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Erschütterungen: Das Erdbeben und der Golpe de Estado

6. CLEMENTE RIEDEMANN: KARRA MAW’N

6.4 Erschütterungen: Das Erdbeben und der Golpe de Estado

Ya es suficiente. Es preciso estropear un poco el Paraíso.

Clemente Riedemann

Etwa in der Mitte des Buches steht der bedrohlich vorausweisende Text Pacificación y angustia. Das Gedicht mach einen Zeitsprung ins 20. Jahrhundert. Ein vermeintlich stabiler Zustand Chiles scheint erreicht zu sein. Doch alle Assoziationen, die der Text nahelegt, alle Vergleiche, die er heranzieht, stellen den Frieden oder das friedliche Zusammenleben in Frage. Das in der Bevölkerung entstandene Schweigen wird mit dem Kampf Galvarinos gegen die Conquistadores verglichen.136 Düstere Visionen von weinenden Lindenbäumen und Salamandern, die ihre sagenhafte Unempfindlichkeit gegen das Feuer verloren haben und zerschmelzen, bemächtigen sich der Menschen. Konkret-politisch drückt sich der schmale Grat eines unsicheren Friedens im folgenden Zitat des ehemaligen US-amerikanischen Aussenministers Henry Kissinger aus:137 „The foundation of a stable order is the relative security – and therefore the relative insecurity– of its members“ (S44; Hervorhebung von Riedemann).138 Das aus seinem Zusammenhang gerissene Zitat lässt offen, ob es sich bei der „stable order“ um

136 Der toki Galvarino wurde am 18. November 1557 von spanischen Truppen gefangengenommen.

Als abschreckendes Beispiel wurden ihm beide Hände abgeschlagen, eine Strafe, die er den Erzäh-lungen nach mit äußerster Tapferkeit erduldete. Danach wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Da er trotz seiner Verstümmelung weiterkämpfte, wurde er am 30. November erneut gefangen und erhängt. In der Araucana (Ercilla) wie auch in Arauco Domado (Pedro de Oña) wird er als Held der Mapuche gerühmt. (Fuentes 1978:221)

137 Sicherlich ist es nicht unwichtig, auf den Umstand hinzuweisen, dass Kissinger einer deutschen Familie entstammte. Das steht zwar in keinem direkten Zusammenhang mit dem verwendeten Zitat, bildet aber innerhalb von Riedemanns Text einen Rückbezug auf den Einfluss von Deut-schen auf die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Chiles. (Vgl. Kapitel 6.3)

138 Ich konnte die Herkunft des Zitates nicht ermitteln, stütze mich in der Interpretation also im Wesentlichen auf die Kontextualisierung durch Riedemann.

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145 diejenige der Vereinten Nationen handelt, zu deren „members“ Chile seit ihrer Gründung 1949 zählt, oder um eine innerstaatliche Ordnung. Im Gedichtkontext legt die Äußerung nahe, anzunehmen, dass konkret Chile immerfort vom Zusammenbrechen einer vermeint-lichen Sicherheit bedroht ist. Dass diese Bedrohung gerade vom Repräsentanten der US-amerikanischen Aussenpolitik ausgesprochen wird, muss im Zusammenhang mit der Tatsache verstanden werden, dass die USA den Sturz der Regierung Allende massiv unterstützt haben.

In den folgenden Zeilen verkehren sich die Vorstellungen von richtig und falsch: „De este modo, lo normal devino en la locura. El entusiasmo en una suerte de ingenuidad. La agudez intelectual, por extensión, se confundía con la franca estupidez“ (S45). Es folgt einmal mehr der Hinweis auf den sozialen Zündstoff, der nach wie vor in der kulturellen Heterogenität der Bevölkerung steckt. Während die Deutsch-Chilenen ihr Kulturgut pflegen, müssen die Mapuche darum bangen, dass ihnen ihre Hütten in Brand gesteckt werden: „DEJENME AL MENOS MI RUKA / NO ME LA QUEMEN“. In dieser Atmosphäre von Zwietracht und Bedrohung endet der Text mit den sarkastischen Versen

„El Wekufe dijo: ‚Ya es suficiente. Es preciso estropear un poco el Paraíso‘ “ (S45).

Noch immer – oder wieder – ist vom Paradies die Rede. Karra Maw’n hat noch nicht genug gelitten, Wekufe, das Böse, wird wieder zuschlagen. Folgerichtig ist das anschließende Gedicht Destrucción de Karra Maw’n betitelt. Wekufe hat ernst gemacht und seine Drohung in die Tat umgesetzt.

Das sechsseitige Gedicht Destrucción de Karra Maw’n beschreibt das Erdbeben von 1960, das bis heute als das schwerste überhaupt bisher gemessene Erdbeben gilt, und seine Folgen.

2.000 personas murieron (4.000 a 5.000 en toda la región), 3.000 resultaron heridas.

2.000.000 perdieron su hogar. Los ríos cambiaron su curso. Las montañas se movieron.

Nuevos lagos nacieron. En los minutos posteriores un Tsunami arrasó lo poco que quedaba en pie. El mar se recogió por algunos minutos y luego una gran ola se levantó destruyendo a su paso casas, animales, puentes, botes y, por supuesto, muchas vidas humanas. La geografía, como nunca se había visto, se modificó marcadamente. Algunas naves fueron a quedar a kilómetros del mar, río arriba. (Terremotos)

Riedemanns Text versucht gar nicht erst zu beschreiben, was passiert ist. Gleich der erste Vers macht deutlich, dass die Katastrophe bereits geschehen ist: „¡Oh Karra Maw’n destruida!“ Die Zeilen 4-6 geben zu verstehen, dass angesichts einer solchen Naturgewalt alle Bewohner Karra Maw’ns einander gleich werden: „aquel día de mayo cuando se detuvo / el mudai, el vesperbrot / la merienda“ (S49).139 An jenem Nachmittag im Mai wurde für alle das Leben unterbrochen, gleichgültig, welches ihre Muttersprache war.

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In Rückblicken werden verschiedene Eindrücke und Erlebnisse jenes Abends geschildert.

Dabei verfolgt der Text das Augenzeugen-Prinzip. Zunächst fragen die Zeilen 2-4 „Qué fue lo que vieron / los que vieron / aquel día de mayo“ (S49). Etwas später liefern die Zeilen 28 bis 55 dann den gewünschten Augenzeugenbericht: „Yo estaba allí [...]“ (S50).

Die Person berichtet, wie sie als Kind das Erdbeben erlebte, wie im Garten die Blumen und das Dreirad in einem stinkenden Loch versanken und der Vater ihnen befahl zu beten.

Und obwohl sie tagelang beteten, ließ sich die Katastrophe nicht ungeschehen machen:

„No rodó de vuelta a casa / la silueta amada del triciclo“ (S51). Nichts kam zurück, nichts konnte werden wie vorher.140

Einige der verschiedenen geschilderten Stadien des Erdbebens erinnern an Prophezei-hungen aus der Offenbarung. Im Bibeltext der Offenbarung 8.5 heißt es: „Und der Engel nahm das Räuchergefäß und füllte es mit Feuer vom Altar und schüttete es auf die Erde.

Und da geschahen Donner und Stimmen und Blitze und Erdbeben.“ Abgesehen davon, dass auch im Bibeltext von Erdbeben die Rede ist, findet sich bei Riedemann ebenfalls ein Aschenregen: „Y sobre Karra Maw’n caían / lluvia y chimeneas“ (S50) und „cayó ceniza“

(S51). In Offenbarung 9.2 liest man „Y abrió el pozo del abismo, y subió humo del pozo como humo de un gran horno, y se oscureció el sol y el aire por el humo del pozo“. Auch im Gedicht wird es dunkel: „Se oscureció de pronto“ (S49), und die Erde tut sich auf: „se dejaba ver un precipicio“, „zanja voraz“, „hoyo pestilente“ (S51).141 Einige Formulierungen gehen weit über eine Beschreibung hinaus:

[...] como una tierra sin dioses.

Fue más exigua la vida el año no pudo parir todos sus soles

¡Valía tan poco la muerte! (S49)

Riedemann bringt seine eigene Hilflosigkeit der Naturgewalt gegenüber zum Ausdruck, gleichzeitig gibt er sicherlich auch die Reaktionen der anderen Menschen wieder und die Beobachtung, dass viele Menschen das Geschehene nur als einen Streich der Hand Gottes zu begreifen vermögen.

139 „Mudai“ ist die Bezeichnung in Mapudungun für die Chicha (vgl. Kapitel 6.2, S127).

140 Vgl. hierzu auch die Augenzeugenberichte, die La Tercera genau 40 Jahre nach der Katastrophe veröffentlichte (La Tercera 2000).

141 In der Offenbarung des Johannes wird auch von der Zerstörung Babylons berichtet. Dies führt wieder zurück zum Thema der Türme als Mahnmal und Zeichen des Bösen, das nun zu Fall gebracht wird. (Im folgenden Text El sueño del Wekufe schläft der böse Geist Wekufe in einem Turm.) Demzufolge kann das Erdbeben als die Vollstreckung einer gerechten Strafe durch eine moralische Instanz interpretiert werden.

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147 Da Riedemann im Verlauf des Textes bisher allerdings schon mehrfach Bibelstellen in seine Gedichte hat einfließen lassen, kann man davon ausgehen, dass ihm die Parallele seiner Zeilen zum Text der Offenbarung bewusst war. In jedem Fall erlangt das Erzählte durch Formulierungen wie „Se oscureció de pronto / como una tierra sin dioses“ oder „el año no pudo parir todos sus soles“ eine Bedeutung, die über das natürlich Erklärbare hinausgeht. Eine ähnliche Transzendenz erzielen die beschriebenen Empfindungen der Menschen, die das Erdbeben miterlebten. Leben und Tod nähern sich hier einander an, bis sie nur noch durch einen kleinen Schritt voneinander getrennt werden: „Todos querían alejarse / de sus cuerpos“, „Fue más exigua la vida“, „¡Valía tan poco la muerte!“, „La muerte era una vida inesperada“ (S49f.).

Ab Vers 56 richtet Riedemann den Blick auf die Folgen, und darauf, wie es in Karra Maw’n nach der Naturkatastrophe weitergeht. Zunächst ist von denjenigen die Rede, denen es gelingt, aus dem Unglück der anderen Nutzen zu ziehen: „Algunos hubo que / nacidos para dominar / descendieron de la tragedia / a la comedia“. Sehr viel ausführlicher fällt jedoch die Huldigung an all jene aus, die bei dem Erdbeben zu Schaden kamen. Erst heißt es unbestimmt „los que sudaron / labraron / edificaron, / desposeídos“. Dann erhebt sich ein vielfaches „Gloria“ für alle Opfer und Helden des Bebens in Karra Maw’n: die Bauern, die ihr Land verloren haben; die Fischer, die ihre Boote und Hütten verloren haben; die Zugführer, deren Züge aus den verschobenen Gleisen gesprungen sind; der Kranke, der, an sein Bett gefesselt, nicht in der Lage war, vor dem Unglück davonzulaufen. Aber das Lob des Erzählers gilt auch den ansässigen Produktionsbetrieben, den Hochöfen, der Schuhfabrik und der Brauerei, die durch das Erdbeben zerstört wurden.

Die letzten 24 Verse sprechen vom Neuaufbau und davon, dass das Leben weitergeht:

„Pero salió el sol / Y Karra Maw’n es agradable. / ¡Oh Padre Ngënchén!“ (S53). Nachdem sich in den Versen 21-27 noch Wekufe, die Verkörperung des Übels, in den Trümmern versteckte, inmitten des Unheils, das er angerichtet hatte, erscheint nun Ngënchén mit der wiederkehrenden Sonne und gibt den Menschen Mut, sich wieder aufzurichten. Die Häuser werden wieder aufgebaut, die Toten begraben, die Kranken geheilt, der Alltag kehrt zurück:

„continuaron en Karra Maw’n / la vida / y sus anécdotas“ (S54).

Die Textsorte des Augenzeugenberichtes hat in der Form der Auswertung von oral history Eingang in die Geschtsschreibung gefunden. Die oral history unterstützt insbesondere die (Auto-) Biographie-Forschung, die Alltags-, Familien-, Regional- und Sozialgeschichte. Ihre Etablierung stellt den Versuch der modernen Geschichtswissenschaft dar, eben jenen

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Menschen eine Stimme zu verleihen, deren Aussagen nicht in Biographien und anderen Dokumenten zu finden sind. Die oral history berücksichtigt also „die konkreten Bedin-gungen individueller Gedächtnisse und Identitätskonstitutionen“ und bereichert die Geschichtsschreibung um diese. (Rüsen 1996)

Wir erfahren nicht, ob es sich in Riedemanns Text um einen authentischen Augenzeu-genbericht handelt, jedoch ensteht ein Einblick in persönliches Erleben der Ereignisse jenes Nachmittags. Riedemann selbst war sieben Jahre alt zur Zeit des Erdbebens. Es ist also denkbar, dass es sich um seine eigenen Erinnerungen handelt, oder doch zumindest um vergleichbare Erlebnisse, deren Schilderung er hier gewählt hat.

Ich komme zum letzten Teil Otros escritos de suyo pertinentes en el plan jeneral desta obra. Diese

‚anderen Schriften‘ sind ein längerer Text, überschrieben mit Infancia del cronista. Die ersten zwei Verse „1953 / aquí comienza la Edad Dorada“ (S64) deuten wiederum auf die Person des Autors Riedemann hin, der 1953 zur Welt kam. Er erzählt, wie das Wasser die Straße hinabläuft – vermutlich die Straße, in der sein Geburtshaus steht – und fügt den Vers von Verheißung und Erfüllung hinzu: „y entre paréntesis es que venía, llegó“ (S64). In drei Versen beschreibt er seine eigene schwierige Geburt.

Im gesamten Text verdichten sich persönliche Erinnerungen mit historischen Ereignissen nationaler sowie internationaler Tragweite zu einem heterogenen Zeitzeugnis. So erfährt man von dem Verwandten eines gewissen Parragué, der zufrieden die Osterinsel (Rapa Nui) erreicht hat: „Sólo Parragué goza de un relativo contento: su Pájaro de la Suerte yace echado en los cráteres / de Rappa Nui [sic]“ (S65). Hintergrund ist der Flug eines Piloten der Fuerza Aerea de Chile, Roberto Parragué, der 1951 für Schlagzeilen gesorgt hatte. Am 19. Januar flog Parragué mit einem Wasserflugzeug in 17 Stunden vom chilenischen Fest-land auf die Osterinsel. Dieses Ereignis liegt zum Zeitpunkt der Geburt Riedemanns bereits zwei Jahre zurück. Ob Riedemann sich mit den Jahreszahlen vertat oder aber auch zwei Jahre später noch von jenem denkwürdigen Flug des tollkühnen Piloten gesprochen, ist nicht klar.

Im Weiteren fällt der Name des Generals Carlos Ibáñez del Campo, der Chile von 1927 bis 1931 und ein zweites Mal von 1952 bis 1958 regierte und von dessen Militärherrschaft bis heute insbesondere die Verfolgung von Minderheiten in Erinnerung geblieben ist.142 Auf Seite 66 verbindet der Erzähler den Tod seines Vaters, eines Automechanikers, mit der

142 Erst im Mai 2000 wurde am Rande einer Theateraufführung an die Ermordung von Homosexu-ellen unter Carlos Ibáñez del Campo erinnert. (Jösch 2000)

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149 Entdeckung der Doppelhelix als Stuktur des menschlichen Erbgutes durch James Watson und Francis Crick, die ihre Erkenntnisse im Jahr 1953 erstmals veröffentlichten. Daran schließt sich das „milagro alemán“, das deutsche Wirtschaftswunder unter dem Wirt-schaftsminister Ludwig Erhard (1949-1963).143 Die Erinnerungen der nächsten Seite sind wieder privater Natur: Es wird vom ersten Tag im Kindergarten erzählt und von den Gute-Nacht-Geschichten, die die Mutter vorliest.

Darauf folgt die Erinnerung an zwei bedeutende Ereignisse der Raumfahrt: an den ersten Menschen im Weltraum an Bord der Vostok I im Jahre 1961 und an den ersten, bzw. den zweiten Menschen auf dem Mond, Edwin Aldrin, der direkt nach Neil Armstrong den Mond betrat. Mit „ahora salta sobre un charco de alcohol“ spielt der Erzähler darauf an, dass Aldrin ein zweites Mal Jahre später als Alkoholkranker in die Schlagzeilen geriet.

Ein weiterer Schwenk nimmt die US-amerikanische Rüstungs- und Abschreckungspolitik sowie die Waffenentwicklung in den Blick.

Un niño negro muestra las vocales y ya se tienen tres sílabas

para empezar a odiar el mundo:

CA CO CU (S70)

Die drei Silben, die den Hass in die Welt bringen, könnten für drei wichtige Faktoren in der Geschichte der Neutronenbombe stehen: CA für Californien, wo die Waffe entwickelt wurde, CO für Colorado Springs, von wo aus sie gesteuert wurde und CU für Cuba, das Land, auf das sie – als geographisch nächstem Feind – nach dem zweiten Weltkrieg gerichtet war.

Die nächsten Verse widmen sich der Wirtschaftspolitik Chiles. Es wird über die Chilenen gespottet, die angeblich alle Bemühungen um Effektivität umdrehten und „la menor canti-dad / de buenos frutos en el máximo tiempo posible“ produzierten. Er wirft ihnen einen

„fatalismo sonriente“ vor,144 mit dem sie sich von den übrigen Andenstaaten immer weiter entfernten.

Schließlich findet die ley mordaza (Knebelgesetz) Erwähnung, die 1964 unter Jorge Alessandri Rodríguez145 eingeführt wurde, um die Sensationspresse mundtot zu machen.

Öffentliche Berichte von Verbrechen sowie Aussagen, die die Würde oder den Ruf von

143 Auch hier werden die Deutschen wieder mit Wirtschaft und Produktivität in Verbindung gebracht, wie bereits in den Schilderungen der deutschen Besiedelung Südchiles.

144 Octavio Paz bezeichnet so die Haltung, mit der die Menschen sich in kommunistischen Systemen für ihr Land opferten.

145 Alessandri war von 1958 bis 1964 chilenischer Präsident.

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Personen verletzen könnten, wurden untersagt. (Human Rights Watch 1998:Freedom of expression and public order)

Nach diesen zahlreichen historischen Schlaglichtern finden sich auf Seite 73 Überlegungen über die Geschichte im Allgemeinen, in Verbindung mit einem anekdotischen Detail:

La Historia sólo recolecta monedas falsas.

Es la sangre que corre a nuestras espaldas.

Es un esqueleto colgado en el closet como un traje.

La chapa de gaseosa que perfora los zapatos.

La Historia no es esta historia ni la vuestra, se supone

(LADY ASTOR: „¿Hasta cuándo seguiréis matando?“

PEPE STALIN: „¡Hasta cuando sea necesario!“) La Historia es el gallo matutino

en los almanaques de la patria. (S73)146

Der Unterschied zwischen der Historia – großgeschrieben – und esta historia wird betont. In Klammern gesetzt steht dazwischen ein kurzer authentischer Dialog Lady Astors, der Frau des damaligen britischen Botschafters in der Sowjetunion, mit Stalin aus dem Jahr 1931.

Dieser Dialog illustriert, wie diejenigen, die die Macht haben, Geschichte zu schreiben, mit Menschenleben umgehen. Dabei ist die großgeschriebene Geschichte diejenige, die am Schreibtisch entschieden wird, die Geschichte der Politiker, die nicht die Konsequenzen für die einzelnen Menschen berücksichtigt, während „esta historia“ die erlebte und erlittene Geschichte ist. Sicherlich wird man in diesem Zusammenhang an die Diktatur Pinochets denken, denn der Kontext eines solchen Dialoges ist austauschbar. Die „Historia“ wird verlogen genannt, sie ist blutig und erschreckend. All das bezieht sich auf die großgeschrie-bene Geschichte, die in den traditionellen Geschichtsbüchern steht und von der der Text sagt, sie sei nicht identisch mit „vuestra historia“. Aber das nachgeschobene „se supone“

stellt auch dies wieder in Frage. Mit der Anrede „Pepe Stalin“ verharmlost Riedemann die Person des sowjetischen Diktators. Diese Respektlosigkeit soll helfen, sich von dessen Verbrechen zu distanzieren.

Die Zeilen gipfeln in der pointierten Metapher von der Geschichte als „gallo matutino / en los almanaques de la patria“. Man denkt an einen stolzierenden Gockel, der sich mit geschwollenem Kamm und lautem Gekrähe wichtig macht. Es ist diejenige Geschichte, in deren Zusammenhang man von der „patria“ spricht, einem Begriff, in dem immer Stolz

146 Dokumentiert zB in Yancey 1997:144.

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151 auf das Vaterland mitschwingt und den man kaum im Zusammenhang mit unrühmlichen Ereignissen nennen würde.

Bisher ist im Zusammenhang mit Karra Maw’n noch nicht die Rede gewesen von der Diktatur, da an keiner Stelle eine eindeutige Bezugnahme ausgemacht werden kann. Wenn allerdings ein Autor, der in seinen Texten im Allgemeinen eine kritische Haltung beweist und darüber hinaus seine Missbilligung gegenüber der Regierung durchaus zum Ausdruck bringt,147 in einem Werk über die Geschichte Südchiles kein einziges Wort zum Staatsstreich und der während des Schreibens andauernden Militärdiktatur verliert, ist dies ein sehr beredtes Schweigen. „[H]echo que [el Golpe de Estado], significativamente, no se lo nombra en forma explícita en el libro, pero que es el tema central del volumen oblicua-mente referido en todas las páginas“. (Mansilla 1996a:48)

Die oben besprochenen Zeilen über das Wesen der Geschichte stehen im Zentrum des langen Gedichtes Infancia del cronista. Sie werden eingerahmt von 100 vorangehenden Zeilen und 101 Zeilen, die sich anschließen und wiederum konkrete historische und politische Ereignisse aneinanderreihen. Jorge Alessandri versuchte im Zuge der „buen socio“-Politik Eisenhowers und Kennedys die Export-Gewinne Chiles zu steigern, Kennedy lehnte jedoch eine Zusammenarbeit ab. 1963 starb Kennedy, was dem Text zufolge eine etwas absurde Trauer im entferntesten Winkel des US-amerikanischen ‚Hinterhofes‘ hervorrief:

Y unos pobres niños latinoamericanos perdidos en un patio azul

del sur de Chile,

lloraron por la muerte del Presidente de los EE.UU. (S77)

Schließlich kommt das Gedicht wieder nach Karra Maw’n/Valdivia ins Jahr 1953 zurück, wo es auch begann:

pasaron y pasaron los trenes Tal vez era uno solo el tren eterno

que por instantes los ojos no veían.

Se recuerdan vagones aislados

perdiéndose en la niebla de Valdivia.

Se le prendían fogatas a los viajeros. (S78)

Der nächste Vers scheint das Gesagte als nicht-authentisch enttarnen zu wollen: „¡Oh cliché, horrible necesidad!“ (S79). Es ist nicht Karra Maw’n, was der Erzähler vor sich sieht und beschreibt, sondern nur noch ein Klischee davon, eine Welt aus Worten und falschen

147 Und dass er die Geschehnisse in der Tat missbilligt, geht aus seinen Ausführungen zum Oratorio hervor, das Riedemann Stein des Anstosses und Anlass für Karra Maw’n war (vgl. Kapitel 6.1, S116).

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Vorstellungen.148 „Karra Maw’n abortó su poema“. Karra Maw’n hat sein Gedicht abge-stoßen, das Gedicht, das einst zu seinem Wesen gehörte. Die Eule aus dem Gedicht De lo

Vorstellungen.148 „Karra Maw’n abortó su poema“. Karra Maw’n hat sein Gedicht abge-stoßen, das Gedicht, das einst zu seinem Wesen gehörte. Die Eule aus dem Gedicht De lo