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4. JUAN PABLO RIVEROS: DE LA TIERRA SIN FUEGOS

4.1 Die Feuer der Erinnerung

De la tierra sin fuegos – vom Land ohne Feuer – ist ein Gesang an die ursprüngliche Bevöl-kerung Feuerlands; an drei Stämme, deren letzte Angehörige im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gestorben sind; an Völker, die heute nicht mehr existieren.

Auf über 200 Seiten verbindet Juan Pablo Riveros Naturbetrachtungen, poetische Umsetzungen ethnologischer Beobachtungen, Zitate aus verschiedenen Quellen, ein Glossar mit kulturell wichtigen Begriffen und 18 fotografische Dokumente zu einer vielstimmigen Elegie an die ehemaligen Bewohner Südchiles. Dem eigentlichen Text vorangestellt findet sich eine Karte von Feuerland, das hier nicht nur als Name für die eigentliche Isla Grande de Tierra del Fuego verstanden wird, sondern für den gesamten Feuer-land-Archipel, wozu zahlreiche kleine Inseln bis hin zum Kap Horn gerechnet werden, die der Isla Grande südlich vorgelagert sind.

Der Name ‚Tierra del Fuego‘ geht auf den Seefahrer Magellan, bzw. seinen Logbuchschreiber Antonio de Pigafetta zurück. Auf der ersten Reise um die Erde brachen sie nach einem längeren Aufenthalt Ende August des Jahres 1520 von Puerto San Julián in Richtung Süden auf. Auf dieser Reise, auf der sie die den Atlantik und den Pazifik verbindende Meeresstraße entdeckten, die nach Magellan benannt werden sollte, fielen

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ihnen die unzähligen Lagerfeuer entlang den Küsten auf. Pigafetta vermerkte das im Logbuch und nannte das Land ‚Feuerland‘.54

An ihren Lagerstätten entzünden die einzelnen Stammesgruppen der hier beheimateten Nomadenvölker große Feuer. Da die friedlichen Stämme nicht fürchteten, entdeckt zu werden, sah man nachts den Lichtschein und tagsüber den Rauch, mit dessen Hilfe sie über größere Entfernungen miteinander kommunizierten.55 Die namensspendenden Feuer waren also Anzeichen für Leben. Riveros greift den Namen auf und modifiziert ihn zu:

Tierra sin Fuegos. Die Feuer und mit ihnen das Leben, für das sie gleichzeitig Symptom und Sinnbild waren, sind erloschen.

Obwohl sich der Titel auf das heutige (erloschene) Feuerland bezieht, beschwört Riveros mit seinem Text doch die ‚Tierra con Fuegos‘ herauf oder „Tierra del Fuego antes de su desaparición“, wie er selbst die vorangestellte Landkarte betitelt. Auf dieser Karte sind die Stammesgebiete der einzelnen Völker eingezeichnet, die einst Feuerland bewohnten: die Selk’nam, die Yámana und die Alacalufe.56

Riveros beschreibt das Leben der drei verschwundenen Volksgruppen, lässt ihre Götter und ihre Geister lebendig werden, beschreibt Bräuche und Rituale, schildert sowohl ihre Zeremonien als auch ihren Alltag und erzählt ihre Legenden. Durch empfindsame Landschaftsschilderungen, die den jeweiligen anthropologischen Betrachtungen voran-gestellt sind, wird der Eindruck von enger Verbundenheit der Menschen mit ihrer Umgebung hervorgerufen.57

54 „Im Süden der Meerenge erblickte Magallan nachts viele Feuer und nannte deshalb das Land Tierra de los fuegos = Feuerland.“ (Zitiert nach Koelliker 1908:115)

55 „Das Feuer wird von diesen Wilden immer lebendig erhalten, wo immer sie sein und gehen mögen, in ihren Wigwams, in ihren Hütten oder sogar in ihren Händen, in denen sie ein brennen-des Stück Holz tragen.“ (Fitz-Roy 1839:187, zitiert nach Gusinde 1974:21)

56 Riveros zeichnet auf seiner Karte das Gebiet eines weiteren Stammes ein, der Haush. Diese werden in der Literatur meist als eine Untergruppe der Selknam behandelt, die den Osten Feuer-lands bewohnten. Auch in Riveros Text finden sie nur im Glossar beiläufige Erwähnung. Nach anderer Meinung bilden sie eine eigene Volksgruppe, da sich zB ihre Sprache deutlich von der der Selknam unterscheidet (vgl. Los indios Haush 1999). Zur Notierung der Namen: Die Selknam werden auch Ona genannt, die Yámana Yahgana und die Alacalufe Qawashqar. Da Riveros in seinen Texten unterschiedslos jeweils beide Bezeichnungen verwendet, werde ich mich ebensowenig auf eine einzige festlegen, sondern mich in einzelnen Passagen der jeweiligen Wahl Riveros

anschließen.

57 „Wegen seines rauhen, feuchten, stürmischen Wetters war es [Feuerland] verrufen, jeder mied und fürchtete es. Durch diese Vorurteile konnte sich kaum einer der flüchtigen Beobachter, die jene Inselwelt bereisten, zum Verständnis für eine überraschend vollkommene und allseitige Anpassung des Indianers an seine trostlose Heimat hinaufringen. Und doch ist dort das Verhältnis zwischen Natur und Mensch so innig, daß daraus sich tatsächlich für ihn ein angenehmes Dasein gestaltet hat.“ (Gusinde 1931:63)

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53 De la tierra sin fuegos ist auch eine Hommage an den Ethnologen Martin Gusinde. Dem Text sind eine Widmung an Gusinde (sowie an den Ethnologen und Archäologen Joseph Emperaire) und einige Worte Gusindes vorangestellt. Das letzte Gedicht ist mit Despedida de Gusinde betitelt. Neben diesen offenkundigen und formal exponierten Bezügen, stellt Riveros mehr als 200 Seiten umfassende Versdichtung mit ihren Inhalten, Motiven, Zitaten und Bildern eine Huldigung an das Lebenswerk des Völkerkundlers dar.

Nach eigenen Angaben beschäftigte sich der Österreicher Gusinde (1886-1969) schon in seiner Jugend mit Feuerland und seinen Bewohnern58. Er lehrte an der Universität von La Plata in Argentinien und an der Universidad de Chile. Von 1918 bis 1924 machte er vier Forschungsreisen auf die Isla Grande und einige der vorgelagerten Inseln, um die noch lebenden Stammesangehörigen zu besuchen und studieren.

Vielmehr sah ich meine Aufgabe darin, nun noch in letzter Stunde, kurz vor dem Unter-gange jener Indianer, die Grenzen ihres Heimatgebietes und die Eigenart ihres Kultur-besitzes richtig festzustellen, die Lücken der vorliegenden Berichte auszufüllen und die kurzen Andeutungen früherer Forscher zu ergänzen oder durch neue Eigenbeobachtungen zu vertiefen. (Gusinde 1931:67)

Auf jeder seiner Reisen verlebte er Wochen oder Monate in Stammesverbänden der Feuerländer, lernte ihre Sprachen und durfte an rituellen Zeremonien teilnehmen. Das eindrucksvolle Ergebnis der Erfahrungen und Erkenntnisse dieser Reisen ist eine umfang-reiche Darstellung der Selknam, der Yámana und der Alacalufe. In drei jeweils über tausendseitigen Bänden dokumentiert Gusinde detailliert die Geschichte, die Kultur, die Lebensgewohnheiten, die soziologische Struktur, die Religion und Weltanschauung der einzelnen Stämme.

De la tierra sin fuegos ist auch die Anklage von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, genauer gesagt, zweier systematischer Massenvernichtungen von Menschenleben von Seiten der chilenischen Regierung. Neben dem offensichtlichen und für das zentrale Thema der Feuerländer unverzichtbaren Gegenstand der gezielten (sowie ungezielten) Ausrottung der Urbevölkerung durch die Weißen finden sich an verschiedenen Stellen Darstellungen von Folter, Deportation und Leben im Gefangenenlager während der Militärdiktatur. Die institutionalisierte Gewalt beider geschichtlicher Momente wird im Text parallelisiert.

58 „Mucho antes que este vapor entrara en el puerto de Río Grande, me habían llevado ya allí mis pensamientos y preocupaciones, mis esperanzas y el indescriptible entusiasmo de poder pisar luego la tierra (Tierra de Fuego), que vislumbrara ya en los espejismos de los ensueños de mi juventud y

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Schließlich ist De la tierra sin fuegos ein autobiographisches Zeugnis. Riveros ist auf verschie-denen Inseln des Feuerland-Archipels aufgewachsen. Eine besondere Rolle spielte dabei die Insel Picton, wo er seine früheste Kindheit verbrachte und wohin die Familie zurück-kehrte, als Riveros sechs Jahre alt war: „Caminaba –cuando tenía seis años y la familia volvió a vivir en Picton– por la arena y encontraba arpones, puntas de flechas que su padre coleccionaba.“ (Maack 1987:53) Die Bücher von Gusinde (die spanische Übersetzung erschien 1982) wecken in Riveros Erinnerungen an diese Zeit: „Es Gusinde quien habla en De la tierra sin fuegos, pero soy yo también, porque a través de su relato reconozco paisajes de mi infancia.“ (Maack 1987:53) Im Spiegel von Gusindes ethnologischem Werk erkennt Riveros die Wurzeln seiner eigenen Sozialisierung, seiner eigenen Geschichte:

[...] comprendí, cuando él [Gusinde] describía la vida de los yámanas, que nosotros – mis padres y hermanos – habíamos vivido como ellos, que fuimos una familia que se trasladaba y recorría esos mares como un yámana, que nunca tiene casa, en definitiva. (Maack 1987:54)

In mehrfacher Hinsicht stellt Riveros sein Werk in den Dienst der Erinnerung. In erster Linie will er (mit Gusinde) verhindern, dass Kulturen in Vergessenheit geraten, die unwiederbringlich verschwunden sind. Zweitens ist das Thema des Textes mit seiner persönlichen Vergangenheit verbunden. Drittens will er dem Anthropologen Gusinde ein Denkmal setzen. Und viertens schließlich soll an die Verbrechen der Diktatur und an ihre Opfer erinnert werden.

Riveros selbst nennt den Gedichtzyklus ein canto épico. (Maack 1987:56) Bei den einzelnen Texten handelt es sich um Gedichte in reimlosen freien Versen. Die verwendete Sprache ist vorwiegend traditionell-lyrisch: Es finden sich Ellipsen, Metaphern, formelhafte Wiederholungen von Wörtern oder Syntagmen sowie Alliterationen. Eine andere Wirkung haben die Stellen, an denen Zitate oder detaillierte Beobachtungen und Beschreibungen von ethnologischer Bedeutung eingeflochten sind. Dort entsteht der Eindruck, als handele es sich um einen Prosatext mit wissenschaftlich-dokumentarischem Anspruch.

Die Texte, die inhaltlich eng miteinander verbunden sind, sind in sechs Kapitel unterteilt.

In ihrer Abfolge beschreiben sie eine Reise, auf die Leserinnen und Leser den Erzähler begleiten. Nachdem die bereits erwähnte Karte uns geographisch situiert hat, berichtet der Erzähler in einem kurzen, ebenfalls den Gedichten vorangestellten Prosa-Text, wie er in eine andere Welt entführt wurde, in die Welt Feuerlands. Dieser Text ist die Schwelle, die beim Lesen überschritten werden muss, will man dem Erzähler nach Feuerland folgen.

cuya realización fuera uno de mis ardientes anhelos allá en mi patria lejana.“ (Gusinde, zitiert nach Riveros 1986:198)

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55 Zunächst schildern die acht Gedichte des Kapitels Naturaleza die natürliche Beschaffenheit des Feuerland-Archipels, die Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt. Es folgt ein kurzes Kapitel, bestehend aus einem einzigen Text, das mit Precauciones, ‚Vorsichtsmaßnahmen‘

überschrieben ist und eine weitere Schwelle bildet. Nach dem Eintritt in die Geographie Feuerlands betreten wir nun den kulturellen Kosmos der Feuerländer. Mit dem Über-schreiten dieser zweiten Schwelle gelangt der Erzähler langsam vom Äußeren der Land-schaft und der ihn umgebenden Natur zum Innerem des Lebens der Menschen. Es folgen drei Abschnitte, die nach den Volksstämmen Selknam, Yámana und Quawashquar benannt sind. Sie zählen 35, 27 und 36 Gedichte und bilden die Herzstücke des Buches. In diesen Texten durchreist das Ich die Lebens- und Vorstellungswelten der drei Stämme und schlüpft in verschiedene Personen, die sich durch seine Stimme zu Wort melden. Den Schluss, mit dem der Erzähler die durchreiste Welt verlässt, bildet wiederum ein Kapitel mit nur einem einzigen Text: Despedida – der Gedichttitel präzisiert Despedida de Martin Gusinde.

Es folgen Documentos: 18 Fotos aus den 20er Jahren. Bis auf ein Bild handelt es sich ausschließlich um Portraits der letzten Überlebenden aller drei Stämme, die Gusinde auf seinen Reisen aufgenommen hat. Schließlich listet ein Glossar einzelne Begriffe mit ihren Bedeutungen auf. Es finden sich geographische Bezeichnungen, Namen der in Feuerland heimischen Tiere und Pflanzen und Begriffe der verschiedenen Sprachen, die Riveros in seinen Texten unübersetzt verwendet.

In seinem Artikel über den Gedichtzyklus bemerkt Mauricio Ostria González:

En Chile, el rescate de la verdadera historia ha sido tarea principal – si no exclusiva – de poetas y narradores (casos paradigmáticos son los de Neruda y Droguett, pero podrían citarse muchos ejemplos), de modo que la intrahistoria chilena hay que leerla, muchas veces, en su literatura.

De la tierra sin fuegos (1986), de Juan Pablo Riveros se inscribe en esa tradición y constituye, sin duda, la apertura de un espacio hasta ahora casi desconocido en la geografía poética chilena. (Ostria González 1992:171)

Inwieweit bei Riveros ein „rescate de la verdadera historia“ vorliegt, vorliegen kann oder soll, wird meine Leitfrage für dieses Kapitel sein.