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Der Beitrag der Psychoanalyse zum Humanismus

5. VISIONEN EINES NEUEN HUMANISMUS

5.3. Der Beitrag der Psychoanalyse zum Humanismus

Wie in Teil 1 ausgeführt, verstand sich Fromm zeitlebens als Psychoanalytiker, obwohl ihn die orthodoxen Vereinigungen ausgeschlossen und wenig zur Kenntnis genommen hatten. Trotzdem hob er die Erkenntnisse Freuds hervor, unter anderem in seinem Aufsatz Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur346 aus dem Jahre 1949.

Freud hatte 1908347 den Schritt von der Symptom- zur Charakteranalyse getan.

Er sah in den Charakterzügen nicht nur erworbene Verhaltensweisen, sondern auch

„relativ beständige leidenschaftliche Strebungen“ (ebd. S.207), die er auf die sexuelle Libido zurückführte. Auf dem Weg zur Reife heftet sich die Libido an verschiedene Organsysteme und führt dabei durch Sublimierung und Reaktionsbildung zu Charakterzügen. Die Umgebung wirkt dabei via Erziehungspersonen auf die Charakterbildung ein. Dies ist an der Ernährung (Oralität) und Reinlichkeitserziehung (Analität) am deutlichsten erkennbar.

Fromm wehrt sich gegen die psychoanalytischen Analogieschlüsse, welche die sozio-kulturellen Verhaltensmuster direkt aus libidinösen Strebungen erklären: den Kapitalismus z.B. aus dem oralen und analen Besitzstreben.

Der Autor erläutert im folgenden eingehend seinen Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ (siehe 1.6), der bei den meisten Menschen einer Kultur im Kern übereinstimmt, während der individuelle Charakter sich von demjenigen der anderen unterscheide.348

Fromms humanistische Psychoanalyse versucht, mit Hilfe der Sozialwissenschaften das Individuum im Schnittpunkt zahlreicher Einflüsse zu verstehen.

ausgesprochen religiös klingen, während weder die „negative Theologie“ noch die Kritik von den Lesern richtig gelesen und erfaßt wird.

346 EF: Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur (1949).

GA Bd.1, S.207

347 Im Aufsatz über Charakter und Analerotik.

348 Müßten sich nach Fromms Theorie die Charaktere nicht größtenteils gleichen?

Wer z.B. einen Fragebogen verwendet, der ausschließlich nach den Glücksgefühlen der Interviewten fragt, erhält in der Regel die Antwort: „ja“, da dies der allgemeinen Meinung und Erwartung entspricht. Selbst wenn dies zutreffen würde, wüßten wir immer noch nicht, welcher Art und Intensität das „Glücklichsein“ entspräche. Ein anderes Beispiel betrifft Fragen nach der Intensität destruktiver Kräfte des mittleren Menschen. Die Antworten könnten das Ausmaß der Aggressivität ebenfalls nicht exakt bestimmen.

Deshalb plädiert Fromm dafür, anhand des „umfassenderen Begriffs der Charakterstruktur“ mehrere Faktoren wie Glück, ethische Motivation, Kulturniveau, Vorbilder, soziale Position, politische und private Einstellung, Zerstörungslust usw. zu untersuchen. In diesem Zusammenhang hätten ausgedehnte Studien über typische Charakterstrukturen verschiedener Nationen (sogenannte „Nationalcharaktere“) zu erfolgen:

Sozialpsychologen mit Kenntnissen in Tiefenpsychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften müssen sich auf das Feld der Forschungen begeben, wie die Anthropologen dies seit vielen Jahren tun, und Methoden für solche Untersuchungen ausarbeiten (ebd. S.214).

Ein derartig umfangreiches Programm versuchte Fromm gemeinsam mit Michael Maccoby und anderen Studienleitern in Mexiko zwischen 1957 und 1970 durchzuführen:

Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschaftscharakter eines mexikanischen Dorfes349. Darin werden der Sozialisationsprozeß, der zu symbiotischen (sadomasochistischen), destruktiven, narzißtischen oder liebenden Charakterzügen führt, und die Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft, der Assimilierungsprozeß, untersucht. Der letztere Angleichungsprozeß kann passiv, gewaltsam, besitzstrebend oder durch Arbeit erfolgen und damit die entsprechenden Charaktere (rezeptiv, ausbeuterisch, hortend und produktiv) hervorbringen.

Für die Bauernschaft ist eine traditionsgebundene und autoritäre Charakter-Orientierung (ebd. S.321) typisch. Diese autoritäre Haltung entspricht nicht der sado-masochistischen Einstellung des kleinbürgerlichen Autoritarismus. Die Autoren nennen sie deshalb Traditionalismus; sie weist Ähnlichkeiten mit der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur auf.

Im modernen Staat sollen auch die Bauern (mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung) Massenproduzenten werden. Deshalb müßten sich die Bauern auf Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel sowie neue Arbeitsmethoden umstellen.

Tief verwurzelte Einstellungen werden in Frage gestellt, und neue Wertvorstellungen würden auf diese Weise siegen: Der Bauer hätte sich ebenfalls der Produktion, d.h. der Maschine, unterzuordnen, sollte nur noch „nützlich“ sein und traditionelle Lebenswerte wie Tanz, Kunst, Musik und Rituale hintanstellen. In der Studie wurde deshalb die Frage gestellt, ob es nicht möglich wäre, eine neue industrialisierte Landwirtschaft mit dem Geist der Humanität zu kombinieren.

Die Autoren geben Einblick in die Geschichte der Charakterologie und erläutern Fromms Thesen über die den Charakter prägenden Assimilierungs- und Sozialisierungsprozesse. Nach diesen Kriterien untersuchten sie den Charakterkern eines jeden Dorfbewohners sowie die Beziehung zwischen seinem Charakter und seinen spezifischen Bedürfnissen. Sie benutzten dazu offene Fragebogen, deren Antworten psychoanalytisch interpretiert wurden. Neben dem „interpretatorischen Fragebogen“

kamen auch projektive Tests (Rorschach- und TAT-Test) zur Anwendung.

Es kristallisierten sich drei Charaktertypen heraus: Die nicht-produktive rezeptive, die produktiv hortende und die ausbeuterische Orientierung. Es fiel den Autoren unter anderem auf, daß sich der Charakter nicht an die sich verändernde sozio-ökonomische Situation anpaßte: Der rezeptive Charakter hätte eigentlich ein produktiv-hortender werden müssen, da letzterer auch im Dorf sehr viel besser mit dem Leben zurechtkam.

349 EF und Maccoby, M.: Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis (1957-1970). In: GA Bd.3, S.231

Das Patriarchat in allen seinen Facetten hatte sich durchgesetzt: Es gab

„Machos“, die oft dem Alkoholismus verfielen und mit Gewaltexzessen ihre Position zu retten versuchten, bis die Frauen sie auf die Straße setzten. Die Studie beschrieb einen generellen Abbau der Gesellschaftskultur: Mehr Armut, Ehekonflikte, allein erziehende Mütter, Aggressivität und Alkoholismus. Da der Alkohol ein gewaltiges Problem darstellte, entwickelten die Autoren dazu sehr differenzierte Analysen.

In langjährigen sozial-pädagogischen Experimenten, an denen sie die Einwohner (vor allem auch die Jugendlichen) beteiligten, versuchten die Studien-Leiter, Veränderungen in Richtung eines produktiv-kooperativen Charakters herbeizuführen.

Insbesondere untersuchten sie „Veränderungen durch Kooperation“350, da auf diesem Gebiet bereits langjährige Erfahrungen vorliegen (Danilo Dolci auf Sizilien und die Kibbuzim in Israel).

Dabei wird unter anderem auf das Konzept von Pater Wasson in einem mexikanischen Waisenhaus hingewiesen, das bewies, daß auch negative Charakterzüge wie Mißtrauen, Egoismus, Neid und Aggressivität bei verwahrlosten Kindern und Jugendlichen geändert werden konnten. In diesem Heim wurden Kooperation, demokratisches Mitspracherecht und gegenseitiges Verantwortungsgefühl so lange eingeübt, bis es (fast) keine Verhaltensanomalien mehr gab.

Aus den Erfahrungen im mexikanischen Dorf leiteten die Studienleiter und Autoren folgende Schlüsse ab: Selbsterkenntnis, Hoffnung, aktive Mitarbeit, freie Meinungsäußerung, gegenseitiges Vertrauen und kulturelle Beteiligung (Musik, Filme, Tänze und Vorlesungen) sind Voraussetzungen für mehr Humanität.

Auch in der mexikanischen Bauerngesellschaft bewirkte die Industrialisierung mehr Gier nach Zerstreuung durch Fernsehen, Filme, Alkohol usw. Der durchschnittliche Bauer blieb trotzdem arm, und wenige Kinder erreichten ein höheres und produktives Niveau.

Deshalb mahnen die Autoren mehr wirtschaftliche Unterstützung der Bauern an.

Die Erfahrungen in Mexiko zeigten ebenfalls, daß die Medien wenig Interesse daran hatten, die Verhältnisse zu verbessern. Andernfalls hätten ihre Programme darauf abzielen müssen, die Entwicklung des Menschen auf mehr Lebendigkeit, Vernunft und Unabhängigkeit zu fördern, „um die Trägheit und emotionale Faulheit zu überwinden“

(ebd. S.482).

Als inzwischen anerkannter Vertreter einer „humanistischen Psychologie“ hielt Fromm 1963 einen Vortrag mit dem Titel Humanismus und Psychoanalyse351. Darin weist er auf die zentralen Inhalte des Humanismus seit der Renaissance hin und erläutert den Glauben an die Höherentwicklung und Selbstverwirklichung des Menschen, die sich an der Realisierung von Vernunft, Toleranz, Gleichwertigkeit und Liebe messen lassen.

Fromm siedelt den Ursprung des Humanismus in der jüdisch-christlichen Religion an. Er beruft sich dabei vor allem auf Ernst Cassirer352, der bei Pico della Morandola, Spinoza, Hume, Herder, Lessing und Goethe basales humanistisches Gedankengut ausgemacht hatte.

Zur Humanitas als „All-Menschlichkeit“ gehören auch Attribute wie Freiheit, Würde, Kraft, Freude und die Fähigkeit zum Guten. Ein zentrales Kennzeichen der Humanisten ist die Toleranz: 1544 versuchte z.B. Guillaume Postel bereits, alle Menschen in einer einheitlichen Religion zu vereinen (Von der Eintracht des Erdkreises).

Freud setzte die Tradition des Humanismus fort, als er die herrschende unehrliche und repressive Sexualmoral aufdeckte und durch Aufklärung versuchte, Neurotikern, Perversen, Psychotikern und Religiösen verständlich zu machen, warum sie durch unbewußte triebhafte Leidenschaften in sich selbst verstrickt waren und deshalb nicht ihr menschliches Potential entwickeln konnten.

350 „Kooperation“ ist ein zentraler Begriff der Individualpsychologie, die nicht erwähnt wird.

351 EF: Humanismus und Psychoanalyse (1963). In: GA Bd.9, S.3 352 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932

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