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2. REPRÄSENTATIONEN VON GESCHICHTE

2.2 Geschichtsschreibung

2.2.1 Allgemeine Überlegungen

Der Begriff ‚Geschichte‘ wird auf zwei Arten verwendet, die nur auf den ersten Blick voneinander zu unterscheiden, letztlich aber untrennbar miteinander verbunden sind. Zum einen bezeichnet man als ‚Geschichte‘ das Geschehene, die Gesamtheit vergangener Ereig-nisse und Entwicklungen. Zum anderen meint der Begriff die schriftlich oder mündlich überlieferte Geschichte, die bereits selektierte, interpretierte und diskutierte Vergangenheit, wie sie zum Beispiel im Geschichtsunterricht oder in historiographischen Werken vermit-telt wird.7 In beiden Fällen kann Geschichte spezifiziert werden, indem man die Ereignisse

7 „Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als die subjektive Seite und bedeutet ebensogut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung“. (Hegel 1986:83) Vgl. hierzu auch die Dreiteilung in res gestae, die Erzählung davon, und die Historiographie. (Schulze 21991:225)

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13 und Entwicklungen, die man meint, auf ein geographisch und politisch festgelegtes Gebiet und auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt („europäische“ oder „chilenische“

Geschichte, „deutsche Geschichte nach 1945“).

Der Versuch einer Unterscheidung in wirklich Geschehenes einerseits und die Überliefe-rung der Ereignisse andererseits, die im Grunde von einer Antwort auf die Frage abhängt, ob Wirklichkeit adäquat darstellbar ist, bleibt – außer für geschichtsphilosophische oder erkenntnistheoretische Gedankenexperimente – jedoch irrelevant. Wir werden niemals die vollständige Einsicht in den tatsächlichen Hergang einer Begebenheit haben. Niemals werden wir ein wirkliches Geschehen in all seinen Aspekten und aus allen möglichen Perspektiven erfassen können. Nicht zeitgleich, weil wir immer nur eine einzige Perspek-tive einnehmen können, und viel weniger zu einem späteren Zeitpunkt. Bereits kurze Zeit nach einem Geschehen – oft schon zeitgleich damit, wenn es sich außerhalb unserer Möglichkeiten der Inblicknahme befindet (große räumliche Distanz, nicht öffentlich zugängliche Informationen) – sind wir auf Dokumentationen angewiesen.

Die „wirklich geschehene Geschichte“ wäre demnach nur wahrzunehmen von und nachzulesen bei einem Idealen Chronisten, wie ihn Arthur Danto in seiner Analytischen Philosophie der Geschichte entwickelt:

Was immer geschieht, er weiß es stets im selben Moment, in dem es geschieht, er weiß sogar, was in anderen Köpfen vorgeht. Er besäße zudem die Gabe der instantanen Transkription: all das, was längs dem vorgeschobenen Saum der Vergangenheit geschieht, würde von ihm – sobald es geschieht, in der Weise, in der es geschieht – unmittelbar niedergelegt. (Danto 1980:241)

Abgesehen davon, dass es schlechterdings nicht möglich ist, alles aufzuschreiben, was geschieht, und weiterhin dass, selbst wenn es möglich wäre (etwa mit Hilfe einer Maschine, wie Danto vorschlägt), dann niemand auch nur auf ein Teilgebiet der Geschichte bezogen jemals alles lesen könnte, was dazu in der Idealen Chronik stehen müsste, entwickelt Danto im weiteren, dass eine solche Ideale Chronik keineswegs die erstrebenswerte Frucht der Arbeit eines Historiker sei. Auf der einen Seite überstiege sie die Möglichkeiten des Histo-rikers um ein Vielfaches, aber auf der anderen könne sie nicht leisten, was die Historio-graphie ausmache:

Denn es gibt eine Klasse von Beschreibungen eines beliebigen Ereignisses, in deren Rahmen das Ereignis nicht bezeugt werden kann, und diese Beschreibungen sind notwen-dig und systematisch von der I. C. [Idealen Chronik] ausgeschlossen. Die ganze Wahrheit über ein Ereignis kann erst im Nachhinein, und gelegentlich nur lange nachdem ein Ereignis stattgefunden hat, gewußt werden, und diesen Teil der Geschichte zu erzählen, obliegt einzig den Historikern. [...]

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Ohne Beziehung auf die Zukunft, ohne dem vorzugreifen, was über das aktuelle Geschehen hinausgehend ausgesagt werden kann, sobald es geschieht, in der Weise, in der es geschieht, hätte er [der Ideale Chronist] im Jahre 1618 nicht einmal schreiben können:

Jetzt beginnt der Dreißigjährige Krieg – wenn dieser Krieg den Namen seiner Dauer verdankt. (Danto:1980:245f.)

Danto folgend können wir also nicht nur ausschließen, dass es sich bei Geschichtsschrei-bung um eine exakte Abbildung, also um eine Rekonstruktion der Vergangenheit handelt, sondern ebenso, dass dies auch nur erstrebenswert wäre. Dabei würde ein – Danto zufolge – konstitutives Merkmal für Geschichtsschreibung verlorengehen.8

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Ferdinand Fellmann, der sich in seinem Text Das Ende des Laplaceschen Dämons mit der Theorie Dantos auseinandersetzt. (Fellmann 1973) An den Beginn seiner Überlegungen stellt Fellmann folgende Minimaldefinition Dantos der Geschichtsschreibung: „The very least that historians do is to try to make true statements, or to give true descriptions, of events in their past.“. Fellmann vermisst in dieser Definition den Begriff der Erklärung, relativiert das Fehlen aber sofort mit der Bemerkung, dass seit Danto im Konzept der Geschichtsschreibung die Erklärung der Geschehnisse immer bereits mitgedacht werden müsse. Ein Auswahlprinzip, das die geschilderten Ereignisse als zu einer einheitlichen Geschichte gehörige erkennen lässt, macht sie so zu historischen Ereignissen und die Geschichte, die erzählt wird, zu einer Erklärung oder Interpretation.

Die Darstellung von Geschichte und ihre Interpretation sind laut Danto untrennbar miteinander verbunden. (Fellmann 1973:115) „Eine Erzählung beschreibt und erklärt ineins.“ (Danto 1980:230)

Im weiteren Verlauf seiner Zusammenfassung Dantos unterstreicht Fellmann den Begriff der Perspektive. Danach ist „das Problem der historischen Erkenntnis primär kein quantita-tives, sondern das der Gewinnung einer geeigneten Perspektive“. (Fellmann 1973:120f.) Erst diese Perspektive ermöglicht erzählende Sätze, die nötig sind, um Ereignisse als histo-rische zu erfassen. Hiernach ist also ohne die Perspektive keine Erzählung und ohne die Erzählung keine historische Wahrnehmung denkbar. Geschichtsschreibung ist somit sowohl Erzählung als auch Erklärung, wobei beides unmittelbar zusammenhängt und erst aus der Perspektive des Historiographen entstehen kann.

8 Dieses Merkmal, das mit der Perspektive des Historiographen zu tun hat, gilt es im Weiteren noch zu betrachten und seine Funktion innerhalb der Geschichtsschreibung zu konkretisieren (siehe Kapitel 2.2.2.1)

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15 Der Begriff der Erklärung ist in der Geschichtsphilosophie und in der Geschichte der Historiographie zentral.9 Im Streit um den Standort der Geschichtswissenschaft gegenüber den anderen Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, sollte die Art der Erklärung, die Historiker verwenden, Aufschluss über ihre Zugehörigkeit innerhalb der verschiedenen Wissenschaften geben.10

Fellmann zieht zur Diskussion des Verhältnisses von Erzählung zu Erklärung die literatur-wissenschaftliche Unterscheidung in story und plot heran. Die Chronik, also die reine chronologische Aufzählung und Aneinanderreihung von Ereignissen, entspreche der story, während die Historiographie mit dem – bereits interpretierenden – plot gleichzusetzen sei.11 Jedoch stellt er im direkten Anschluss daran die Trennung in story und plot als voneinander trennbare Elemente der Erzählung in Frage. Genauso wenig wie in Wahrheit der plot auf eine reine story reduziert werden könne, die an keiner Stelle vorgreift oder von einem gesetzten Anfang und Ende ausgeht, könne in Analogie dazu die Chronik, also die reine Erzählung geschichtlicher Ereignisse von einer interpretierenden, erklärenden Geschichts-schreibung abgespalten werden (Fellmann 1973:130). Vielmehr müsse sich der Historiker der Tatsache bewusst werden, dass er es gar nicht vermeiden könne, einen Standpunkt einzunehmen und sich – und seiner Leserschaft – über den jeweiligen Standpunkt Rechen-schaft ablegen: „Historische Objektivität konstruiert sich erst durch die Reflexion auf den Standort.“ (Fellmann 1973:133f.)

Ein Geschichtsbuch zeichnet sich nach Fellmann daher durch den Versuch einer Antwort auf die Frage nach eben jener Art der Erklärung, also dem Wie oder der Art der Repräsen-tation, aus. Das bedeutet, auch die Umstände in Betracht zu ziehen, unter denen es über-haupt erst zu bestimmten Begebenheiten kommen konnte.

Abschließend fasst Fellmann seinen Standpunkt wie folgt zusammen:

Es soll aber heißen, daß in Dichtung und Geschichte eine identische Einstellung des Subjekts vorliegt, die in der Differenz von Geschichte und Geschehen, in das der Mensch verstrickt ist, ihren Ausdruck findet. Insofern bildet die Historie als nie zu Ende kommende Pluralität von immer neu zu erzählenden Geschichten gleichsam ein Reich zwischen Dichtung und Wirklichkeit. (Fellmann 1973:138)

Um die grundsätzliche Problematik der Affinität und Differenz von „Dichtung“ und

„Geschichte“ (im Sinne Fellmanns) genauer zu erfassen, sollen im Folgenden die Formen

9 Bereits im Historismus sprach man von der Dichotomie von Erklären einerseits und Verstehen andererseits. (vgl. Rossi 1987:7)

10 Siehe hierzu Kapitel 1.2.2

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und Möglichkeiten, die für die Darstellung von Geschichte zur Verfügung stehen, anhand grundsätzlicher Überlegungen zur Historiographie zusammengefasst werden. Dabei gehe ich von Grundsatzdebatten der letzten Jahrzehnte aus, die die Motivation, den Anspruch, die Möglichkeiten und Zwänge desjenigen beleuchten, der Geschichte schreibt – das gilt für Dichter oft ebenso wie für Historiographen.