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6. CLEMENTE RIEDEMANN: KARRA MAW’N

6.5 Riedemanns Version der Geschichte

Clemente Riedemann schreibt in den fünf Abschnitten des Buches Karra Maw’n eine eigene Version der Geschichte seiner Heimat. Schon durch den äußeren Rahmen, der an The

148 Züge gehören zu dem romantisch-nostalgischen Bild von Südchile, das Jorge Teillier maßgeblich mit erschaffen hat durch seine Gedichte von verlassenen Bahnhöfen und langen Zugfahrten.

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153 Waste Land angelehnt ist und dessen formale wie auch inhaltliche Struktur in weiten Teilen übernimmt, gibt Riedemann der Geschichte eine Richtung und unterstellt den Ereignissen eine gewisse Folgerichtigkeit oder Kausalität. Das geschieht durch die Umkehrung der Gralssuche und Erlösungsgeschichte Eliots: Statt auf die Erlösung steuert Karra Maw’n auf Zerfall und Verderben zu, das Land wird öd.

Eine weitere Bewegung, die im Text angelegt ist und ihn organisiert, ist die Individua-lisierung der Stimme des Erzählers. Von einer dominierenden kollektiven Perspektive im ersten Abschnitt über die stark familiär gebundenen Betrachtungen in El hombre de Leipzig gelangen wir zum Subjekt in Infancia del cronista, das seine Geburt als den Beginn der Welt begreift („1953 / aquí comienza la Edad Dorada / la Época de la más lúcida locura“) – wenngleich mit unverkennbarer Ironie vorgetragen.

Insbesondere die implizite Vorstellung von Erlösung und Verderben innerhalb des Ganges der Geschichte, die durch die Bibelanspielungen gestützt wird, geben den Ereignissen einen erzählerischen Rahmen und legen die Interpretation und subjektive Bewertung durch den Erzähler offen.

Zu Riedemanns eigener Version der Geschichte gehört auch die Integration von Anekdo-ten, von Alltäglichkeiten sowie von Personen, die eher aufgrund ihrer Unauffälligkeit ausgewählt werden anstatt aufgrund besonderer Taten, wie die traditionelle Geschichts-schreibung dies tut (vgl. Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte, Kapitel 2.2.2.3, S23).

No hay advertencia ni equivocación por parte del poeta cuando elige ingresar su intimidad en los versos. Por el contrario, en Karra Maw’n, Riedemann busca y desea integrar la historia de todos los días, la cotidiana, individual y hasta familiar con aquella otra que se considera importante y trascendente; esta que permanece, la anterior que se disipa y prescribe... ¿Quién es el actor (olvidado) de la historia que persiste?, ¿quién ha elaborado y escrito esta historia?, parece preguntarse, negándose a conservar y repetir miradas y funciones tradicionales, este cronista que se propone fusionar y confundir Historia e historia para que, asociadas e integradas, formen, conformen y constituyan un nuevo relato, una historia inédita, una memoria desconocida y olvidada, Karra Maw’n. (Bianchi 1992:284) Neben den Bemühungen um eine eigene Version der Geschichte finden wir gleichzeitig die Leugnung der Möglichkeit einer einheitlichen Version durch den konsequenten Einsatz verschiedenster Stimmen und Blickwinkel: „El cronista opta, entonces, por entregar diver-sas versiones, por no limitarse a un único punto de vista, por ubicarse en distancias y en momentos diversos, por abarcar lo vario, por interrogarse frente a lo establecido...“

(Bianchi 1992:285f.)

Auch in den Texten von Contreras Vega und Riveros hat sich dieses Verfahren bereits nachweisen lassen. Was zeichnet nun aber Riedemanns Dichtung aus?

[L]a poesía de Riedemann – especialmente su libro Karra Maw’n [...] puede verse como una especie de neoépica que busca, por una parte, deconstruir las “mitologías oficiales” de la memoria colectiva y, por otra, proponer una ruptura de la linealidad histórica tradicional en

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términos de concebir el pasado como proyección del presente y viceversa. (Mansilla 1999:Kap.5)

Sergio Mansilla erkennt zwei Vorhaben in den Texten Riedemanns. Zum einen die Demontage der offiziellen Geschichtsschreibung, die sich als eine Art Mythologie bereits im kollektiven Gedächtnis verankert hat. Als solche erfüllt sie ihren Zweck, die Staats-ideologie in den Köpfen der Menschen zu festigen. Zum anderen sieht Mansilla den Versuch, die traditionelle Linearität von Geschichte zu durchbrechen und Vergangenheit und Gegenwart als mögliche Projektionen oder Repräsentationen des jeweils anderen zu verstehen.

Auch Bianchi spricht von einem Bruch, „una ruptura“, der traditionellen Vorstellungen, wenn sie Riedemanns Geschichtsdarstellung beschreibt:

Su versión de lo contado será, entonces, una ruptura, consciente y buscada, de lo que la Historia conservó y transmitió como supuestamente permanente y, por lo tanto, eterno, inmodificable y fijo. (Bianchi 1992:285)

Mansilla meint im obigen Zitat aber nicht nur den Bruch mit einer konventionellen Geschichtsschreibung, sondern auch den Bruch mit gewohnten Wahrnehmungsmustern.

Vergangene Ereignisse können als Vorausweisungen auf eine Gegenwart verstanden werden, gegenwärtiges Geschehen als Spiegel der Vergangenheit. An einer anderen Stelle sagt er aus: „La memoria del pasado es al mismo tiempo un testimonio del presente desagradado“. (Mansilla 1996b:63) In dieser Vorstellung liegen Gegenwart und Vergangenheit ganz dicht beieinander und überlagern sich zum Teil. Diese Verbundenheit geht über Kausalzusammenhänge hinaus und setzt sie eine Art von Identität zwischen beiden voraus.

Dasselbe Prinzip verwendet Riveros, wenn er unvermittelt zwischen der Beschreibung der Morde an der patagonischen Ursprungsbevölkerung und der von Mord und Folter durch die Militärregierung hin- und herwechselt. Doch ist bei Riedemann die Parallelisierung von Gegenwart und Vergangenheit nicht so offensichtlich, zumindest fehlen explizite Hinweise auf die Diktatur.

Zur Schilderung des Erdbebens verwendet er eine historiographische Methode. Aus der oral history entlehnt er die Berücksichtigung des Augenzeugenberichts, den er zur Veran-schaulichung einflicht, vielleicht auch um die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser zu steigern. Auf jeden Fall wächst der Eindruck von Authentizität durch besagten Einschub.

Die oral history ist mittlerweile eine etablierte Form der Geschichtsschreibung und – forschung, doch sie hat sich erst in den letzten vier Jahrzehnten diesen Platz innerhalb der Geschichtswissenschaft erkämpft. Noch 1986 heißt es in einer Studie von William W. Moss über oral history: „It was developed partly to remedy deficiences in written records, but it

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155 has been viewed by many traditional historians as an undisciplined, rebellious, and perhaps even irresponsible child of documentary history“. Und weiter:

Oral history became necessary, at least in part, because many historians came to believe that written records were excessively limited to the documentation of a ruling government or elite class, or to a dominant national function such as religion or law. Thus, much social history went unrecorded or was recorded incident to other purposes which diminished the usefulness of the record for social history. Whole classes of people were poorly represented in great national annals, and the perspective reflected in those annals tended to be highly legalistic, formal and bureaucratic. (Moss 1986:2f.)

Dem Geschichtslehrer Riedemann sind die Implikationen von oral history sicherlich bekannt. Das Bestreben, den in der Geschichtsschreibung vernachlässigten Personen-gruppen gerecht zu werden, hat sich schon in den Texten des ersten Abschnittes gezeigt, in denen die Besetzung von Südchile durch die Spanier und später durch die Deutschen Einwanderer zu großen Teilen aus der Sicht der Mapuche beschrieben wird.

Ein anderer im obigen Zitat aufgeworfene Aspekt ist die Bestrebung, durch Berück-sichtigung mündlicher Dokumente einer parteiischen Geschichtsschreibung der Mächtigen zu begegnen. Auch das ist ein Ziel, das Riedemann mit seinem Zyklus verfolgt. Jedoch verwundert es, dass er das Instrument des Augenzeugenberichtes gerade zur Illustration eines weitgehend unpolitischen Kapitels, nämlich des Erdbebens in Valdivia, einsetzt.

Meine These ist, dass gerade das Erdbeben bei Riedemann nicht nur ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte Südchiles darstellt, sondern darüber hinaus als Symbol für den Staatsstreich von 1973 gesehen werden kann.

Riedemann selbst äußert sich folgendermaßen zum Verhältnis von Literatur und Geschichte:

Concibo la literatura como instrumento de intervención en las historias consideradas oficiales, con el propósito no de cuestionarlas de modo explosivo, sino, más bien, de recu-perar aquello que esa historia, por distintas razones, no registró, no incorporó o desechó por negligencia o deliberadamente por expresiones de intereses creados o por decisiones políticas institucionales. (Mansilla 1999:Entrevista Riedemann)

Sicherlich kann Karra Maw’n allein als Geschichtsbuch nicht ausreichen. Viele Kenntnisse werden bei der Leserschaft vorausgesetzt und Ereignisse nur beispielhaft oder metapho-risch für die histometapho-rischen Entwicklungen angeführt. Die Textanalysen haben gezeigt, dass Riedemann mit sehr ähnlichen Mitteln arbeitet wie Contreras Vega, Riveros oder Muñoz, indem er die Vergangenheit und die Gegenwart als zwei verschiedene Manifestationen derselben treibenden Kräfte in der Geschichte darstellt. Was Karra Maw’n von den bisher untersuchten Werken abhebt, ist zum einen der persönliche und humorvolle, bisweilen sarkastische Ton. Riedemann versucht, durch (oft ironischen oder zynischen) Humor,

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Distanz zu den Geschehnissen zu schaffen und sie scheinbar zu verharmlosen. Diese Art des Umgangs mit Geschichte verbirgt im Kern eine hilflose Haltung. Hilflosigkeit zeigt sich auch in der Naturalisierung des Prozesses der Conquista (Pflanzenmetaphorik) oder der Diktatur (Erdbeben).

Die Tatsache, dass über die einfache Darstellung von Ereignissen hinaus eine Haltung der Geschichte gegenüber deutlich wird, zeigt, dass Karra Maw‘n zurecht „reescritura poética de la historia de Chile“ genannt werden kann. (Mansilla 1996b:61)