint sich mit der sinnbildlichen Entfernung vom Festland von der Realität zu lösen. Dafür spricht auch der Begriff „disfrazando“. Die letzten Verse legen nahe, dass es nicht darum geht, auf dem Seeweg ein Ziel zu erreichen, sondern die chilenische Küste aus den Augen zu verlieren und eins zu werden mit dem Takt der Wellen. So könnte man den Zustand der Menschen auf Chiloé während der Diktatur beschreiben, für die das galt, was Muñoz von sich selbst berichtet: „el tema [de la dictadura] no tenía ninguna relevancia. ¡Yo no sé cómo, pero no la tenía! De manera que todo ese eco no me llegó hasta que salí de Chiloé“. (Trujillo 1993b:Kap.5.3)

Ob die Menschen von dem tatsächlichen Geschehen im Land abgeschirmt wurden oder ihre Augen davor verschlossen, ihre Situation ähnelt in jedem Fall der einer Besatzung auf einem Schiff weit draußen auf dem Meer.

Im vorletzten Gedicht Deseo findet sich noch einmal das Bild des Schiffes: „El deseo es un barco poderoso / arriando anclas y cadenas / en medio de la noche“. Dieses Schiff steht für den Wunsch und die Sehnsucht. Es ist gewaltig und sticht in See „con el estrépito de las posibilidades“ (S57) und erinnert an das Schiff, das die Menschen bauten, um damit aufs offene Meer zu segeln („impulsarlo mar adentro“). Aber das Sehnen kann auch eine andere Gestalt annehmen:

Es también, el despliegue de luces en las islas de canales tan angostos donde un barco, más que navegar acaricia. (S57)

Dieses Bild ist dem des Schiffes auf hoher See entgegengesetzt: Es beschreibt die engen Kanäle mit zahllosen kleinen Inseln. In der Nacht, in der das Sehnsuchts-Schiff seinen Hafen verlässt, wecken die Lichter auf den Inseln das Gefühl von Geborgenheit und Heimat. Alles ist vertraut, alles ist Nähe; eine zärtliche Nähe, in der das Schiff bei der Fahrt durch die schmalen Kanäle die Inseln streichelt.106

Es sind die Sehnsucht nach der Ferne, der Fremde, dem Neuen und der Wunsch nach Heimat, Geborgenheit und Althergebrachtem, die miteinander um Chiloé wettstreiten und das blinde Schiff sich im Kreise drehen lassen.

106 Das Bild erinnert an die sexuell konnotierte Metaphorik im Text Bucaneros.

5. ROSABETTY MUÑOZ: BAILE DE SEÑORITAS