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Schreie aus der Vergangenheit und Träume von der Zukunft

7. ELICURA CHIHUAILAF: EN EL PAÍS DE LA MEMORIA

7.2 Schreie aus der Vergangenheit und Träume von der Zukunft

1988 erschien Chihuailafs zweiter Gedichtband En el país de la memoria. Im Nachwort beschreibt Chihuailaf den Charakter dieses Buches folgendermaßen: „[...] libro blanco que toma conciencia de la historia y que quiere ser el primer grito de un pueblo al que no dejan nacer“. (Chihuailaf 1988:76) Das Buch besteht aus 41 Gedichten, davon fünf Überset-zungen ins Mapudungun.

Estación de ferrocarriles (S14)

Aufschluss über Anlass und Thema dieses Textes gibt seine Widmung. Die Zueignung „A los asesinados en Ranquil (Alto Bío Bío)“ erinnert an die bei einem Massaker in Ranquil im Jahre 1934 getöteten Mapuche.160 Der Ausgangspunkt der Ausschreitungen, eine Auseinan-dersetzung der ansässigen Mapuche mit Regierungstruppen um den Besitz der Anbau-flächen, war nur einer von vielen Kämpfen um Land in dieser Zeit. Die Regierung verkaufte und versteigerte immer mehr von den ursprünglich den Mapuche und anderen Kleinbauern zugestandenen Gebieten an Großgrundbesitzer. Wo ihnen ein bisschen Land gelassen wurde, wurden sie durch Verkauf des angrenzenden Bodenbesitzes isoliert und unter Druck gesetzt. Die Bauern lehnten sich auf, und die Regierung setzte ihre Agrar-Politik mit militärischer Gewalt durch. Der größte Teil der an diesen Unruhen beteiligten Bauern waren Mapuche, die dagegen angingen, dass ihr Land fortschreitend reduziert und sie selbst immer weiter vereinzelt wurden.

160 Patricio Manns hat über dieses Massaker das Buch Actas del alto Bío-Bío geschrieben. Auffällig ist die Form seines Textes, in dem der Erzähler, ein Winka, mündliche Berichte der Geschehnisse auf Tonband aufzeichnet. „La narración restablece así ficticiamente la forma ritual que toma la trans-misión de la memoria oral, pero indica al mismo tiempo las circunstancias extraordinarias de esta transmisión: la presencia de un forastero con su grabadora, condición para la aparición de un texto escrito.“ (Lienhard 1990:305) Auch in Manns Text findet sich die Problematik der schwindenden mündlichen Tradierung und der möglichen – sowie fragwürdigen – Unterstützung von außen, um mit Hilfe kulturell fremder Elemente (Tonband, Schrift) die Überlieferung zu bewahren. (Manns 1985)

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165 Der Text beginnt mit einem scharfen Lärm, der von Zügen herrührt: „Gritos estridentes de trenes madereros“. Da es sich nicht um Personenzüge handelt, könnte man zunächst an das schrille Kreischen der Bremsen eines Zuges denken. Da aber die Widmung ein Verbre-chen ankündigt, werden spätestens beim nächsten Vers aus den Bremsen gellende Schreie:

„recuerdan viajeros taciturnos de Lonquimay“. Das durchdringende Geräusch erinnert an schweigsame Reisende. Das Paradox von Schreien und Schweigen löst sich auf, wenn man weiterdenkt, dass die Opfer, denen der Text gewidmet ist, für immer zum Schweigen gebracht wurden.

Eines der bekanntesten Opfer des Massakers von Ranquil war der Cacique Ignacio Maripe, der über 15 Jahre früher sein Land in Lonquimay verloren hatte. Die Erwähnung von Lonquimay soll daran erinnern. Die folgende Zeile gibt die Jahreszahl des Ereignisses an.

Sie ist in Worten ausgeschrieben, was ihr ein größeres Gewicht gibt.

Die drei letzten Zeilen eröffnen einen neuen Aspekt: „Por quienes aún suele posarse / el sonar de arcabuz / en los barrancos“. Die schweigsamen Reisenden hören das Geräusch von Arkebusen. Die Arkebuse, auch Hakenbüchse genannt, ist eine mittelalterliche Feuer-waffe, ursprünglich eine Armbrust, und eine der Waffen, mit denen die Spanier Amerika eroberten. Einer Legende nach feuerte einer von Pizarros Leuten bei der Ankunft in Tahuantinsuyu seine Arkebuse ab, was bei den Inka großen Eindruck hinterließ, und sie in ihrer Vorstellung noch bestärkte, dass es sich bei den Fremden um Viracocha, den bärtigen Schöpfergott und sein Gefolge handele, auf dessen Rückkehr aus dem Osten sie warteten.

(Delanoir 2000:Kap.1)

1565 wurde die Arkebuse zur Muskete weiterentwickelt, die die Arkebuse im Heer bald vollständig ersetzen sollte. Kleinere Kompanien, die dem jeweiligen Landsherrn unter-standen, benutzten diese Waffe durchaus noch länger. Es kann allerdings ausgeschlossen werden, dass sie im 20. Jahrhundert noch irgendwo zum Einsatz gekommen sein soll.

Wenn hier das Massaker von Ranquil 1934 mit dem Geräusch von feuernden Arkebusen untermalt wird, so soll eine Parallele zwischen den blutig niedergeschlagenen Arbeiter- und Bauernaufständen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem frühen Widerstand der Mapuche gegen die Conquista gezogen werden. Für jene Reisenden aus Lonquimay sind die Arkebusen der Spanier noch nicht verstummt. Wenn es sich auch schon längst nicht mehr um tatsächliche Arkebusen noch um Spanier handelt, so ist doch die Unterdrückung durch die chilenische Regierung vergleichbar und der Kampf der Unterdrückten derselbe.

Eine weitere Parallele beider Szenarien findet sich in der Art der Darstellung der unter-schiedlichen historischen Ereignisse. Wie im Kapitel 7.1 (S163f) bereits zitiert, zieht

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Chihuailaf in seiner Kritik an der offiziellen Geschichtschreibung einen Vergleich zwischen dem Umgang mit der Geschichte der Mapuche und der Arbeiterbewegung in Chile. Beides würde zu wenig und zu tendenziös dargestellt und in der Öffentlichkeit meist tabuisiert.

Insofern funktioniert der Vergleich im Gedicht auf verschiedenen Ebenen. Die Gruppe der

„asesinados en Ranquil“, denen das Gedicht gewidmet ist, bezieht durch die Parallele auch die in den knapp 400 Jahren vorher getöteten Mapuche mit ein, ohne dass diese ausdrück-lich erwähnt werden müssten.

Mit dem Titel wird der Ort des Geschehens, ein Bahnhof, besonders hervorgehoben.

Damit greift Chihuailaf ein rekurrentes Motiv der südchilenischen Larendichtung auf.

Besonders in der Dichtung Jorge Teilliers spielen einsame oder verlassene Bahnhöfe und in der Ferne verschwindende Züge als Symbol der Nostalgie und der Vergangenheit eine große Rolle (vgl. Kapitel 6.4, S152f, Fußnote 148). Und auch Riedemanns Gedichtzyklus Karra Maw’n (der sicherlich nicht zur Larendichtung gezählt werden kann), endet mit der Metapher „se envidia a las locomotoras / porque saben a donde van“.

Die Larendichtung161 – oder zumindest die Diskussion um sie – ist so eng mit dem Süden verbunden, dass auch Chihuailaf Stellung beziehen muss: „Yo me pregunto, ¿no será que lo

‚lárico‘ chileno, hablando de todos sus representantes en la poesía, ha sido influido por la cultura mapuche y no al revés?“ (González Cangas 1999:71) Im selben Interview wird er kurz danach mit der Frage konfrontiert: „Luis Ernesto Cárcamo, crítico y académico, hoy radicado en E.E.U.U., decía en una ponencia exactamente todo lo contrario, que la poesía mapuche, específicamente la tuya, era la proyección del discurso lárico...“ (González Cangas 1999:72) Wird also die Larendichtung in der Mapuche-Lyrik aufgegriffen oder war die Dichtung der Mapuche Vorbild für die Larendichter?

Das Gedicht Estación de ferrocarriles spricht weder für das eine noch für das andere, sondern hat eher die Qualität eines sarkastischen Seitenhiebs auf den Larismo. Zwar geht es auch hier um Gegenwart und Vergangenheit, aber eben gerade nicht um den unwiederbring-lichen Verlust einer im Nachhinein verklärten Vergangenheit, sondern um die Parallelen und um die Vergleichbarkeit von Gewalt und Willkür in zwei sehr unterschiedlichen Zeiten.

El sueño de Lautaro (S15)

Lautaro (oder ursprünglich ‚Lautraru‘ wie in Zeile 14) war der Krieger, dem der siegreiche Ausgang der Schlacht von Tucapel zugeschrieben wird. An der Seite des lonkos Caupolicán

161 Vgl. Kapitel 3.4, S46.

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167 führte Lautaro die Mapuche im Jahre 1553 in die Schlacht, in der sie die Truppen Valdivias besiegten und Valdivia selbst Neujahr 1554 töteten. (Fuentes 51978:308) Der besondere Verdienst Lautaros war es, dass er den Mapuche nach seiner Gefangenschaft bei den Spaniern vieles über den Feind beibringen konnte. Zum einen hatte er die Schwächen der Spanier studieren können, ihre angreifbaren Stellen, zum anderen hatte er die wertvolle Fähigkeit erlernt, mit dem Pferd umzugehen. Die ersten Schlachten gegen die Spanier hatten die Araukanier verloren, weil sie große Angst vor den Pferden bzw. den Reitern hatten. Lautaro nahm ihnen nicht nur die Angst vor den berittenen Feinden, sondern lehrte sie, selbst zu reiten und das Pferd in der Schlacht zu nutzen. (Encina 1983:217f.) 1557 starb Lautaro in der Schlacht am Río Mataquito. Ercilla besingt den Helden Lautaro in der Araucana, und bis heute wird er in Chile nicht nur von den Mapuche als Freiheitskämpfer und Volksheld verehrt.

Von dem 15-zeiligen Gedicht stehen die ersten 13 Zeilen in Anführungszeichen, nach einem Absatz folgen die letzten beiden Verse in Klammern: „(Lautraru, lonko: abre los ojos / y ¡deja de soñar!)“ (S15). Die vorangegangenen Zeilen beinhalten also vermutlich das, was Lautaro träumt, eine nicht-reale Situation, die er erwünscht oder – in diesem Fall wahrscheinlicher – fürchtet: „Griterío de treiles y guairaos / vienen trazando una huella ruidosa / y espeluznante“. Das Geschrei von zwei in Südchile heimischen Vögeln legt eine Spur. Was sie rufen, ist laut und der Inhalt lässt die Haare zu Berge stehen. Sie schreien:

„Volvieron los ‚pacificadores‘ [...] / de cuello y corbata y sonrisa oscura“. Das Vogelge-schrei ist so erschreckend, weil es die Rückkehr der ‚pacificadores‘ ankündigt. ‚Pacificadores‘

bezieht sich auf die euphemistisch sogenannte Pacificación de la Araucanía und auf die Chilenen, die diesen Frieden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewaltsam erzwun-gen haben (vgl. Kapitel 6.1, S120). Ihre Wiederkehr, die Lautaro in seinem Traum erlebt, findet in Chihuailafs Gegenwart statt: Sie kommen mit Kragen und Krawatte „en el ocaso del siglo veinte“. Sie kommen nicht allein, sondern „Con sus ‚indios auxiliares‘ / carne de cañon / fotografiados en los periódicos“. Indios auxiliares werden die Einheimischen genannt, die von den Spaniern auf ihren Eroberungszügen durch Amerika zwangsrekrutiert wurden. Sie werden im Text als „modernos yanaconas“ bezeichnet, also mit den Indígenas verglichen, die zu Frondiensten gezwungen wurden. Bei den Schlachten standen die auxiliares in vorderster Linie und waren nichts anderes als – wie Chihuailaf sagt – „carne de cañon“: Kanonenfutter.162

162 Insgesamt verloren die Spanier im Araukanischen Krieg 50.000 eigene Soldaten und schickten 60.000 auxiliares in den Tod. „Many Spanish historians referred to Mapuche soil as the Spanish soldiers cemetery [sic] of The Americas.“ (Marhikewun 1998: The Long Mapuche War)

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Schließlich versucht jemand, Lautaro aus seinem Traum zu reißen. Er solle die Augen öffnen und aufhören zu träumen. Dieser Ruf kommt aus seiner eigenen Zeit, Mitte des 16.

Jahrhunderts, was die Schreibung seines Namens – im Gegensatz zur Schreibung im Titel – verdeutlicht.

Wir wissen, dass es mehr als ein Traum ist, eher ein Gesicht, eine Vision, die Lautaro hat, als er die Vögel hört. Auch hinter diesem Text steht der Gedanke der Wiederholung im Gang der Geschichte. Wie hätte Lautaro reagiert, hätte er gewusst, dass sein Kampf auf lange Sicht die Unterwerfung seines Volkes nicht würde verhindern können? Und wie, wenn er gewusst hätte, dass sich das Schicksal wiederholen würde? Diese Fragen wirft der Text auf, und eine mögliche Umgangsweise mit diesen Zweifeln ist eine fatalistische Weltsicht, in der der Mensch aus Wissen um die Vergeblichkeit seines Handelns in Reglosigkeit verharrt. Aber dies ist nicht die Reaktion, die der Text anbietet. Die letzten zwei Verse sollen nicht nur Lautaro auf den Boden der Tatsachen zurückholen, sondern auch diejenigen, die sich zu sehr in die Vergangenheit zurückziehen. Es scheint ein Aufruf zu sein, der daran erinnert, dass der Kampf immer gerade jetzt stattfinden muss, unge-achtet der Ahnungen oder Ängste die Zukunft betreffend. Denn gerade jetzt „en el ocaso del siglo veinte“ kommen die „pacificadores por infaustos caminos de sangre“.