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Los cabezas amarillas: Die Deutschen in Südchile

6. CLEMENTE RIEDEMANN: KARRA MAW’N

6.3 Los cabezas amarillas: Die Deutschen in Südchile

Den Schwerpunkt des zweiten Abschnittes von Karra Maw’n bildet eine weitere Station in der Geschichte Südchiles: die Kolonisation durch die Deutschen. El hombre de Leipzig, der Text, der den Abschnitt eröffnet, ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Zunächst hebt er sich formal von allen anderen Texten des Buches dadurch ab, dass er als einziger nicht in Versform geschrieben ist. Zusätzlich steht er vollständig in Kursiva. Inhaltlich fällt auf, dass sich hier das einzige Mal ein Erzähler mit persönlichen Charakteristika äußert.

Hinter den Worten des Erzählers steht nicht nur eine Position, eine Meinung, die er – stellvertretend für andere Menschen – verficht. Vielmehr wird er durch die Details seiner Familiengeschichte, in die er uns einweiht, zum unverwechselbaren Individuum. Wir erfahren, dass sein Urgroßvater ein Zimmermann aus Leipzig war, der mit anderen deut-schen Auswanderern zusammen nach Chile kam. Die Namen der vier Schiffe, die damals

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137 die Überfahrt machten, werden genannt.128 Ein Foto wird erwähnt, das die Ankömmlinge zeigt. Es ist bekannt, dass die Vorfahren Riedemanns Mitte des 19. Jahrhunderts aus Deutschland kamen, so dass Erzähler und Autor einander hier sehr nahe kommen.

Die Sprache dieses Textes ist poetischer als die der meisten in Versform verfassten Texte des Buches. Die ersten beiden Sätze machen bereits deutlich, dass der Erzähler nicht einfach über seinen Urgroßvater spricht, sondern gleichzeitig über eine Figur, die von symbolischer Bedeutung für ihn ist und eine große Anziehungskraft auf ihn ausübt: „El padre del padre de mi padre traía todo el mar en sus mejillas. Trajo un cormorán en la mirada y una flauta dulce en los bolsillos“ (S29). Das Fernweh, vielleicht auch das Heim-weh, stehen ihm ins Gesicht geschrieben, auf den Wangen haben Wind und Salzwasser der Überfahrt ihre Spuren hinterlassen. Der Kormoran ist ein Wasservogel, der sowohl in Mitteleuropa als auch in Südamerika heimisch ist. Die Blockflöte ist der einzige Gegen-stand, den er bei seiner Ankunft in Chile noch bei sich hat. Sie ist zum einen ein typisch europäisches Instrument, zum anderen wird sie als Symbol für Musikalität und Sensibilität („dulce“) zum Attribut des Mannes.

Durch die poetische Beschreibung des Urgroßvaters wird Sympathie geweckt. Die folgen-den Sätze fügen Mitgefühl hinzu: „No trajo papeles, ni osamentas. Le quitaron su historia en las aduanas y venía de lejos“. In dem Moment, in dem er nach Chile kommt, verliert er seine offizielle Identität: seine Papiere, seine Heimat und seine Geschichte. Während also die Spanier, die nach Südamerika kamen, ihre eigene Geschichte und ihre Perspektive der Neuen Welt aufzwangen, kommt dieser Mann aus Leipzig, seiner Identität und Geschichte beraubt. Dadurch ergibt sich eine Parallele zwischen den Mapuche und dem deutschen Einwanderer. Dieser Eindruck verstärkt sich in den folgenden Sätzen, wenn es weiter über die Deutschen heißt: „Todos buscando el paraíso. Para todos, desengaño y selva“. Die Einwanderer kamen mit großen Hoffnungen: Sie waren auf der Suche nach dem Paradies.

Vermutlich war ihnen fruchtbares Ackerland versprochen worden, und nicht die „selva“,

127 Vgl. Kapitel 1, S1f.

128 Drei davon finden sich ebenfalls in der Rede von Domínguez (vgl. dieses Kapitel, S120): „Pero fue en 1850 cuando la emigración comenzó en forma regular con la llegada de numerosas familias contratadas por don Francisco Kindermann. Ese año entraron a Corral más de diez buques. El orden de atraque fue el siguiente: [...] – En octubre, el velero „Steinwaerder“, con quince almas a bordo. – En noviembre atracó el „Herrmann“, con las familias Anwandter, Kindermann, Schelegel, Keller, Kayser, Winkler y Schmidt, junto a muchas otras de igual importancia. – En diciembre tocó tierra el „Susanne“, procedente de Hamburgo, con ochenta y ocho personas contratadas por el Gobierno de Chile y que costearon ellas mismas sus pasajes; es decir, venían como inmigrantes libres. Entre ellas cabe recordar a las familias Schilling, Neumann, Boehmwald, Israel, al preceptor Belzer y a Carlos Muschgay.“ (Domínguez 1988:119f.)

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die die Weitgereisten vorfanden.129 Außerdem waren sie offensichtlich über die wahren Besitzverhältnisse nicht aufgeklärt worden, wie die folgenden Zeilen nahelegen: „Les prometieron la tierra, pero la tierra tenía dueños falsos. Falsas estacas de papel y no autén-ticos auténautén-ticos rewes milenarios“. Die chilenische Regierung gab sich als Besitzer des Landes aus, dessen sie sich unberechtigterweise bemächtigt hatte. Tatsächlich handelte es sich um „rewes milenarios“, um Land, das den Mapuche gehörte. Der rewe ist der Altar, das heilige Zentrum innerhalb einer Mapuche-Gemeinschaft. Er liegt meist unterirdisch in einer gegrabenen Höhle, in die eine heilige Treppe oder Leiter hinabführt. Der Begriff soll hier deutlich machen, dass es sich eben um das ureigene und heilige Land der Mapuche handelt.

Nachdem der Leipziger Zimmermann seiner Identität, seiner Heimat und seiner Geschichte beraubt und um sein Land und seine Hoffnung betrogen worden ist, muss er schließlich auch seine Sprache aufgeben: „El padre del padre de mi padre hubo de hablar en otra lengua“. Mit der Beschreibung all dieser Verluste und Schicksalsschläge gelingt es dem Erzähler, eine Parallele zwischen dem Los der deutschen Einwanderer und dem der Mapuche zu ziehen. Wie schon bei den Mapuche findet sich auch hier das Motiv des Paradieses, das zwar nicht verloren, aber doch versprochen und dann vorenthalten wird. In gewisser Weise werden beide Gruppen Opfer der chilenischen Einwanderungspolitik. Die Mapuche werden ihres Landes beraubt, die Deutschen werden um das Land betrogen, für das sie bezahlen und das ihnen als Eigentum in Aussicht gestellt wird. Beide verlieren ihre Vergangenheit und ihre Heimat, und schließlich müssen sich beide an eine neue Sprache gewöhnen (die Mapuche genau genommen an zwei: spanisch und deutsch). Somit weist der Text von Riedemann den deutschen Einwanderern mehr Gemeinsamkeiten mit den Mapuche als mit den Spaniern zu, ohne sie dadurch zu Leidensgenossen zu machen, die durch ihr Schicksal verbunden wären. Dabei handelt es sich aber nur um einen vorüber-gehenden Zustand, wie noch deutlich wird.

Die letzten beiden Abschnitte von El hombre de Leipzig rücken den Erzähler deutlicher in den Mittelpunkt. „Corral, después de un siglo [...]“ (S30). An Corral vorbei führte die

129 Das Motiv der betrogenen Einwanderer findet sich auch bei Jorge Teillier im Zusammenhang mit französischen Immigranten – seinen Vorfahren, die etwa drei Jahrzehnte später nach Südchile kamen: „Mis abuelos llegaron a Quillón el año 1885. Eran unos 600 colonos. [...] Les aseguraron que Chile era un país de viñas y como ellos eran agricultores de Bordeaux, especializados en viñedos, se interesaron, pero llegaron aquí a una zona donde las tierras estaban recién cultivadas, donde llovía demasiado para sembrar viñedos, donde no había nada“. (Olivárez 1993:20)

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139 Schiffe der deutschen Einwanderer ihr Weg nach Valdivia.130 Der Erzähler steht hundert Jahre später an derselben Küste und begreift die vergangenen Ereignisse als Teil seiner eigenen Geschichte: „El hombre de Leipzig, el carpintero, me trajo a tierra en el lápiz de su oreja, de donde he bajado para organizar el mundo con palabras“.

Der folgende Text De por que los nativos no eran perezosos según se creía kommt wieder auf die Besetzung durch die Spanier zurück. Es scheint, als sollte die Kolonisierung durch die Spanier einerseits und durch die Deutschen andererseits klar unterschieden werden:

Creció como maleza el español sobre la tierra.

Brotaron, de a caballo, significantes de mal agüero:

cañón castillo yelmo

lanza y pica,

sobre el valle de Karra Maw’n. (S31)

Utensilien des spanischen Militärs wie Kanonen, Festungsbauten, Helme und Lanzen sprießen aus dem Boden und verändern das Landschaftsbild. Durch ihre Anordnung im Druckbild werden sie aus dem Text hervorgehoben, so wie sie sich aus der einst friedlichen Landschaft von Karra Maw’n hervorhoben. Rein optisch führt eine Treppe aus Worten von links unten nach rechts oben hinauf, beim Lesen ist man allerdings gezwungen, die Treppe abwärts zu lesen, da die Richtungsangabe durch die Zeilenanordnung von oben nach unten schwerer wiegt als die „normale“ Lesart von links nach rechts. Dadurch verkehrt sich unsere Leserichtung und wir steigen von rechts oben nach links unten herab, bis wir am Fuß der Treppe umkehren und wie gewohnt nach rechts weiterlesen dürfen. Die Gegenstände werden zu Sinnbildern für die Bedrohung, zu unheilverkündenden Vorboten, die auf etwas hindeuten, das noch bevorsteht („significantes de mal agüero“).

Auffällig ist die Pflanzenmetaphorik: „Creció como maleza el español sobre la tierra“,

„Brotaron, de a caballo, significantes de mal agüero“. Vor der Ankunft der Spanier wurde die Harmonie in Karra Maw’n ebenfalls mit Bildern aus der Botanik beschrieben. Die Spanier sind jetzt das Unkraut, das die Metaphern und die Poesie der Landschaft überwu-chern und zu zerstören drohen.131 Die Bildwahl naturalisiert die Ereignisse, es scheint sich eher um eine Naturgewalt zu handeln als um Menschen, die die Gewalt ausüben. Daraus resultiert das Gefühl von Hilflosigkeit im Umgang mit der Gewalt.

Als eine Folge der wuchernd sich verbreitenden Eindringlinge führt der Text den Anschein

130 „[...] en 1844 arribaron las primeras familias a Corral.“ (Domínguez 1988:119)

131 Zumindest aus deutscher Sicht wäre eine solche Wortwahl seit den Verbrechen im Dritten Reich undenkbar.

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von Verwahrlosung und Faulheit unter den Mapuche an. Als Erklärung oder Kommentar bildet ein Prosa-Zitat des Anthropologen Milan Stuchlik die Mittelachse des Textes, in dem diese unterstellte Faulheit auf die kulturelle Perspektive des Anderen zurückgeführt wird.132 Aber diese Erläuterung wird in Klammern stehengelassen, sie bleibt die nicht wahrgenom-mene Randbemerkung eines Einzelnen. Stattdessen werden im letzten Teil des Textes viele weitere Vorurteile gegenüber den Mapuche aufgezählt.

Valientes guerreros

heroicos libertarios bandidos sangrientos

flojos

borrachos

taciturnos

ignorantes retrógrados. (S32)

Optisch spiegelbildlich zu den Attributen der Spanier werden aus den mutigen Kriegern nun über sechs Stufen abwärts nach rechts erst die Verbrecher, die zwar nicht zu achten, aber noch zu fürchten sind, schließlich die rückschrittliche Menschen. Die militärische Stärke der Eroberer wird visuell der vermeintlichen Schwäche der Mapuche gegenüber-gestellt. Dabei entspringen diese Schwächen der kulturell festgelegten Sichtweise der Europäer („flojos“, „retrógrados“), andere sind überhaupt erst auf die Ankunft, bzw. die Anwesenheit der Spanier zurückzuführen („borrachos“, „taciturnos“), und als „ignorantes“

entpuppen sich die Spanier selbst durch ihre ahnungslose Beurteilung der fremden Kultur.

Der Text Importancia económica de los cabezas amarillas en el valle de Karra Maw’n (S33) wendet sich wieder dem Thema der deutschen Besiedelung zu. Es werden Veränderungen beschrieben, die mit dem Eintreffen der deutschen Siedler in der Region einsetzten und bis zum heutigen Tag das Leben prägen. Die Deutschen begannen, brachliegendes Land vom Unkraut zu befreien, mit Zäunen in Parzellen einzuteilen und zu bebauen. Sie erbauten

„grandes rukas blancas / con techos de color púrpura y paredes de mazapán“. Die Häuser sind völlig anders als die ruka, die Hütte der Mapuche: groß und weiß mit roten Dächern.

„Paredes de mazapán“ legt nahe, dass die Häuser den Mapuche kaum fremder und wunderbarer vorgekommen wären, hätten sie Wände aus Marzipan, das sie auch erst durch die Deutschen kennenlernten, gehabt. Ebenso fantasievoll-bewundernd klingen „vacunos celestes que otorgaban / bifes estelares“. Dieser Ton zieht sich durch die erste Hälfte des Textes: „La mantequilla y el queso eran magníficos / así como las diversas maneras de preparar el té“. Klischeehaft geht es weiter:

132 Vgl. Kapitel 2.1.2, S10f.

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141 Las muchachas lucían pechos enérgicos y eran bellas

como una vaca Holstein pastando al sol en primavera en octubre, cuando todo está verde y se sonría porque la vida es buena. (S34)

Sowohl das Bild eines (deutschen) Mädchens als auch das einer Holsteiner Kuh, die in der Frühlingssonne grast, sind schablonenhaft und kitschig, wie man sie in einer Werbung für Milchprodukte erwarten würde. Wie bereits in der Episode, in der die Mapuche die Sterblichkeit der Spanier entdecken, wählt Riedemann auch hier einen humorvollen Umgang mit seinem Thema. Durch die Ironie und Respektlosigkeit des für das Mädchen wenig schmeichelhaften Vergleichs mit einer Kuh schafft er Distanz zum Gegenstand. Im Folgenden weist er darauf hin, dass es die Deutschen waren, die die bis dahin unbekannte Milchwirtschaft nach Chile brachten. Außer Steaks, Butter, und Käse brachten die Deutschen noch andere Dinge in ihre neue Heimat:

Se produjo escuelas particulares

„DEUTSCHE SCHULE“

pero no para los indios [...]

Gran desarrollo de comercio.

Se produjo Kermesse.

Se produjo Kuchen Apfelmus se produjo y muchísima

cerveza. (S34)

Die Deutschen scheinen aus Südchile ein Schlaraffenland zu machen und als Beweis wird auf Postkarten der Gegend hingewiesen. Nur einige Details trüben das Bild: „mejor comu-nicación con un garrote / con municiones de Winchester [...] alambre de púas [...] ni una gota de limón cae sobre la herida“. Mit der Paronomasie von „comunicación“ und „con munición“ macht Riedemann deutlich, wie das eine den Platz des anderen einnimmt.

Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse zwischen beiden Kulturen werden (sicherlich nicht nur) aufgrund des Sprachproblems durch Waffengewalt gelöst. Die Zäune, die die Felder voneinander trennen und die vor allem die Mapuche von den durch die Deutschen in Besitz genommenen Felder fernhalten sollen, sind aus Stacheldraht. Und die Schule, die die Deutschen errichten, ist nicht für die Indígenas.

Die zweite Gedichthälfte macht einen Sprung in das zwanzigste Jahrhundert. Die Gemein-schaft der deutschen Siedler ist inzwischen stark angewachsen („Había tanta gente que algunos no se saludaban entre sí“, S35), die Straßen sind mittlerweile gepflastert („Primero estuvo el barro, después hubo adoquines“, S35). Aber dies wird als oberflächlich abgetan, denn „[...] quedó la fiebre debajo. / Debajo está el sudor y la peste / [...] debajo quedó también el sueño“ (S35). Trotz den deutlichen Spuren von Weiterentwicklung und

soge-6. CLEMENTE RIEDEMANN: KARRA MAWN

nanntem Fortschritt (und zwar „más rápido de lo provisto“) haben sich die Menschen in Karra Maw’n nicht geändert. Hinter den Fassaden stehen der Traum und die Anstrengung des Siedlers, die sich in jedem einzelnen Pflasterstein zu spiegeln scheinen.

(Si levantaras un adoquín entre tus manos verías los ojos del colono

mirarte desde el fondo del oscuro cuadrado). (S35)

Demgegenüber stehen die Klischeehaftigkeit und Oberflächlichkeit der deutschen Lebens-weise in Karra Maw’n, wie sie im letzten Teil von Importancia económica de los cabezas amarillas en el valle de Karra Maw’n beschrieben wird. Für die Freizeitgestaltung sind Sport- und Erholungsmöglichkeiten entstanden, außerdem werden kulturelle Aktivitäten organisiert.

Die juegos florales sind ein Dichterwettbewerb, mit dem alljährlich an wechselnden Orten in Chile die Ankunft des Frühlings gefeiert wurde.133 Auch hier spielt also die Poesie – wie einst im paradiesischen Zustand Karra Maw’ns – eine Rolle. Aber sie hat ihre innige Bindung an die Natur verloren, wie die Verwendung des Begriffs „metáfora“ im Folgenden zeigt. „Siúticas metáforas donde la primavera / era sólo una fiesta y no tiempo de mieses, verdaderas mieses cogidas con decoro“ (S35).134 Die Verse machen den Unterschied zwischen Schein und Sein deutlich. Der Frühling, der eigentlich Saatzeit sein sollte, die alle verfügbaren Arbeitskräfte fordert, wird als ein großes Fest verbrämt. Wie schon einmal im Eingangsgedicht Calidad del suelo, del aire y del agua en Karra Maw’n ist scheinbar unvermittelt von Metaphern die Rede. Die Siedler machen aus dem Frühling eine Metapher, allerdings eine kitschige Metapher, die blenden und einen falschen Eindruck erwecken soll. So werden – wie bereits zu Beginn des Zyklus’ – die Isotopien der Natur und der Sprache miteinander verknüpft. Im ersten Text waren die Metaphern Bestandteil einer Landschaft, in der sich die Sprache und der Kreislauf der Natur in Einklang befanden (S13), nach der Ankunft der Spanier wurde die Verständigung problematisch, und gleichzeitig begann das Unkraut, das Land zu überwuchern (S31). Nun wird der Frühling zum Inhalt aufgesetzter Metaphern, in denen Arbeit und Natur ausgespart werden: „no [...] verdaderas mieses cogida con decoro“. Die Metaphern, die hier vorherrschen, sind verlogen geworden, unauf-richtig, und verfälschen das Verhältnis des Menschen zur Natur.

In ähnlicher Weise machen die letzten Zeilen auf das gekünstelte Verhalten der Deutschen aufmerksam:

133 Heute finden die juegos florales immer in Santiago statt.

134 „Las mieses“ muss hier als Saatzeit verstanden werden, gebräuchlicher ist der Singular „la mies“

für die Ernte.

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143 lugares donde el varón comió y bebió y arrojó bolos

mientras su mujer –la rubia encinta–

mordía panecillos en el „Haussmann“

para luego desaparecer, varón y hembra, cada uno por sus respectivos retretes. (S36)

Dieses Szenario soll verdeutlichen, wie fremd die Lebensart der Deutschen den Mapuche geblieben ist. Es wird der typische Zeitvertreib des Mannes beschrieben, der außer Haus isst, trinkt und spielt, während seine Frau – typischerweise blond und schwanger – im Gasthaus sitzt und Brötchen isst und wie schließlich beide auf ihre sittsam getrennten Toiletten gehen.135 Diese Schilderung scheint insbesondere Kritik am getrennten Alltag von Mann und Frau üben zu wollen, der sich zum Teil aus den unterschiedlichen Interessen, zum Teil aus ihrer Prüderie ergibt. Aber nicht nur die Eheleute verbringen ihren Tag hiernach getrennt, sondern auch die verschiedenen Kulturen leben weiterhin in eigenen Welten. „Centro Español, Club Alemán, / Peña Folklórica de los hijos de la Meica“ (S36) bezeichnen die jeweiligen Freizeiteinrichtungen. Die Kegelbahn und das Café Haussmann dürften fast ausschließlich von Deutschen besucht worden sein.

Insbesondere in den beiden besprochenen Texten El hombre de Leipzig und Importancia económica de los cabezas amarillas en el valle de Karra Maw’n wird die deutsche Besiedelung Südchiles zum zentralen Motiv. Darüber hinaus gibt es auch in späteren Texten noch vereinzelte Hinweise auf die ständige Präsenz der deutschen Kultur in Karra Maw’n:

„Schubertwerke“ (S45), „el vesperbrot“ (S49), „Dämmerung, / dämmerung niederkommend./ No me queda nada. / De todo lo que me dieron / no me queda nada. / Dämmerung, dämmerung / alles auslüschend [sic]“ (S52), „el milagro alemán propiciado por Herr Erhard“ (S66), „Kindergar-ten, primer día“ (S67).

Das Verhältnis des Erzählers zu den Deutschen ist offenbar sehr viel komplizierter als das zu den Spaniern, die nur als gewalttätige Eindringlinge und maleza auftreten. Die deutsche Einwanderung hat die Kultur von Karra Maw’n stark geprägt. Aus dem Text gehen zahl-reiche Produkte hervor, mit denen die Siedler ihre neue Heimat bezahl-reicherten. Im Gegen-satz zu den Spaniern brachten die Deutschen – dem Text nach zu urteilen – weniger Gewalt, dafür umso mehr Kultur und Lebensqualität mit. Allerdings wird auch nicht verschwiegen, dass diese vermeintliche Lebensqualität (wie die Deutsche Schule oder eine Mahlzeit im Café Haussmann) im Wesentlichen den Deutschen vorbehalten blieb. Die Unterdrückung und Diskriminierung, die die Spanier mit Waffengewalt nach Karra Maw’n

135 „Haussmann“ ist ein alteingesessenes Gasthaus in Valdivia.

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brachten, wird von den Deutschen auf ökonomischem und kulturellem Gebiet fortgesetzt.

Der Erzähler nimmt aufgrund seiner deutschen Abstammung ohne Zweifel eine parteiische und emotionale Position ein. Es sind seine Familiengeschichte und seine Kultur, die er beschreibt. Zwar ist er bemüht, viele Dinge aus der Sicht der Mapuche zu beschreiben, doch wird durch den Text El hombre de Leipzig die Tatsache, dass er persönlich keineswegs unbeteiligt ist, nicht nur aufgedeckt, sondern ausdrücklich zum Teil des Inhalts gemacht. Er gehört einer bestimmten Zeit an, im Hinblick auf die er die historischen

Der Erzähler nimmt aufgrund seiner deutschen Abstammung ohne Zweifel eine parteiische und emotionale Position ein. Es sind seine Familiengeschichte und seine Kultur, die er beschreibt. Zwar ist er bemüht, viele Dinge aus der Sicht der Mapuche zu beschreiben, doch wird durch den Text El hombre de Leipzig die Tatsache, dass er persönlich keineswegs unbeteiligt ist, nicht nur aufgedeckt, sondern ausdrücklich zum Teil des Inhalts gemacht. Er gehört einer bestimmten Zeit an, im Hinblick auf die er die historischen