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2. REPRÄSENTATIONEN VON GESCHICHTE

2.2 Geschichtsschreibung

2.2.2 Diskussionen

2.2.2.3 Die Annales

White zufolge ist für die Befürworter einer ‚sogenannten wissenschaftlichen‘ Historio-graphie „der fortgesetzte Gebrauch narrativer Darstellungsweisen bei den Historikern ein Indiz für gleichermaßen methodisches wie theoretisches Versagen”. (White 1987:57) Mit solchen und ähnlichen Aussagen wendet er sich insbesondere gegen die Schule der Annales18, deren sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaftler die narrative Historiographie nicht nur für unwissenschaftlich, sondern für eine „ideologierepräsen-tierende Strategie“ hielten. (White 1987:57)

Ihr Verdikt [das Verdikt der Annales] über die Geschichtserzählung (als einer „roman-haften“ Überbewertung zufälliger Einzelaktionen gegenüber der wahrhaft „wissen-schaftlichen“ Analyse langfristiger Strukturentwicklungen) will White treffen, wenn er nachweist, daß sich Sprache nie zu einem bloßen Transportmittel für „wahre“ statistische Daten reduzieren läßt, sondern selbst noch in dieser kargen Form ein integraler, eigen-dynamischer Bestandteil historischen Denkens bleibt. (Walther 1992:26)

Es sind zwei Dinge, die Historiker wie Marc Bloch, Lucien Febvre oder François Furet von der Schule der Annales an der traditionellen Geschichtsschreibung kritisieren. In ihrer formalen Argumentation werfen sie der traditionellen Historiographie vor, mit der Erzählstruktur bzw. Argumentation eines Textes die vom Autor vertretene Ideologie erkennen.

Nähere Ausführung dieses Schemas sowie Kritik daran siehe Fohrmann 1993.

17 „Die spätestens seit dem 18. Jahrhundert verbreitete Kontrastierung von Historie und Fiktion als Gegensatz von scheinbar auf Wirklichkeit bzw. – so der Vorwurf gegenüber der Fiktion – nur auf irreal-imaginäre Konstrukte verweisenden Darstellungsformen erscheint ihm hinfällig, weil die Geschichtsschreibung selbst als bloßes literarisches Artefakt und ihr Authentizitätsanspruch ledig-lich als Resultat einer erfolgreichen Illusionsbildung erkennbar werden.“ (Renner 1995:178)

18 Die Zeitschrift Annales dhistoire économique et sociale wurde 1929 von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründet und erschien seit 1947 unter dem Titel Annales. Economies, Sociétés, Civilisations. Aus ihr ist die École des Annales hervorgegangen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die positivistische Geschichtsschreibung insbesondere für die Sozialwissenschaften, aber zB auch für Geographie und Wirtschaftswissenschaften zu öffnen und eine größere Interdisziplinarität zu erreichen.

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tiven Darstellungsform zwangsläufig „ihren Gegenstand zu ‚dramatisieren‘ oder ‚roman-haft‘ zu gestalten“. (White 1987:65) In der Erzählung erhielten die Ereignisse ihren Platz innerhalb der Abfolge von Geschehen, es gebe einen Beginn und ein Ende, alles werde der Chronologie unterworfen, und diese überlagere die Bedeutung der Ereignisse selbst. (Furet 1987:162) „Tatsächlich folgt die traditionelle historische Interpretation der Logik der Erzählung: das Vorher erklärt das Nachher.“ (Furet 1987:157)

Die inhaltliche Kritik richtet sich gegen die Reduzierung der Geschichte auf vorwiegend politische Ereignisse, mit der die etablierte Historiographie den Gegenstand der Geschichte einseitig und beschränkt behandele. Stattdessen gaben die Historiker der Annales der Aufzeichnung zB sozialer, wirtschaftlicher oder demografischer Prozesse den Vorrang, wobei sie den Schwerpunkt auf eine quantitative Erfassung möglichst vieler Entwicklungen legten. (Clark 1999:239)

Hinter der Missbilligung der inhaltlichen Eindimensionalität, nämlich der Einschränkung auf die Politik, verbirgt sich zum einen die Meinung, Geschichte sei weniger die Ereignis-geschichte meist politischer Begebenheiten, als die sie bis dahin fast ausschließlich behandelt worden war, sondern vielmehr Struktur- oder Prozessgeschichte: „Zum Beispiel hat man jahrhundertelangen Stillstand für nichthistorisch gehalten. Nur der Wandel war historisch.“ (Furet 1987:156) Zum anderen folgen die Annales dem Beispiel der Sozial-wissenschaften, indem sie die Politik als „Lieblingsthema“ der traditionellen Geschichts-schreibung hinterfragen und durch andere Fragestellungen ersetzen:

Sie [die Geschichtsschreibung] zieht die Analyse verborgener Tendenzen der Analyse ober-flächlicher Veränderungen vor, das Studium des kollektiven Verhaltens dem der indivi-duellen Willensäußerung, die Untersuchung der ökonomischen und sozialen Deter-mination der der Institutionen und Regierungsbeschlüsse. So bearbeiten Demographie, Ökonomie und Soziolologie ein Gebiet, das immer mehr von all denen verlassen wird, die es solange bevölkert haben – die Könige, die Großen, die Nationen und das Schauspiel der Macht, um die sie alle ständig kreisten. (Furet 1987:159f.)

Aus den Forderungen der Annales ergaben sich verschiedene Strömungen. Allen gemeinsam ist das „Bestreben, bisher allzusehr vernachlässigte Aspekte der conditio humana aufzudecken, indem sie Bezüge materieller, sozialer und kultureller Art, Mentalität, Sitten und derartige Faktoren mehr berücksichtigen“. (Salvatori 1987:275)

Insbesondere möchte ich vier der im Zuge der nouvelle histoire entstandenen Strömungen skizzieren.

Die Geschichte der langen Dauer (histoire de longue durée) meint eine Geschichtswissenschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, „die ‚Zeichen‘ der Gesellschaft – deren Entwicklung vor allem über längere Zeiträume hinweg analysiert wird – zu entschlüsseln“. (Salvatori

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23 1987:277) Dabei gilt das Augenmerk der langfristigen Entwicklung und Veränderung gesellschaftlicher Strukturen (zB in demographischen Untersuchungen) „zur Entdeckung der geschichtlichen ‚Tiefe‘ anstelle des Zufälligen und rein Oberflächlichen“. (Salvatori 1987:275) Dieselbe Vorgehensweise verfolgt die Schule der Annales mit der „Forderung nach einer Aufwertung des ‚Sozialen‘ gegenüber dem ‚Politischen‘ “. Der narrativen Geschichtsschreibung, gegen die die Annales polemisiert, wird die eigene entgegengesetzt,

„die sich mit einer Analyse ‚langfristiger‘ Trends in Demographie, Ökonomie und Ethno-logie, d.h. mit unpersönlichen Prozessen befaßt“. (White 1987:64)

Der Untersuchungsgegenstand der Mikrogeschichte ist ein kleiner Ausschnitt der traditio-nellen Geschichtschreibung. Sie beschäftigt sich beispielsweise mit der Biographie eines einzelnen Menschen, der sich weder in der Politik- noch in der Kulturgeschichte einen Namen gemacht hat und somit stellvertretend verstanden werden kann für die Unter-suchung der allgemeinen Lebensbedingungen einer bestimmten Schicht. Mikrogeschichte kann sich auch auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beziehen oder auf das Leben in einem einzelnen kleinen Dorf, wie im berühmt gewordenen Beispiel Montaillou.19

Ein ähnliches Konzept verfolgt die Alltagsgeschichte, die statt von Staatsereignissen zu berichten, alltägliche Details des Lebens festhält. Dabei stehen Menschen im Mittelpunkt, die nicht als Individuen hervorstechen, sondern durch die Tatsache interessant werden, dass ihre Alltag der vieler anderer Menschen ähnelt. Der Fokus ist jedoch nicht so reduziert wie bei der Mikrogeschichte, stattdessen kann sich die Untersuchung zB auf eine gesamte Klasse beziehen.20

Die Mentalitätsgeschichte schließlich (lhistoire des mentalités), die „das Studium von ‚Mentali-täten‘ innerhalb einer Gesellschaft oder einer bestimmten Gruppe“ (Furet 1987:168) beinhaltet, arbeitet eng zusammen mit der Ethnologie und der Anthropologie und „beruht auf der Dialektik der erfahrenen Fremdartigkeit und der wiedergefundenen Vertrautheit“.

(Furet 1987:167)

Als später Ableger der Annales kann der New Historicism gelten. Der New Historicism ist gewissermaßen Geschichtsschreibung für Grenzgänger, da er programmatisch andere Disziplinen (Literatur, Literaturgeschichte, Ethnologie, Anthropologie) berücksichtigt. Die

19 Die Werke Montaillou, village occitan de 1294 à 1324 (Emmanuel Le Roy Ladurie, 1975) und La Méditerranée et le monde méditerranéen à lépoque de Philippe II (Fernand Braudel, 1949) waren gewisser-maßen die Publikumserfolge der Annales-Bibliothek.

20 So gehört beispielsweise die Untersuchung von Heiko Haumann: Arbeiteralltag in Stadt und Land.

Neue Wege der Geschichtsschreibung zur Alltagsgeschichte, aber nicht zur Mikrogeschichte, da sie ihren Gegenstandbereich nicht eng geographisch eingeschränkt.

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Anhänger dieser Strömung haben ein Interesse an ungelösten Konflikten und Wider-sprüchen, befassen sich mit der Peripherie, den Randerscheinungen, die Greenblatt die

„Fransen des Teppichs“ nennt. Allerdings betont Greenblatt, dass die Neuhistoristen ihr Augenmerk auch auf vermeintlich Unwichtiges, Befremdliches und Bizarres legen: Darstel-lungen von Träumen, Festen und Sexualität rücken in den Blick, Geburts- und Sterbe-register, Abhandlungen über Kleidung oder den Wahnsinn. Das bisher ausgeklammerte Gefühl der Differenz und Distanz solle wiederbelebt werden. (Greenblatt 1991:13f.)