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Neo-marxistische Analyse der Aggression

6. AUSBLICK UND KRITISCHE WÜRDIGUNG: FROMMS BEITRÄGE ZUR

6.3 Aggressionstheorie

6.3.1. Neo-marxistische Analyse der Aggression

Die neo-marxistische Philosophin Agnes Heller, 1929 in Budapest geboren, Schülerin und Assistentin von Georg Lukács, von den ungarischen Kommunisten wegen ihrer „revisionistischen“ Ideen aus der Akademie ausgestoßen, setzte sich in ihrem Aufsatz Aufklärung und Radikalismus — Kritik der psychologischen Anthropologie Fromms417 (1977) sorgfältig mit Fromms Aggressionstheorie auseinander.

Heller stellt Fromms Konzepte in eine Reihe mit den Theorien der „dritten Richtung der Psychologie“, deren namhaftester Vertreter Abraham H. Maslow418 war. Im Zentrum der „humanistischen Psychologie“, wie sie auch genannt wird, steht die Persönlichkeit des Menschen. Heller nennt deren Auffassung einen

„persönlichkeitstheoretischen Naturalismus“, da sie das Wesen des Menschen — und damit auch das Gute — aus der Natur des (einzelnen) Menschen ableitet.

Fromm kritisiere mit Recht am „Instinkt-Theoretiker“ Konrad Lorenz wie auch am Behaviorismus, daß beide den Menschen wie eine Marionette behandeln. Darüber hinaus hätten sie einen viel zu weiten Begriff von Aggression. Aber auch Fromms Begriff sei zu unspezifisch und verschwommen, wenn er die Aggression folgendermaßen definiert:

Alle Akte ..., die einer anderen Person, einem Tier oder einem unbelebten Objekt Schaden zufügen oder dies zu tun beabsichtigen (ebd. S.16).

Nach dieser Definition wären wir als Fleischesser allesamt schon Aggressoren, da wir Tiere töten, ohne uns verteidigen zu müssen. Oder ein anderes Beispiel: Wer einem Notleidenden Geld gibt, schädigt damit seine Familie finanziell und wäre damit — laut Fromms Definition — aggressiv, was gewiß nicht stimmt.

Welche Definition von „Aggression“ wäre dann richtig? Heller enttäuscht hier vermutlich viele Leser, wenn sie schreibt:

416 Reif, Adelbert (Hrsg.): Erich Fromm — Materialien zu seinem Werk. Wien 1978

417 Heller, Agnes: Aufklärung und Radikalismus — Kritik der psychologischen Anthropologie Fromms. In:

Instinkt, Aggression, Charakter. Einleitung zu einer marxistischen Sozialanthropologie.

Hamburg/Berlin 1977

418 Maslow, Abraham H.: Psychologie des Seins (1968). München 1973

Meiner Ansicht nach ist nämlich die Aggression — als allgemeiner Begriff — undefinierbar, da eine „Aggression im allgemeinen“ überhaupt nicht existiert.

Definieren kann man nur dort, wo es gemein-wesentliche Merkmale gibt (ebd. S.18).

Aggression als solche existiere nicht, da sie ein Wertbegriff mit negativem Akzent ist, geschaffen aus der Erfahrung mit Faschismus, Kriegen, Bedrohung durch Atombomben, Verbrechen usw.

Im zweiten Teil des vorliegenden Buches419 geht Heller auch sorgfältig und kenntnisreich auf andere Argumente ein, die behaupten, die menschliche Aggressivität beweisen oder antrainieren zu können (die Instinkt- und Triebforscher420 verweisen hierbei auf Phänomene wie Krieg, Kannibalismus und Wut, während die Behavioristen der Ansicht sind, daß man jeden Menschen aggressiv konditionieren könne).

Heller verwendet den Begriff der Aggression nicht als Kategorie, sondern als

„regulative theoretische Idee“, um die menschliche Entwicklung hemmende, schädigende und „gefährliche“ Handlungs- und Verhaltenstypen zu charakterisieren. Ihr Anliegen ist es, deren psychische und soziale Hintergründe aufzudecken.

Fromm hingegen möchte die Aggression aus der menschlichen Natur ableiten, deren vitale Interessen und Bedürfnisse in Aggression umschlagen, wenn sie durch eine kranke und entfremdete Gesellschaft frustriert werden.

Heller weist Fromm nach, daß er den Marxschen Entfremdungsbegriff falsch verwendet hätte. Marx verstand unter Entfremdung das Auseinanderklaffen der in der gesamten Gesellschaft vorhandenen „Gattungskräfte“ — dem „Reichtum der Gattung“ — und der relativen Armut der Individuen. Fromms Entfremdungs-Begriff lasse sich eher auf Feuerbach zurückführen (Projektion der menschlichen Eigenschaften auf Gott).

Deswegen sei es Marx nicht um die Entfaltung des Individuums im Sozialismus gegangen, sondern um die Aufhebung der Arbeitsteilung, damit sich jeder den bereits entfalteten Gattungsreichtum aneignen könne — was aber letztlich den Frommschen Thesen recht nahe kommt.

Der Mensch finde bei der Geburt als „stumme Gattung“ nur biologische Voraussetzungen zur Selbsterhaltung vor und erhalte alle seine Ziele, sein Ich und sein Wesen „von außen“, d.h. von der Gesellschaft, in die er hineingeboren werde:

Die Gesellschaft ... entwickelt den Menschen aus dem Menschen auf eine Weise, daß das Individuum seine eigentliche Gattungsmäßigkeit, die im Augenblick seiner Geburt außerhalb seiner selbst existiert, aktiv in sich

„einbaut“ (ebd. S.23).

Was er einbaut, sind die „sozialen Objektivationen“. Fromm postuliert eine Art „Instinkt der gutartigen Aggression“, der von der Zivilisation unterdrückt wird. Er ist der Meinung, daß Liebe, Solidarität, Gerechtigkeit, Wahrheitsstreben und Vernunft unserer biologischen Natur mitgegeben wären, sogar in unserem genetischen Code. Heller dagegen ist der Überzeugung, daß mit der Zivilisation (den Objektivationen, den Normen und Verhaltensweisen) neben dem Bösen auch das Gute in die Welt trete:

Denn das Gute und das Böse sind Reflexionsbestimmungen und zugleich moralische Kategorien (ebd. S.24).

Damit erhält der Mensch die Chance einer relativ freien, d.h. bewußten Wahl, um sich zwischen den moralischen Normen entscheiden zu können.

Der von Fromm als „biophiler Charakter“ beschriebene Mensch sei keineswegs der (gute) Mensch im allgemeinen, sondern ein heutiger Menschentyp, „den Fromm zu den gleichfalls heute gegenwärtigen Subjekten der Menschheitsvernichtung in Gegensatz stellt“ (ebd. S.27). Die von den Biophilen angestrebten Werte wurden von den antiken

419 Heller, Agnes: Über die Instinkte — Studie zur Sozialanthropologie. In: Instinkt, Aggression, Charakter. Hamburg/Berlin 1977

420 Kurth, Gottfried: Implications of Primate Paleontology for Behavior. In: Spuhler J.N. (Ed.): Genetic diversity and Human Behavior. Chicago 1967

Griechen, den Christen und der bürgerlichen Gesellschaft als Werte bereits herausgearbeitet und als solche erkannt.

Heller kommentiert Experimente (z.B. von Stanley Schachter421), welche belegen, daß durch Stimulation im Gehirn oder durch Adrenalin ausgelöste Spannungszustände von den jeweiligen Probanden ganz unterschiedlich als physiologische Veränderungen, Freude, Aufregung oder Wut interpretiert wurden. Schachters Experimente machten deutlich, daß erst „sozial-kognitiv vermittelte Ursachen“422 (charakteristische Situationen) Emotionen in Ärger, Angst, Freude usw. verwandeln. Wut und Aggression sind auch keinesfalls identisch, obwohl gewisse Aggressionen mit Wut einhergehen können. Heller schließt daraus: Der Mensch besitzt weder einen defensiven noch einen offensiven aggressiven Instinkt.

Fromm leitete das Böse aus zwei Charakterkonstellationen ab, dem Sadismus und der Nekrophilie. An letzterem Konzept nimmt Heller zahlreiche Korrekturen vor, ohne es ganz zu verwerfen. Hitler z.B. passe wohl in das nekrophile Charaktersyndrom, Göring und Eichmann aber nicht. Denn Eichmann als geschickter Bürokrat wäre unter anderen Umständen, wie viele andere Deutsche, vielleicht Verkehrsexperte geworden (dieses Argument stammt von Fromm). Letztlich wären wir sogar alle nekrophil, da wir in einer entfremdeten Gesellschaft leben. Man müßte eher danach fragen, wie der unauffällige deutsche Bürger zur Aggression fähig gemacht wurde und noch immer gemacht werden kann.

Darauf gebe Fromms dritte „geheime Aggressionstheorie“, die Heller mit ihm teilt, eine Antwort. Die destruktive Einstellung hängt von den „bewertenden und der auf den Wertgehalt der Objektivationen bezogenen bewußten Intention, Wahl und Entscheidung“

(ebd. S.39) ab und ist somit veränderlich423, was bedeutet, daß die moderne, technisierte, auf Konkurrenz ausgerichtete Gesellschaft die „instrumentale Aggression“ als Norm akzeptiert hat und sie als Wert vermittelt. Diese aggressiven Verhaltensweisen benötigen weder Wut noch erzeugen sie Lust:

Wer ein Mädchen seines Geldes wegen heiratet, einen Geschäftsmann zugrunde richtet, um zu einem größeren Einkommen zu gelangen, seine Angehören belügt, um Konflikten auszuweichen usw. — der hat die

„Zweckrationalität“ an die Stelle der „Wertrationalität“ gesetzt (ebd. S.51).

Deshalb ist die instrumentale Aggression bei vielen Menschen zu einem „natürlichen“

Bestandteil ihres Charakters geworden.

Zwar ist der Mensch — so lauten Hellers Schlußfolgerungen — nicht von Natur aus gut oder biophil. Aber die humanistischen und produktiven Orientierungen Fromms geben erstrebenswerte persönliche und gesellschaftliche Leitbilder für die Zukunft vor.

Im zweiten Teil des Buches Instinkt, Aggression, Charakter geht Heller unter anderem auf das Phänomen Krieg ein und bestätigt zwar, daß „der Krieg selbst, das legalisierte Morden, ständiger Produzent von Aggressivität ist“; doch wäre auch das Gegenteil denkbar:

Aggressivität kann sich als nicht-einbaubar erweisen, wenn die Struktur der Gesellschaft Aggressivität überflüssig macht und für ihren Einbau keine Chancen bereitstellt (ebd. S.112).

Der weit verbreitete Sadismus sei ebenfalls nicht auf einen angeborenen Trieb, sondern auf ein gesellschaftlich vermitteltes „perverses Subjekt-Objekt-Verhältnis“, in dem ein entfremdetes Ich den anderen als Mittel zum Lustgewinn benutzt, zurückzuführen.424

Eine aggressionsfreie Gesellschaft ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht vorstellbar, da in unserer Zeit der Egoismus als Lebensideologie und Leitprinzip sowie

421 Schachter, St.: A Cognitive-Psychological View of Emotion. In: Perspectives in Social Psychology.

New York 1965

422 Schachter St. und Singer, J.E.: Cognitive, social and physiological determinants of emotional state.

Psychol. Rev. 1962, 69, 379-399

423 Heller, Agnes: Das Alltagsleben. Budapest 1970

424 Hier ist auf das „Big-Brother“-Projekt zu verweisen (siehe 6.4)

die Konkurrenz sich durchgesetzt haben und der Mensch sich nicht am eigenen Schopf durch Selbstverwirklichung aus dem Sumpf der Entfremdung ziehen könne. In diesem Punkt stimmt Heller mit Fromm überein.

Kommentar: Fromm hat in seinem Konzept die personale Reifung für die Verwirklichung des „Guten“ vorausgesetzt (vor allem in Psychoanalyse und Ethik, 1947).

Damit erwies er sich weitaus progressiver und mutiger als die Mehrzahl der Analytiker, welche Ethisches aus der Tiefenpsychologie und Psychotherapie heraushalten möchten.

Heller ist zwar auch der Ansicht, daß die Zukunft davon abhängt, ob der Mensch das

„Gattungswesen“ in seine zweite Natur einbauen kann oder nicht. Dies gelinge möglicherweise durch Änderungen in den bestehenden Verhältnissen, aber nicht durch Manipulation oder Bekehrung. Diejenigen, welche am meisten unter den bestehenden Verhältnissen leiden und diejenigen, welche „der an Eigentumswert orientierten Gesellschaft den Handschuh vor die Füße werfen“ und sich selbst verwirklicht haben, wären am ehesten dazu in der Lage, eine bessere Zukunft herbeizuführen. Hier fehlen der Philosophin jedoch Erfahrungen und Einsicht in Projekte, welche die Entwicklung zu positiven Gefühlen und revoltierenden Charakterzügen belegen.425

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