• Keine Ergebnisse gefunden

Studien über Autorität und Familie. Die Konzeption des Gesellschaftscharakters 35

1. VON DER PSYCHOANALYSE ZUR ANALYTISCHEN SOZIALPSYCHOLOGIE

1.4. Studien über Autorität und Familie. Die Konzeption des Gesellschaftscharakters 35

In Paris gab Horkheimer in den „Schriften des Instituts für Sozialforschung“ 1936 diese

„Studien“ heraus, wobei andere Teile von Max Horkheimer (Allgemeiner Teil) und Herbert Marcuse (Ideengeschichtlicher Teil) verfaßt wurden. Den zweiten Teil machen Erhebungsresultate aus. Es geht um die Frage, wie die verschiedenen Kultursphären (Politik, Moral, Religion) miteinander in Beziehung stehen und welche Einflüsse dabei überwertig sind. Es ergab sich, daß die Autorität entscheidenden Einfluß ausübt:

Positiv ausgedrückt, gehört zu einem jeden Autoritätsverhältnis die gefühlsmäßige Bindung einer untergeordneten zu einer übergeordneten Person oder Instanz. Das Autoritätsgefühl scheint immer etwas von Furcht, Ehrfurcht, Respekt, Bewunderung, Liebe und häufig auch Haß zu haben (ebd. S.143).

An den vorbereitenden Seminaren nahmen neben Fromm Max Horkheimer, der Pädagoge Leo Löwenthal, der Philosoph Herbert Marcuse und der Wirtschaftshistoriker Karl August Wittfogel teil. Theodor W. Adornos Buch über die autoritäre Persönlichkeit (1950) ist ohne Fromms Vorarbeiten nicht denkbar.

Im ersten Teil wird der Zusammenhang zwischen Autorität und Über-Ich und die Rolle der Familie bei dieser Entwicklung dargestellt. Freud hatte in seinem Begriff des Über-Ichs (Ideal-Ich, Ichideal) die gesellschaftliche Realität zu wenig einbezogen. Bereits in der Familie übernimmt das Kind durch die Introjektion der väterlichen Dominanz die bestehende Gesellschaftsordnung. Dabei spielt vor allem das Über-Ich eine zentrale Rolle, indem die „soziale Hilflosigkeit der Erwachsenen ... der biologischen Hilflosigkeit des Kindes ihren Stempel aufdrückt“ (ebd. S.160) und damit die Wirkung der Autorität verstärkt.

Im Gegensatz zu Freud erblickt Fromm im Ich jedoch einen wesentlicheren Teil des „seelischen Apparates“,

der sich selbst mit der Entfaltung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Lebenspraxis entwickelt und seinerseits wiederum als eine Produktivkraft in die gesellschaftliche Lebenspraxis eingeht (ebd.

S.161).

Angst hemmt die Entwicklung des Ich, während die Befriedigung der genitalen Strebungen die maximale Entfaltung fördert. In der christlichen Kultur wird die Sexualität als etwas Schlechtes und Sündhaftes abgewertet. Die dennoch vorhandenen Bedürfnisse erzeugen Angst und Schuldgefühle, die wiederum Unterwürfigkeit und Abhängigkeit von der Autorität verstärken. In der Regression (Abbau des Ichs) auf orale und anale Stufen bleibt die Energie und Spannung gestaut, da prägenital keine physiologische Abfuhr möglich ist. Auf diese Weise verliert das Ich noch mehr Kraft und versagt in der Leitung der Triebe.

47 Dieser Aufsatz macht deutlich, daß sich Fromm von zahlreichen Thesen des „Übervaters“ Freud gelöst hatte. Dies ist wohl auf den häufigen und engen Kontakt mit Georg Groddeck, auf die ernüchternden Erfahrungen mit der eigenen Analyse bei Hanns Sachs in Berlin und die Zusammenarbeit mit Max Horkheimer (den er in einem Zitat erwähnt) zurückzuführen. Wahrscheinlich bewirkte auch der Tod seines Vaters 1933, daß Fromm die eigene männliche Identität neu überdachte. Überdies hatte die räumliche Distanz zu Europa (Fromm befand sich seit 1933 praktisch nur noch in den USA) den Ablösungsprozeß erleichtert.

48 EF: Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil (1936). GA, Bd.1, S.139

Der regressive Ich-Abbau wird am Beispiel der Hypnose49 dargestellt und mit der Familien-Konstellation verglichen. Der Hypnotiseur nimmt (in der Regel) die Stelle des Vaters in der Kindheit ein und herrscht uneingeschränkt. Deshalb sind die Funktionen des Ich überflüssig, so daß sogar die Wahrnehmung durch den Hypnotiseur manipuliert werden kann. Das Verhältnis zur Autorität wird somit unter dem Aspekt des Ich-Abbaus in einer hypnoiden Situation verstanden.

Je absurder und irrationaler die herrschenden Ideologien dabei vorgehen, um so einleuchtender ist der Masse die Macht:

Das Vernünftige könnte ja der einfache Mann selbst tun; das Unvernünftige und Wunderbare versprechen, ist das Vorrecht des Gewaltigen und Übermächtigen und bedeutet nur eine Erhöhung seines Prestiges (ebd.

S.166).

Die Autorität verkörpert auch Ideale. Deshalb ist nicht nur Angst wirksam, sondern auch Bewunderung. Wer den Machthabern nicht gehorcht, verliert ebenso deren Liebe. Je nach gesellschafts-politischer Situation kann deshalb auch Triebunterdrückung den Status eines Lebensideals (wie im Christentum und vor allem im Protestantismus) erringen. Dadurch können z.B. für einen Arbeitslosen in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft unlösbare Konflikte entstehen, da er kaufmännische Ideale verinnerlicht hat, welche den Lebensgenuß zugunsten des Gelderwerb verachten.

Autoritäres Verhalten und Masochismus sind eine Einheit. Deshalb spricht Fromm vom „autoritär-masochistischen Charakter“. Wie kommt es dazu, daß der Unterworfene den Zustand des Gehorchens und der Unterwerfung genießt oder zumindest bereitwillig akzeptiert? Diesen Zusammenhängen sind vor allem Wilhelm Reich50 und Karen Horney51 nachgegangen. Sie wiesen nach, daß der „autoritäre Charakter“ je nach Situation andere beherrscht oder sich der Macht unterwirft. Furcht steht am Anfang des Masochismus; daraus entwickelt der autoritäre Charakter Ehrfurcht, Bewunderung und Liebe, wobei Neid und Haß ebenfalls — verdrängt — vorhanden sind.

Dies ist z.B. daran erkennbar, daß Mächtige in Gute und Böse aufgeteilt werden (fremde Götter und Führer werden dann gehaßt, während man sich dem eigenen Vater oder Führer unterwirft).

Auf der anderen Seite erwecken Hilflosigkeit und Schwäche im Masochisten Verachtung und Haß. Der Haß gegen den Stärkeren wird verdrängt und erscheint als sadistische Grausamkeit gegen den Schwächeren. Frauen, Kinder und Tiere sind üblicherweise die Objekte des Sadismus; jedoch können auch Rassen, die ideologisch zu

„Minderwertigem“ gemacht wurden, an ihre Stelle treten. Je miserabler die ökonomische Situation ist, um so autoritärer und sadomasochistischer sind die Strukturen innerhalb einer Gesellschaft.

Der Masochismus ist auch an der Schicksalsgläubigkeit erkennbar. Der Masochist liebt es, sich einem blinden und allmächtigen Schicksal zu unterwerfen.

Rationalisiert heißt es dann vielleicht „Naturgesetz“, „Macht der Vergangenheit“, „Wille Gottes“, „Pflicht“: „Der masochistische Charakter vergottet die Vergangenheit“ (ebd.

S.175). Masochistische Weltanschauung ist deshalb durch Konservatismus, Opfer aus Pflicht, ehrfürchtige Knechtschaft, Pessimismus und der Unterwerfung unter das Schicksal charakterisiert. Irrationalität ist in der Beziehung zur Macht keineswegs ein Hindernis, im Gegenteil:

Je mehr ... die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je blinder und unkontrollierter die gesellschaftlichen Kräfte sind, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten,

49 Dabei verweist Fromm auf Ferenczis Ausführungen in: Schriften zur Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1970/1972

50 Reich, Wilhelm: Charakteranalyse. Technik und Grundlagen. Wien 1933

51 Horney, Karen: The Problem of Feminine Masochism. In: Psychoanalytic Review, New York 22 (1935)

desto stärker und allgemeiner wird die sado-masochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und zur Lust (ebd. S.177).

Wer masochistisch an der Macht partizipiert, befriedigt auch Lust in Form narzißtischer Ersatzbefriedigung, da die Anlehnung an die Herrscher Angst reduziert, Schutzbedürfnisse sowie eigene phantasierte Wünsche nach Größe und Stärke erfüllt.

Machthaber und Verführer aller Zeiten nutzten diese Schwäche der Menschen aus, indem sie glanzvolle Spiele und Feiern organisierten und nationalistische Affekte schürten52.

Psychoanalytisch gesehen werden im Sadomasochismus die prägenitalen Strebungen verstärkt, so daß die genitale und normale Sexualität geschwächt wird. Dies wiederum fördert latent und manifest homosexuelle Tendenzen. Die stets vorhandene Angst wird auf die Frau als unbekanntes Wesen projiziert; darüber hinaus ist sie in der patriarchalischen Gesellschaft die Schwächere, die gehaßt wird, während der männliche Führer verehrt und geliebt wird.

Masochistische Menschen neigen zu verstärktem Zweifeln und Zögern, was charakteristisch für Zwangsneurotiker ist. Autoritäre Führer nehmen ihnen die Entscheidungen ab und erlösen sie aus ihrer seelischen Not. Im Zusammenhang mit der

„patrizentrischen Gefühlsstruktur“, die sich Liebe und Sympathie der Führer nur aufgrund von Gehorsam und Pflichterfüllung zugesteht, prädestiniert der sadomasochistische Charakter zu den typischen bürokratischen Befehlsempfängern53.

Die Autorität festigt ihre Macht und ihre Position durch zahlreiche Handlungen wie imposante Aufmärsche, soziale Distanz, willkürliche und von den Machthabern gegängelte Strafjustiz, kirchliche Segnungen, Berufung auf Gott und vor allem durch ständigen Terror, der eine diffuse Angst erzeugt. Uniformen, Rituale und Zeremonien sowie Propaganda sind zusätzliche Faktoren, welche die Untertanen beeindrucken.

Zuerst werden diese autoritären Strukturen in der Familie, hernach in der Schule und anderen Institutionen eingeübt. Die Religion trägt viel dazu bei, da sie durch eine umfassende Abwertung des Einzelnen das Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und Nichtigkeit erzeugt. Dies sind wichtige Voraussetzungen für den blinden Glauben an die Obrigkeit.

Jedoch ist die Geschichte auch eine Kette von Auflehnungen. Wer von der Autorität abfällt, aber die autoritäre Charakterstruktur beibehält, ist — wie Fromm formuliert — ein Rebell. Wer jedoch keine Unterwerfung unter eine Autorität mehr benötigt, ist ein Revolutionär. Rebellen sind neurotisch strukturiert. Deshalb werden sie auch zwanghaft dazu getrieben, z.B. vernünftige Sachautoritäten zu verteufeln, zu bekämpfen oder zu hassen. Fromm ist der Meinung, daß sich solche Rebellen hauptsächlich unter den Anarchisten finden54. Andere Rebellen wiederum unterwerfen sich der nachfolgenden Autorität.

Fromm unterscheidet auch zwischen demokratischen und totalitären Autoritäten.

Letztere erzeugen nur Untertanen, während Autoritäten, die sich auf Wissen und Können stützen, in allen Bereichen der Gesellschaft nötig und förderlich sind. Dies ist bereits in der Familie erkennbar, wenn die Erziehung auf „rationaler Autorität“ beruht:

Sie dient ausschließlich der Entfaltung des Kindes, und soweit sie die Unterdrückung bestimmter Triebregungen fördern muß, ist auch diese triebeinschränkende Funktion verschieden, weil sie im Interesse der

52 In unserer modernen Kultur haben dies der Sport, das Fernsehen, die Reklame und die Computerspiele übernommen.

53 Offensichtlich hat Fromm hier bereits den Befehlsempfänger in der Diktatur beschrieben, der mit gutem Gewissen Verbrechen begeht, da sie von oben vorgeschrieben wurden (Eichmann, Himmler usw.).

54 Diese Auffassung wurde hauptsächlich durch die dogmatische Literatur der herrschenden Kommunisten und Stalinisten verbreitet. Andere Erfahrungen sind u.a. bei H.M. Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Frankfurt/Main 1972 oder bei Arthur Koestler: Autobiographische Schriften (1971) aufzufinden.

Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes liegt (ebd. S.187).

Kommentar: Mit dieser Arbeit hat sich Fromm einen bleibenden Platz in der Sozialpsychologie erobert. Seine Analyse des autoritären Charakters ist nicht nur von zahlreichen anderen Autoren kopiert worden und in deren Werke eingegangen, sondern ist noch heute von zentraler Bedeutung: Denken wir nur an die noch global verbreiteten autoritären (diktatorischen) Strukturen. Souverän überträgt er psychoanalytische Begrifflichkeiten auf gesellschaftliche Vorgänge und erweitert sie auf soziologische und historische Themen.

Ebenfalls in dieses Jahr (1936) läßt sich Fromms vielleicht wichtigste Begriffsbildung datieren, nämlich der Terminus des Gesellschaftscharakters. Er taucht zum ersten Mal im erläuternden Beitrag55 Fromms zu Max Horkheimers Buch Autorität und Familie auf, das 1936 veröffentlicht wurde. Es handelt sich dabei um Erhebungen des „Instituts für Sozialforschung“ über Sexualmoral, Autorität und Familie in verschiedenen Ländern und Untersuchungen bei Arbeitslosen.

Aus der Gesamtheit der Antworten wurde auf eine spezifische Charakterstruktur geschlossen, wobei sich damals nur der autoritäre Charakter als theoretisch fundiert herauskristallisierte. Die charakterologischen Typen bilden eine allen gemeinsame unbewußte seelische Haltung, nämlich den Gesellschaftscharakter.

1.5. Kritik an und Konkurrenz mit Kollegen

Fromm war nicht der erste, der Marx und die Psychoanalyse miteinander verknüpfen wollte. Dies kann aus Fromms Aufsätzen nicht abgeleitet werden, da er z.B.

die intensiven Gespräche mit den Berliner Freudo-Marxisten Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich nicht erwähnt und sie praktisch nicht zitiert. Fromms „Abstinenz“

gegenüber seinen geistigen Vätern, Brüdern und Schwestern — mit Ausnahme des Übervaters Freud — wird uns noch oft begegnen.

Reich z.B. war in Berlin intensiv bemüht, die Psychoanalyse — und darin hauptsächlich die Sexualtheorie — politisch mit dem Marxismus zu verbinden und die Bevölkerung gegen den Faschismus zu mobilisieren (unter anderem in der MASCH, der marxistischen Arbeiterschule, wo er Vorlesungen über die Sexualpolitik, den sogenannten „Sexpol“, hielt). Auch Manès Sperber, damals noch engagierter Anhänger des Individualpsychologen Alfred Adler, beteiligte sich am Klassenkampf auf der Seite der Kommunisten und berichtet, daß Reichs sexueller Befreiungskampf ihm allzu einseitig zu sein schien, zeigte sich doch in der Psychotherapie, daß die wahllos praktizierte Sexualität niemanden wirklich frei und glücklich macht.56

Zu Wilhelm Reichs Theorie nahm Fromm 1933 Stellung, als er im Rahmen des

„Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ zwischen 1932 und 1939 30 Rezensionen für die „Zeitschrift für Sozialforschung“ schrieb (Der Einbruch der „Sexualmoral“57).

Reich stützte sich auf Malinowskis ethnologische Untersuchungen der Tobriander58 (1930), die relativ autoritätsfrei (mutterrechtlich) und sexuell ungehemmt erzogen wurden. Daraus resultierten Erwachsene mit erfülltem sexuellen Erleben und Fehlen von Neurosen und Perversionen.

Reich stellte eine unmittelbare Verbindung zwischen den ökonomischen und sexuellen Verhältnissen her. Kapitalismus bewirke sexuelle Unterdrückung und deshalb auch entsprechende psychische Krankheiten. Er empfahl, an die Stelle einer Sexualmoral eine Sexualökonomie zu setzen.

Fromm bejahte die theoretische Fundierung Reichs in den sozio-ökonomischen Usachen, lehnte aber zahlreiche Schlußfolgerungen und Beweisführungen des Autors ab. Unter anderem wendet er ein:

55 EF: Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen (1936). In: GA Bd.3, S.225 56 Sperber, Manès: Die vergebliche Warnung. In: All das Vergangene... Wien 1983

57 EF: Rezension zu W. Reich „Der Einbruch der Sexualmoral“ (1933). In: GA Bd.8, Stuttgart 1981, S.93 58 Malinowski, B.: Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. Zürich-Leipzig 1930

Wenn Reich davon spricht, daß dem Fortschritt der Produktion ein Niedergang der Sexualkultur parallel ging und die „natürliche“ Sittlichkeit der Primitiven rühmt, so scheint uns hier eine gewisse undialektische Vereinfachung vorzuliegen und vor romantischen Tendenzen zu warnen zu sein (ebd. S.96).

Wie recht Fromm hier hatte, beweist der tragische Lebenslauf Reichs, der in den USA mit seiner Einführung der „Orgon“-Theorie in vorwissenschaftliche Behandlungsmethoden zurückfiel und wegen „medizinischer Scharlatanerie“59 inhaftiert wurde. Er starb 1957 mit 60 Jahren im Gefängnis an Herzversagen.

Siegfried Bernfeld war einer der wenigen Psychoanalytiker, die sich offen zum Sozialismus bekannten. Er hatte sich schon erstaunlich früh (191860) für Veränderungen in der Pädagogik im Sinne des Marxismus eingesetzt und für die Verbindung von Sozialismus und Psychoanalyse61 plädiert.

Was Fromm in der Abhandlung Über Methode und Aufgabe eine Analytischen Sozialpsychologie (1932) noch als „idealistisch“ kritisiert und als angeborenes moralisches Prinzip deklariert — z.B. den „sozialen Trieb“ —, wird er in seinen späteren Arbeiten sehr wohl als „menschliches Bedürfnis“ akzeptieren und den sozialen und ökonomischen Bedingungen gegenüberstellen. Die Kritik an der Übertragung psychoanalytischer Trieb- und Bedürfnis-Theorien auf den Marxismus werden wir in der kritischen Würdigung anfügen (unter anderem von Agnes Heller62).

Möglicherweise wirkte sich Fromms Konkurrenz-Problem auch an anderer Stelle negativ aus: Er kritisierte nämlich einen Kampf- und Leidensgenossen, Otto Rank, 1939 massiv und ungerecht im Artikel über Die Sozialphilosophie der „Willenstherapie“

Otto Ranks63. Rank (1884-1939) war bis etwa 1924 einer der getreuesten Anhänger Freuds und galt sogar als sein Nachfolger. Publizistisch war er sehr erfolgreich, auch als Vortragender in den USA, wohin er 1935 emigrierte.

Fromm hatte Bedenken, diesen Aufsatz durch Rainer Funk in die Gesamtausgabe aufnehmen zu lassen; es spricht für seine Aufrichtigkeit, daß er es trotzdem zuließ. Die harsche Kritik, die er an Rank darin äußert, wurde von ihm später nicht mehr wiederholt. Im Gegenteil: In späteren Aufsätzen verteidigt er ihn auf der Seite der Freud-Abweichler gegen die Anschuldigungen vor allem von Ernest Jones, der in seiner Freud-Biographie willkürlich und böswillig zahlreichen Abtrünnigen Neurosen und Psychosen attestierte.

Fromm klagt Ranks „Willenstherapie“ an, die Freudsche Weltanschauung derart verraten zu haben, daß er in „eine enge Verwandschaft mit Elementen der faschistischen Weltanschauung“ (ebd. S.106) geraten sei. Dabei zitiert Fromm offensichtlich Ranksche Aussagen, die den Neurotiker und nicht den gesunden Menschen — der bei Rank dem nicht-angepaßten Künstler entspricht — betreffen.

Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Der Neurotiker intendiert in der Psychotherapie eine fortgesetzte Analyse, um sich nicht aus der Familien-Abhängigkeit lösen zu müssen. Aus diesen Gründen propagierte Rank gerade das Gegenteil dessen, was Fromm herauszulesen glaubte, nämlich eine verkürzte Psychotherapie. Rank zählt deshalb zu den Pionieren der Kurztherapie. Dies wird in der Beschreibung von Anaïs Nin64 deutlich, wo er ihr sagte:

Ich glaube nicht an langwierige Psychoanalysen. Ich halte nicht viel davon, in die Vergangenheit zurückzugehen und mit ihr die Zeit zu verschwenden.

Fromm benutzte offensichtlich Ranks aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, um die Analyse des Faschismus voranzutreiben (sie wird dann im Buch Die Furcht vor der

59 Rattner, Josef: Klassiker der Tiefenpsychologie. München 1990, S.269

60 Bernfeld, Siegfried: Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf. Berlin 1918 61 Ders.: Sozialismus und Psychoanalyse. In: Der sozialistische Arzt, 2 (1926), Heft 2/3

62 Heller, Agnes: Theorie und Praxis — ihr Verhältnis zu den menschlichen Bedürfnissen. In: Individuum und Praxis. Positionen der „Budapester Schule“ (Lukács, Heller, Fehér u.a.). Frankfurt am Main 1975 63 EF: Die Sozialphilosophie der „Willenstherapie“ Otto Ranks. In: GA Bd.8, S.97

64 Nin, Anaïs: Die Tagebücher, Bd.1, 1974, S.16

Freiheit, 1941, vervollständigt).

Wie aber kam es, daß Fromm solche Fehlinterpretationen unterliefen? Wir sind nicht in der Lage, die genauen Motivationen auszumachen, da Fromm diese Fehleinschätzung nie kommentiert hat. Aber dieser blinde Fleck könnte damit zusammenhängen, daß Rank das verkörperte, was Fromm im Begriffe war, zu werden:

Ein „Abweichler“, der von der orthodoxen Psychoanalyse ausgeschlossen wurde, obwohl

— oder gerade weil — er so populär wurde.

Im Gegensatz zu Rank hatte sich Fromm aber niemals von Freud ganz losgesagt; im Gegenteil: Bis zuletzt bezeichnete er sich trotz unüberwindlicher Gegenpositionen als Psychoanalytiker. Möglicherweise war Fromm eifersüchtig auf den lange Zeit als Nachfolger Freuds gehandelten Rank und neidisch auf dessen entschiedene (reife) Ablösung von seinem „Übervater“. Solche verdrängten Affekte könnten Fromms Urteilsvermögen getrübt haben. Der Ablösungsprozeß von Freud zählt zur „zweiten Geburt“, nämlich der Person. Diese Wehen drücken sich in seelischen Schmerzen und Leidenschaften aus.

2. Vom Judentum und Christentum zur Religion ohne Gott

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE