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Momentaufnahmen der Vergangenheit in Wort und Bild

4. JUAN PABLO RIVEROS: DE LA TIERRA SIN FUEGOS

4.4 Momentaufnahmen der Vergangenheit in Wort und Bild

pudimos ser papel lustre, fotografías viejas de una raza ya extincta sin más huella que las fotos obscenas del tiempo Tomás Harris Bereits auf seiner ersten Reise erhielt Gusinde von den Selknam einen Namen in der Stammessprache, der, wie es üblich war, den Benannten einer signifikanten Eigenschaft gemäß charakterisieren sollte:

Mankácen (man: Schatten, Figur, Bild, kácen: fassen, ergreifen, auffangen) ‚Schattenfänger‘.

Die Leute der Lago Fagnano-Gegend hatten mich deshalb mit diesem Namen bedacht, weil ich mit meinem Lichtbildkasten ihr Bild photographisch aufzufangen bemüht war.

(Gusinde 1931:382)

Offenbar machte Gusindes Tätigkeit als Fotograf großen Eindruck auf die Selknam.

Zunächst überwog ihre Angst: „Sie sagten ‚Ich fange ihre Seele in mein schwarzes Kästchen ein, sie müssten danach sterben!‘ “, später dann die Begeisterung darüber, sich selbst auf einem Bild zu erkennen. (Gusinde 1931:89, 712f.)

gefunden hat, so dass der Schluss naheliegt, dass es sich um eine Metapher für die Zerstörung und

4. JUAN PABLO RIVEROS: DE LA TIERRA SIN FUEGOS

17 der 18 Fotografien im Abschnitt Documentos in De la tierra sin fuego stammen von Gusinde. Sie zeigen Portraitaufnahmen und einige Gruppenbilder von Selknam, Alacalufe und Yámana, zum Teil in traditioneller Bemalung. Auf einem Bild ist Gusinde selbst bei dem traditionellen Initiationsritus der Yámana, an dem er teilnehmen durfte, zu sehen.

Soledad Bianchi hebt die Parallele zwischen Bild und Text bei Riveros hervor:

Como las fotos, los poemas suspenden y fijan el instante. [...] Poemas y fotos fijan, detienen, inmovilizan la historia de onas, yaganes y alacalufes, y en su exterminio, la quietud se vuelve inmovilidad de la muerte, de ausencia, de desaparición. [...] Como Gusinde quien, con una máquina fotográfica y discos, conservó imágenes de estas etnias, el hablante conoce, reconoce y construye vestigios que son huellas originarias. (Bianchi 1992:288)

Bianchi macht die Parallelität von Bild und Gedicht daran fest, dass beiden ein und dieselbe Absicht zugrunde liegt:

Para evitar que los rastros de ona, yaganes y alacalufes, se evaporen para siempre en calidad de caspi [...] porque quiere hacer perdurar y desea impedir el silencio definitivo, el hablante escribe [...] y se identifica con el etnólogo austríaco, Martín Gusinde. (Bianchi 1992:288) Um die Geschichte und Kultur der Völker festzuhalten, schrieb Gusinde sein umfang-reiches Zeugnis Die Feuerland-Indianer; um aber ihre Gegenwart, ihre Lebendigkeit, ihre Unmittelbarkeit festzuhalten, machte er Fotos, die in den Textbänden mitveröffentlicht sind. Riveros greift die Fotografien sowohl optisch als auch sprachlich auf. Neben den abgedruckten Bildern scheint er in einigen Texten Bilder und Situationen zu beschreiben und erzielt dabei verschiedenartige Effekte.

Zunächst gibt es Texte, die uns ein Foto vor Augen zu stellen scheinen. Dazu gehören die Landschaftsschilderungen des Kapitels Naturaleza, die hier aber keine Berücksichtigung finden sollen. Andererseits finden sich Bilder wie zB die Hochzeitsbemalung einer Frau:

[...]

ella pinta su rostro con finísimas rayas blancas, transversales. Una ancha línea alba atraviesa aletas, nariz y mejillas. (S79)

Oder es wird der Ort einer rituellen Handlung beschrieben:

Tres palos pintados de rojo en triángulo,

cerca de la cabeza del moribundo.

Atado con las cuerdas del arpón,

si es hombre, y un emparrado en su cabeza.

Trenzas de plumas blancas colgando de los piquetes

Ausbeutung der Natur handelt.

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69 con la paleta de extracción del molusco,

si es mujer.

Telas blancas; una cabeza de albatros disecada en el interior. A la entrada

de la choza, impidiendo el acceso de Ayayema, hachas oblicuas enterradas con sus filos hacia el cielo.

Un fuego claro

arde en el centro. (S132)

Das folgende Beispiel schildert eine Totenwache:

Graves rostros herméticos.

Suspendida la caza, la pesca, recolección de leña.

Y, junto al cadáver:

lentos elogios modulados por mujeres ancianas. (S136)

An diesen und anderen Stellen beschreibt Riveros einen einzigen Moment; allerdings nicht, wie üblicher in der Lyrik, in seiner Bedeutung für eine einzelne Person, ein Individuum, wie es in diesen Fällen die Person wäre, die heiratet oder trauert. Vielmehr wird der Augenblick repräsentativ für eine traditionelle Zeremonie nachgezeichnet, so dass er für eine kulturelle Praktik, ein Ritual steht. Diese Texte erinnern an Zeichnungen, die sich ein Ethnologe macht, wenn er ein Volk studiert. Und letztendlich stellt eine Menge von solchen Bildern oder Beschreibungen ritueller Augenblicke, wie Riveros sie zusammenstellt, den Versuch dar, den geistig-spirituellen Bereich einer ganzen Kultur abzubilden.

Daneben gibt es andere Arten von Momentaufnahmen. In vielen Texten werden nicht statische Bilder, sondern Wortwechsel wiedergegeben, die aus einem kurzen Dialog oder auch nur aus einer einzigen Äußerung bestehen. Während insbesondere die detaillierten Landschaftsbeschreibungen epische Züge tragen, finden sich in den Gesprächsszenen dramatische Elemente. Oftmals handelt es sich dabei um unpersönliche Redeweisen, in der Art von Sprichwörtern:

„Cuando el carancho lanza su grito ronco y estrepitoso, vendrá viento sur“, dice un ona en silencio. (S58) Y cuando una lluvia de estrellas cae como estampidas de luz,

„la tribu va de cacería“, dicen los onas. (S63)

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In anderen Fällen wird die sprechende Person individuiert, hier sogar durch ihren Namen:

Lola Kiepja me dice:

„Yo soy nieve. Mi madre viento y mi marido, lluvia.“ (S51)

Das Hinzuziehen der direkten Rede macht die Szenen lebendiger, manchmal anekdoten-haft, wie im Fall des Textes Traducción:

Pido a un joven alacalufe, traducir:

„la madre mace a su niño“.

De inmediato responde en su lengua: „Porque está llorando“. (S144)

Indem Riveros einzelne Personen in einem bestimmten Augenblick ihres Lebens festhält, setzt er ihnen ein Denkmal, so wie Gusinde das mit seinen Fotos gelang. Die Fotos, die Riveros am Ende seines Buches sozusagen zitiert, indem er sie als Bildzeugnisse aufnimmt, zeigen Gesichter. Zwar sind sie meist ohne Namen abgedruckt („mujer yámana“, „jóven selknam“, „madre selknam y su hijo“, „padre alacalufe llevando al cuello el cordón umbili-cal de su hijo recién nacido“), jedoch verfügen sie über eine eindringliche Individualität.

Die meisten dieser Fotos, ebenso wie die Szenen oder anekdotenhaften Begebenheiten, hatten für Gusinde, eine fast ausschließlich ethnologische Bedeutung, weil sie Aufschluss geben über Gewohnheiten und Lebensweise eines anderen Volkes. Für Riveros hingegen sind sie bereits Geschichte, da keiner dieser Menschen mehr lebt. Jeder einzelne Ona steht nun exemplarisch für sein Volk. Durch ihre Ausrottung scheint jedes Individuum, von dem Riveros spricht oder dessen Foto er abdruckt, eine Transzendenz erreicht zu haben, die weit über das Individuelle und Anekdotenhafte hinausgeht und über den wissenschaft-lichen Anspruch Gusindes hinausgeht. Das Wissen darum, dass die hier dargestellte oder beschriebene Person nicht mehr existiert, verwandelt sich in das Wissen um den Tod eines Volkes.

Die Augenblicke und Momentaufnahmen können als eine weitere Methode phischen Schreibens bezeichnet werden. Geertz nennt folgende Merkmale der ethnogra-phischen Beschreibung: „– sie ist deutend, – das, was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses, – das Deuten besteht darin, das ‚Gesagte‘ eines solchen Diskurses dem vergäng-lichen Augenblick zu entreißen.“ (Geertz 51997:30) Indem Gusinde die rituellen Hand-lungen der Feuerland-Indianer fotografiert, enthebt er sie der Vergänglichkeit, und was er festhält, kann als sozialer oder soziokultureller Diskurs verstanden werden.

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71 Noch eindringlicher als die Beschreibungen sind die Fotografien, die sich am Ende des Buches unter der Überschrift Documentos finden. Das ist in einem Gedichtband unge-wöhnlich, aber kein Einzelfall. Auch Aristóteles España hat seinem Gedichtband Dawson zu dokumentarischen Zwecken Fotografien beigefügt. Das Buch entstand zwischen September 1973 und September 1974 im Konzentrationslager auf der Insel Dawson, wohin España siebzehnjährig nach seiner Verhaftung noch am Tage des Putsches gebracht wurde.

Die oft tagebuchartigen Texte dokumentieren in freien Versen Españas Zeit im Lager, seine Angst, Fassungslosigkeit und Hoffnung. Die Bilder zeigen unter anderem politische Mit-Häftlinge, das Innere des Gefangenenlagers und Häftlinge bei der Zwangsarbeit. Der Text ist eines der bekanntesten chilenischen Beispiele für die Gattung der Testimonio-Dichtung.73

Im folgenden Abschnitt wird deutlich, dass der Text Dawson auch in inhaltlicher Hinsicht Bedeutung für Riveros hat, der España sogar zitiert. An dieser Stelle soll lediglich auf die Funktion der Bilder eingegangen werden. Sowohl España als auch Riveros verwenden Fotos, um ihren Texten Authentizität zu verleihen. Sie benutzen die Überzeugungskraft, die von den Bildern ausgeht. Was wir als Fotografie sehen, sind wir eher geneigt, für wahr zu halten als das meiste, was uns schriftlich mitgeteilt wird. Das Bild hat für uns eine größere Überzeugungskraft. Genau in diesem Bestreben unterscheiden sich diese beiden Texte (genauso wie jede poesía testimonial) von anderer Dichtung: Sie wollen vor allem dokumentieren und als wahr akzeptiert werden, darin liegt ihre Absicht.