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3. VOM BEITRAG DES MATRIARCHATS ZUM MARXISMUS UND VOM

3.4. Der Marxsche Sozialismus

Ziel des Sozialismus ist das Wohlergehen und die Entwicklung des Menschen.

Arbeit aus Not und zum Selbstzweck sollte nicht mehr erforderlich sein, da vergesellschaftete Menschen (in Kooperationen) und assoziierte Produzenten den Stoffwechsel mit der Natur regeln. Neben dem Reich der Notwendigkeit erhebt sich das Reich der Freiheit, in dem sich der Mensch verwirklichen könnte. Dies alles ist allerdings nur in einer politischen wie wirtschaftlichen Demokratie möglich. Der Mensch sollte sein Leben zu seiner Hauptbeschäftigung machen „anstelle der Produktion von Mitteln für das Leben“ (ebd. S.378).

Im Reich der Freiheit entwickelt sich der Einzelne zu einem vernünftigen, tätigen und unabhängigen Menschen, der Götzenbilder nicht mehr benötigt. Die sozialistische Gesellschaft dient den menschlichen Bedürfnissen, die man deshalb in „wahre“

(wirkliche, rationale, gesunde) und „synthetische“ (neurotische, kranke, illusorische) unterteilen kann.

Die wahren Bedürfnisse des Menschen sind jene, deren Befriedigung notwendig ist, wenn der Mensch sich als menschliches Wesen verwirklichen

139 Ein Mittel zum Zweck zu werden erreicht man z.B. dadurch, daß man seinen Körper, seine Ideen, seine Überzeugungen „verkauft“ und preisgibt, um Lustgewinn, Geld oder Besitz zu erlangen.

140 Dieses Phänomen ist besonders deutlich an den modernen Sportlern zu erkennen, die Millionen scheffeln, als menschliche Wesen aber wie Automaten sprechen und funktionieren.

will. Oder wie Marx sagt: „Was ich wahrhaft liebe, dessen Existenz empfinde ich als eine notwendige, als eine, deren ich bedürftig bin, ohne die mein Wesen nicht erfülltes, nicht befriedigtes, nicht vollständiges Dasein haben kann“ (ebd. S.379).

Damit übernehme, so sagt Fromm, die Marxsche Lehre religiöses Gedankengut, das er im folgenden anhand der prophetischen Visionen erläutert. Marx bekämpfte deshalb die Religion, weil auch sie entfremdet war, dem „Götzen, genannt Gott“ huldigte und nicht die wahren Bedürfnisse der Menschen befriedigte. Der Marxsche Atheismus sei „die fortschrittlichste Form einer rationalen Mystik“ (ebd. S.380).141

Es folgt im vorliegenden Essay ein historischer Abriß des messianischen und sozialistischen Gedankens einer neuen Gesellschaft, beginnend bei den Propheten des Alten Testaments, den Griechen und Römern, darauf Paulus und die katholische Kirche, die Reformation, die Aufklärung, Spinoza, Goethe und Hegel einbeziehend, um schließlich bei Marx zu enden.

Der Sozialismus kehrte zum Gedanken der „guten Gesellschaft“, welche auch die geistigen Bedürfnisse142 der Menschen berücksichtigt, zurück, wobei „geistige Verwirklichung“ und individuelle Freiheit zusammen gehören. Antiautoritär eingestellt möchte der Sozialismus den Staat zum Verschwinden bringen und eine Gesellschaft schaffen, „die aus freiwillig zusammenarbeitenden Individuen bestehen sollte“ (ebd.

S.383).

Der Sozialismus ist aber auch ein Gegner des Liberalismus, weil dieser Gesellschaft und moralische Werte trennt.

Fromm verweist darauf, daß erstaunlich wenige Autoren das Marxsche Denken fortsetzten. Dies mag damit zusammenhängen, daß die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte und die Deutsche Ideologie erst 1932 veröffentlicht wurden. Seiner Ansicht nach ist der Humanismus bis in die letzten Schriften von Marx nachweisbar.143

Abschließend zeichnet Fromm ein Bild von „Marx als Mensch“, das wohl etwas zu rosig ausfällt, wenn man z.B. die Biographie der jüngsten Tochter, Eleanor Marx144 und Richard Friedenthals Biographie145, zu Rate zieht. Aus beiden Werken wird deutlich, daß die Behauptung Fromms, Marx hätte keine Spur von Herrschsucht besessen, nicht korrekt ist.

Allerdings besteht kein Zweifel darüber, daß Marx ein kulturell hochgebildeter Mann war, der unter anderem seiner Liebe zu Aischylos und Shakespeare dadurch Ausdruck verlieh, daß er sie jedes Jahr in der Originalsprache las und daraus seiner Familie vortrug. Er bezeichnete Unterwerfung als ein großes menschliches Elend;

Servilität galt ihm als Laster. Seine Lieblingsmaximen lauteten: „Nichts Menschliches ist mir fremd“ und „Man muß an allem zweifeln“.

Fromm erwähnt, daß Marx oft sehr sarkastisch und aggressiv war. Dies hing auch mit seinem kompromißlosen Wahrheitssinn, seinem unerschütterlichen Mut und seiner unantastbaren Integrität zusammen. Selbstlosigkeit und wenig Eitelkeit sowie umfassende Sorge für den Menschen und seine Zukunft ergänzen Fromms Huldigung an diesen großen Menschen.

Fromm setzte sich für die Verbreitung der Marxschen Schriften in den USA tatkräftig ein. Deshalb schrieb er 1964 ein Vorwort zu Karl Marx „Selected Writings“146, welches die falschen Vorstellungen der Kommunisten und Sozialisten

141 Es ist zwar richtig, daß Marx eine religiöse Erwartungshaltung in seine Theorie eingebracht hatte. Ihn aber deswegen zum fortschrittlichen Mystiker zu stempeln, ist eine Frommsche Eigenheit.

142 Wenn „Freiheit“ als geistiges Bedürfnis angesprochen wird, müßte der Hinweis auf Schelers personale Psychologie erfolgen, welche die Gefühle als werterkennende Organe benennt. Mit anderen Worten kann erst die Person, welche in ihrem Kern Gefühle besitzt, Freiheit erringen.

143 Auf kommunistischer Seite haben vor allem Georg Lukács und Ernst Bloch, auf westlicher Seite Iring Fetscher (Sozialismus, vom Klassenkampf zum Wohlfahrtsstaat 1968), Herbert Marcuse (Reason and Revolution 1941), Jean-Paul Sartre (Kritik der dialektischen Vernunft 1960) und Maurice Merleau-Ponty (Humanismus und Terror 1947) auf den Humanismus von Marx aufmerksam gemacht.

144 Tsuzuki, Chushichi: Eleanor Marx. Geschichte ihres Lebens. Berlin 1981 145 Friedenthal, Richard: Karl Marx. Sein Leben und seine Zeit. München 1981 146 EF: Vorwort zu Karl Marx „Selected Writings“. In: GA Bd.5, S.395

(„Revisionisten“) zurechtrückt. Marx hätte, so betont Fromm unter anderem, nicht hauptsächlich die Wirtschaft und das Staatskapital, sondern die Entwicklung des Menschen im Auge gehabt.

Ein Jahr später, 1965, geht es ihm um Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie147. Dieser Essay hebt an mit den Worten:

„Marxismus ist Humanismus.“ Er belegt dies an Themen, die Marx hauptsächlich im Briefwechsel mit Friedrich Engels diskutiert hatte: Das Wesen des Menschen, der verkrüppelte Mensch, Entfremdung, Bewußtsein, leidenschaftliche Strebungen und Unabhängigkeit.

Fromm sieht in der Psychoanalyse Freuds eine Ergänzung der Marxschen Lehre.

Erst beide zusammen ergeben eine integrierte Psychologie, welche die Dynamik und die Evolution der psychischen Kräfte als „ständigen Interaktionsprozeß zwischen den Bedürfnissen des Menschen und der gesellschaftlichen und historischen Realität, an der er teilhat“ (ebd. S.400) verständlich macht. Diese Psychologie kann auch mit den Bezeichnungen „Sozialpsychologie“ oder „kritische Psychologie“ (kritisch gegenüber dem Bewußtsein) bedacht werden.

Fromm erläutert eingehend seinen Begriff des „Gesellschaftscharakters“, den er als „Charakter-Matrix einer Gruppe (etwa einer Nation oder einer Klasse), die konkret das Tun und Denken ihrer Mitglieder beeinflußt“ (ebd. S.401), definiert. Dabei spielen physische und psychische Energien wie körperliche Arbeit verrichten oder sich diszipliniert unterwerfen148 eine wesentliche Rolle. Der Mensch sei ein primär soziales Wesen, das Bedürfnisse („Hauptleidenschaften“) nach Assimilierung von Dingen und nach Sozialisation mit anderen Menschen hat.

Nach meiner Auffassung ist der Mensch durch leidenschaftliche Strebungen gegenüber Objekten — Menschen und Natur — gekennzeichnet sowie durch sein Bedürfnis, selbst mit der Welt in Beziehung zu stehen (ebd.

S.403).149

Der Gesellschaftscharakter bewirkt, daß sich der Mensch (annähernd) reibungslos in die Gesellschaft einfügt. In Ibsens Drama Peer Gynt wird dieses Verhalten folgendermaßen ausgedrückt: „Er kann alles tun, was er tun will, weil er nur das tun will, was er tun kann“

(ebd. S.403). Die Theorie macht auch plausibel, wie die menschliche Energie als eine Art Rohstoff für die Gesellschaft benutzt wird:

Tatsächlich ist der Mensch einer der formbarsten Naturkräfte: Man kann ihn dazu bringen, so gut wie jedem Zweck zu dienen; man kann ihn veranlassen, zu hassen oder mit anderen zusammenzuarbeiten, sich zu unterwerfen oder aufzubegehren, zu leiden oder glücklich zu sein (ebd.

S.404).

Wenn er jedoch lange und intensiv leidet, erhebt er sich, wie die Geschichte zeigt, doch gegen entfremdende Zustände.

Der Begriff des Gesellschaftscharakters wurde von Fromm nutzbringend bei empirischen Untersuchungen der mexikanischen Bauern150 und beim verarmten deutschen Kleinbürgertum angewandt. Letztere Analyse in Furcht vor der Freiheit (1941) ergab, daß fehlende Zukunftsperspektiven, mangelnder kultureller Anreiz, Haß auf die Zerstörer ihrer Mythen (Kaiser) usw. ihren Charakter in Richtung Liebe zum Toten (Nekrophilie), inzestuöse und bösartige Bindung an Blut und Boden und fanatischen Gruppennarzißmus (Nationalismus, Rassismus) formten.

147 EF: Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie (1964). In: GA Bd.5, S.399

148 Fromm verwendet den Begriff der „Energie“ für im Grunde genommen wenig vergleichbare Tätigkeiten und Verhaltensweisen.

149 Was Freud Triebe, anderen Autoren Strebungen nennen, möchte Fromm als Leidenschaften bezeichnen.

150 EF und Maccoby, Michael: Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes (1970). In: GA Bd.3

Es werden die Gesellschaftscharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts miteinander verglichen. Fromm ist der Meinung, daß der moderne Industriearbeiter sich durch Pünktlichkeit, Disziplin und Befähigung zur Teamarbeit, aber auch durch Abhängigkeit, Gleichgültigkeit und Passivität auszeichne.151 Durchschnittlich ist der Mensch von heute jedoch ein homo consumens, der seine innere Leere, Ohnmacht, Einsamkeit und Angst mit Konsumieren füllt. Industrie und Medien gaukeln ihm die Illusion des Glücklichseins vor. Er wird zum Sklaven der ständig wachsenden Bedürfnisse: „Die Freiheit zu konsumieren wird zum Wesen der menschlichen Freiheit“ (ebd. S.405).

Der Autor schlägt empirische Untersuchungen zum Gesellschafts-Charakter vor, um herauszufinden, ob z.B. gerade ein Wandel innerhalb unserer Gesellschaft stattfindet.152 Forschungsschwerpunkt ist das verdrängte „gesellschaftliche Unbewußte“, das sich unter anderem in Aggressivität, Revoltieren, Abhängigkeit, Einsamkeit, Kummer und Langeweile äußern kann. Ursache der Verdrängung sei jedoch nicht die Kastrationsangst, wie Freud meinte, sondern die Angst vor sozialer Ächtung und Isolierung.153

In Probleme der Marx-Interpretation154 aus dem Jahre 1965 betont Fromm, daß man nicht von den existierenden (kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen) Sozialismusformen ausgehen darf, wenn man Marx verstehen will.

Die westlichen Sozialisten, welche in der Regel nationalistische Ziele, kapitalistische Wirtschaftsformen und militärische Aufrüstung akzeptierten, sind kaum mehr von anderen Parteien zu unterscheiden.

Stalin mißbrauchte den Namen von Marx, um einen Staatskapitalismus aufzubauen. Er wurde 1961 auf dem Kommunistischen Kongreß zwar degradiert, aber die Nachfolger richteten Regime ein, in denen calvinistische Arbeitsethik mit strenger Moral, Patriotismus, Militarismus und Pflichterfüllung als höchste Tugenden prämiert wurden. Für einen Neuanfang müßte es zur Wandlung im Sinne eines „radikalen sozialistischen Humanismus“ kommen.

Im Jahre 1968 hob Fromm noch einmal hervor, wie viel psychologisches Wissen bei Marx zu finden ist (Marx‘ Beitrag zum Wissen vom Menschen155). Marx sieht im Menschen ein gesellschaftliches, tätiges Tier, dessen Dynamik in den typisch menschlichen Bedürfnissen, seine Fähigkeiten der Welt gegenüber zum Ausdruck zu bringen, wurzelt: Weil wir Augen haben, haben wir das Bedürfnis zu sehen; weil wir ein Herz haben, haben wir das Bedürfnis zu fühlen usw.

Kurz, weil ich ein Mensch bin, brauche ich den Menschen und die Welt (ebd.

S.424).

Das Verhältnis zur Welt ist somit eine (intentionale) „dynamische Bezogenheit“, die wie eine Art Not oder Motor wirkt, um sich zu entfalten.156

Die „Pathologie der Normalität“ äußert sich darin, daß der verkrüppelte mittlere Mensch sein Selbst verloren hat, so daß er nur ist, was er sein soll, aber nicht, was er sein könnte. Daraus folgt auch das Verständnis für die Neurose: Sie besteht aus der Dominanz einer einzigen Leidenschaft, die sich im Symptom kundtut, während der humane (gesunde) Mensch tätig, d.h. schöpferisch und spontan ist; er verwirklicht sich selbst.

Fromm erläutert dies an den Ausführungen von Marx zum Phänomen der Liebe.

Echte Liebe bedeutet Aktivität, Werbung um den Partner, Schenken und Mitteilen; sie wird „geäußert“. Wenn sie nicht erwidert wird (wenn die Lebensäußerung keine

151 Hier dringt das negative Bild des „Marketing-Charakters“ noch nicht vollständig durch.

152 Findet heute z.B. wieder ein Wechsel zwischen Konsum- und autoritärem Charakter statt oder gibt es einen „fundamentalistischen“ Gesellschaftscharakter?

153 Das kausalistische Denken Fromms vereinfacht die Problemlage unseres Erachtens zu sehr. Finale Gesichtspunkte, d.h. neurotische Motivationen spielen bei „Verdrängungen“ eine maßgeblichere Rolle.

154 EF: Probleme der Marx-Interpretation (1965). In: GA Bd.5, S.413 155 EF: Marx‘ Beitrag zum Wissen vom Menschen (1968). In: GA Bd.5, S.421

156 Auch diese Erkenntnis wurde von Alfred Adler mit der Theorie des bei jedem Menschen vorhandenen Minderwertigkeitsgefühls, das als evolutionärer Stachel wirkt, vorweggenommen.

Gegenliebe hervorruft), ist man ohnmächtig und unglücklich.

Liebe ist in der Tat eine menschliche Aktivität und keine Passivität (wie

„geliebt werden“ oder „verliebt sein“), vielmehr lehrt die Liebe „den Menschen erst wahrhaft an die gegenständliche Welt außer ihm glauben“

(Marx157, ebd. S.427).

Um sich aus der Entfremdung zu befreien, benötigt der Mensch viel Energie, Geduld und Einsicht. Marx meinte dazu:

Der Mensch sollte ein „enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch (werden), damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege“ (ebd. S.432).

3.5. Die humanistische Psychoanalyse und ihr Konzept für eine

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