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Plädoyer für eine Renaissance des Matriarchats

3. VOM BEITRAG DES MATRIARCHATS ZUM MARXISMUS UND VOM

3.1. Plädoyer für eine Renaissance des Matriarchats

Mit mutterrechtlichen Gesichtspunkten beschäftigte sich Fromm bereits in den 20er Jahren, als er feststellte, daß Freud — und damit die Psychoanalyse — zu einseitiger patriarchalischer Betrachtungsweise neigte. Vor allem der mit Georg Groddeck befreundete Sándor Ferenczi fühlte sich zu diesen Themen hingezogen. Das Ehepaar Fromm kam deshalb gewiß anläßlich der häufigen Besuche bei Groddeck mit diesen Fragen in Berührung.

Des weiteren stießen die sozialistischen Theoretiker früh auf Johann Jakob Bachofens 1861 erschienenes Buch Das Mutterrecht, das ähnlich wie zwei kurz zuvor publizierte Werke in der Fachwelt heftige emotionale Reaktionen hervorrief. 1859 hatten nämlich die Werke von Charles Darwin (Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl) und von Karl Marx (Zur Kritik der politischen Ökonomie) leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst.

Eine Art Einführung in diese Thematik bildet die Rezension über ein Buch von Robert Briffault (Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht116) aus dem Jahre 1933.

Die Veröffentlichung Briffaults (1928 erschienen) trägt den Titel The Mothers; a study of the origins of sentiments and institutions (Die Mütter; eine Studie über den Ursprung der Gefühle und Institutionen). Es handelt sich hierbei um eine ethnologische Arbeit, die auch tiefe Einblicke in die Soziologie und Psychologie gewährt.

Der Verfasser geht der Frage nach, woher die sozialen Instinkte stammen. Er kommt zum Schluß, daß an ihrem Ursprung mütterliche Gefühle und Verhaltensweisen stehen. Wie Bachofen und Lewis Henry Morgan ist Briffault der Meinung, daß die gesellschaftliche Entwicklung auf Elementen einer von Müttern geleiteten und beeinflußten Gemeinschaft beruht.

Gesellschaftliche Einrichtungen und Gegebenheiten beeinflussen das menschliche Geistes- und Gefühlsleben beträchtlich. Dies ist z.B. an den Unterschieden von Mann und Frau gut nachzuvollziehen: Die geschlechtsspezifische biologische Basis erhält durch soziale und politische Einwirkungen erst typische männliche oder weibliche Attribute.117

Briffault erblickt an der Basis des „weiblich-mütterlichen Instinktes“ die Fürsorge für das kleine Kind, das sich zum „sozialen Gefühl“ (Menschenliebe) auswächst: „In der mütterlichen Liebe liegt die Quelle aller Liebe überhaupt“ (ebd. S.80). Zärtlichkeit, Mitleid, Großherzigkeit und Wohlwollen stammen ebenfalls aus dem mütterlichen Gefühl.

Darüber hinaus unterscheidet Briffault die tierische Herde von der Tierfamilie:

Männliche (aggressive) sexuelle Impulse schaffen eine Herde, während die mütterliche Fürsorge und Liebe soziale Gruppen, z.B. auch die Menschengruppen, bilden. Die um die Mutter zentrierte Gruppe (Matrizentrismus) ist somit von Sozialgefühlen geprägt, während das Patriarchat (sowie das Matriarchat als Herrschaft der Frau im Gegensatz zum Matrizentrismus118) auf dem Vorhandensein von Privateigentum und dessen Verteidigung beruht.

Die Ehe als soziale Institution hatte vor allem ökonomische Funktion. Diese prägt das „Gefühl“ innerhalb der Monogamie bzw. der Polygamie. Als sich der Mann Tierherden aneignen konnte, errang er auch ökonomische Überlegenheit über die Frau, und die matrizentrischen Verhältnisse verloren an Bedeutung und Gewicht. Bis zur

116 EF: Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht (1928). GA Bd.1, S.79

117 Dies hat in der Tiefenpsychologie Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, bereits um 1910 herausgearbeitet und unter dem Begriff des „männlichen Protestes“ ausführlich thematisiert.

Männlichkeit besitzt in der patriarchalischen Gesellschaft einen so hohen Stellenwert, daß auch die Frau dementsprechende Charakterzüge (Härte, Konkurrenz, Machtstreben) verinnerlicht.

118 Den Unterschied zwischen Matrizentrismus und Matriarchat wird Fromm in späteren Ausführungen nicht beibehalten.

römischen Ehe spielte das Ökonomische und nicht das Sexuelle die Hauptrolle. Erst mit der christlichen Ehe vereinten sich ökonomische, sexuelle und soziale Elemente.

Briffault befaßte sich ebenfalls mit der Entstehung und Entwicklung der Religion.

Im Gegensatz zu anderen Theorien erblickte er nicht in der Naturanbetung, sondern im Erwerb magischer Kräfte die eigentliche Dynamik. Er erachtete es als Höhepunkt innerhalb der Religionsentwicklung, als an die Stelle einer magisch-mächtigen Göttin die jungfräuliche Mutter des göttlichen Kindes (die große Mutter) trat und gefeiert wurde, da sie zum ersten Mal die Liebe repräsentiere. Der männliche Intellekt wiederum veränderte die primitive Magie in „theologische Religion“ und nahm damit der Frau ihre Bedeutung.

Matriarchalische Gesellschaften praktizierten — so Briffault — sexuelle Freiheit und Ungebundenheit. Erst das Patriarchat prägte die Sexualmoral im Sinne der Keuschheit durch Aufstellung von sexuellen Tabus. Fromm bemerkt, daß Briffault eigentlich im Sinne des historischen Materialismus gearbeitet hatte, ohne sich jedoch auf Marx und Engels zu berufen.

Wie kam es, daß die Öffentlichkeit so heftig auf Bachofens Buch über das Mutterrecht reagierte? Dieser Frage ging Fromm 1934 in der Publikation Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie119 nach. Er differenzierte zwei Strömungen, welche die Thesen Bachofens für sich beanspruchten. Das waren zum einen die „romantisierenden“ Schriftsteller, die sich auf frühere und ihrer Meinung nach schönere Zustände berufen konnten, in denen die Religion noch beträchtlichen Einfluß besaß. Sie stellten Verbindungen zwischen Natur, Religion, Erdhaftem, Liebe und der Mutter her. Die andere Richtung, die Fromm eingehender beschreibt, wird von den Sozialisten repräsentiert.

Während die Aufklärung die Gleichheit der Geschlechter proklamierte, akzentuierten die Romantiker die Differenzen zwischen männlich und weiblich. Durch die gesellschaftliche Entwicklung errang das Patriarchat die Oberhand und bewertete auf diese Weise das männliche Prinzip als das Höherwertige.

Die matriarchalische Gesellschaft, wie sie Bachofen beschreibt, trägt zahlreiche Züge, die den sozialistischen Idealen entsprechen: Sorge für die materielle Wohlfahrt und das irdische Glück aller Menschen. Auch die befreite Sexualität und eine urwüchsige Demokratie sagte den Sozialisten zu.

Bachofen als Basler Bürger stand allerdings politisch auf der Seite der Republikaner, welche die Regierung in den Händen der „besten Bürger“ sehen wollten und den Frauen die politische Gleichberechtigung absprachen. Aus seiner Biographie ist bekannt, daß er auf seine Mutter fixiert war. Er heiratete erst nach ihrem Tod mit 40 Jahren und erbte ein Millionen-Vermögen. An der patriarchalischen Tradition und an protestantisch-bürgerlichen Idealen hielt er zeitlebens fest.

Naturgemäß waren die Sozialisten hauptsächlich an den ethnologischen und soziologischen Ergebnissen Bachofens interessiert. Friedrich Engels ging in seinem Buch Der Ursprung der Familie (1884) auf die Theorien von Bachofen wie auch auf Lewis Henry Morgans Buch Ancient Society (1877) ein. Beide Autoren widersprachen der üblichen Vorstellung, daß in frühen Gesellschaften regelloser Geschlechtsverkehr vorgeherrscht haben soll. Allerdings war die Sexualität von weniger Tabus belegt, so daß Männer mit mehreren Frauen und Frauen mit mehreren Männern Geschlechtsverkehr hatten und haben durften. Die Mütter besaßen mehr Rechte und waren sozial höher gestellt, was unter anderem auch damit zusammenhing, daß allein die Mutterschaft eindeutig feststand und auf diese Weise eine familiäre Ordnung garantierte.

Die matriarchalische Gesellschaft wies aber noch andere revolutionäre Züge auf, welche die damals aktuellen sozio-politischen Verhältnisse in Frage stellten. Dazu zählte die Destruktion der Idee, daß nur die monogame Ehe die ideale Beziehung zwischen Mann und Frau darstelle und die Annahme, daß die Herrschaft des Mannes die einzig richtige Gesellschaftsform sei. Bachofens und Morgans Thesen unterstützten auf diese Weise die Emanzipationsbestrebungen der Frauen, was sich mit dem Kampf für eine klassenlose Gesellschaft, wie sie die Sozialisten anstrebten, verband.

119 EF: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie. GA, Bd.1, S.85, 1934

Denn die bürgerliche Klassen-Gesellschaft beruht auf den Erziehungsprinzipien der patriarchalischen Familie, in der Angst vor Bestrafung, Haß auf den männlichen Unterdrücker, Identifikation mit dem Stärkeren, strenges Überich, Dominanz der Pflicht über das Genießen sowie Gehorsam das durchschnittliche Seelenleben der künftigen Bürger beherrschen.

Morgan erblickte im Gegensatz zu Bachofen, der keine Chance einer Renaissance der matriarchalischen Verhältnisse mehr erwartete, in einer kommenden neuen Gesellschaftsordnung eine reale Möglichkeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wieder zu verwirklichen. An die Stelle von Angst und Unterwürfigkeit würden dann Liebe und Mitleid treten. Bachofen beschrieb die vergangenen

„gynäkokratischen“ Zustände in den schönsten Farben: Liebe, Friede, allgemeine Brüderlichkeit, Humanität und Fürsorge für das irdische und materielle Glück der Menschen sollen damals die Regel gewesen sein.

In der Analyse des Dionysoskultes machte Bachofen den politischen Charakter dieses „naturalistischen Materialismus“ deutlich. Der dialektische Materialismus der Sozialisten übernahm zahlreiche Vorstellungen dieser Gesellschaftsordnung, in der sinnlicher Hedonismus, Verschönerung des Daseins, aphroditischer Genuß und eine allgemeine Brüderlichkeit das gesellschaftliche Dasein bestimmt haben sollen.120

Die kapitalistische Gesellschaft dagegen entwertet den sexuellen Genuß und schränkt ihn ein, um gefügige Bürger für die Industrie zu erhalten. Fromm erläutert dies eindrücklich an folgenden Thesen: Durch die Sexualität erfährt der Mensch elementarste und stärkste Befriedigungs- und Glücksmöglichkeiten. Wenn die Gesellschaft dies wie im Matriarchat unterstützen würde, könnten damit auch Anspruch auf Glück und Befriedigung in anderen Lebenssphären anwachsen. Andererseits erzeugt die in Gedanken oder real praktizierte Sexualität Schuldgefühle, da sie verpönt ist. Die Schuldgefühle wiederum werden durch sozial und politisch bewirkte Leiden, die als gerechte Strafe interpretiert werden, gesühnt. Auf diese Weise bleiben die Ungerechtigkeiten der Klassengesellschaft bestehen.

Darüber hinaus führt die gefühlsmäßige Einschränkung zu intellektuellen und emotionalen Defiziten, die wiederum der herrschenden Klasse dienen. Wer die genitale Entwicklung zum mündigen Bürger hemmt, fördert deshalb auch prägenitale Triebtendenzen wie anale, sadistische und homosexuelle Abweichungen.

Fromm bespricht eingehend den „patrizentrischen Komplex“, dessen wesentliche Anteile von Freud im Ödipus-Komplex erfaßt wurden. Allerdings überschätzte er ihn in seiner Bedeutung, da er davon ausging, daß die bürgerlich-patriarchalische Gesellschaftsordnung, die er selbst bevorzugte, die allein richtige sei.

Die ödipale Situation kann folgendermaßen charakterisiert werden: Der Knabe begehrt seine Mutter, erlebt seinen Vater als Rivalen und möchte ihn beseitigen. Aber das Kind muß ihn auch als familiäre Autorität akzeptieren. Um an die Stelle des Vaters treten zu können, introjiziert er ihn als Träger moralischer Forderungen. Diese erscheinen dann als Gewissen im Über-Ich. Andererseits möchte das Kind vom Vater geliebt werden. Somit entsteht eine ambivalente Gefühlshaltung, nämlich der Wunsch, geliebt zu werden sowie Trotz der autoritären Macht gegenüber.

Der Vater wiederum ist eifersüchtig, da der Knabe erst das Leben vor sich hat, während der Vater altert und den Tod auf sich zukommen sieht; darüber hinaus beneidet er das Kind, das von sozialen Pflichten frei ist. Je mehr sozio-ökonomischer Druck auf dem Vater lastet, um so affektiver ist er.

Der Sohn ist auch Erbe des väterlichen Vermögens oder aber künftiger Ernährer.

Er repräsentiert eine Art Kapitalanlage und trägt zum Prestige (oder dem Gegenteil) des Vaters bei. Somit hat der Vater nicht die maximale Entfaltung der Persönlichkeit seines

120 Fromm war wohl auch angezogen von der sexuellen Freizügigkeit und der Möglichkeit, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Denn dies stand im schroffen Gegensatz zum strengen jüdischen Über-Ich, in dem die patriarchalische Ordnung dominiert. Das Bildnis seines Vaters, des Obstwein-Händlers Fromm, zeigt auch einen typisch wilhelminisch posierenden Kleinbürger mit gewölbter Brust, geringeltem, hab-acht-stehendem Schnauz und strammer Haltung.

Sohnes im Auge, sondern „maximale Nützlichkeit für die ökonomischen und Prestigebedürfnisse des Vaters“ (ebd. S.103). Gewiß möchte jeder Vater „nur das Beste“

für sein Kind, was aber im Widerspruch mit den patrizentrischen Zielen steht. Die gesellschaftliche Ideologie vermittelt aber (unbewußt), daß Vaterliebe, ökonomische Nützlichkeit, Prestigestreben und Leistungsanspruch miteinander vereinbar wären.

Dagegen wäre im Idealfall die mütterliche Liebe unbedingt und an keine Vorleistungen des Kindes geknüpft. In der patriarchalischen Gesellschaft erhält das Mutterbild jedoch etwas Schwächliches und Sentimentales, das abgewehrt oder durch Reaktionsbildung pervertiert wird: Die Mutter wie ihre Symbole (Land, Erde und Volk) müssen beschützt und „rein“ erhalten werden.

Wenn man die (ursprüngliche und normale) matrizentrische Einstellung mit psychoanalytischer Nomenklatur beschreibt, kommt es zur Charakteristik des oralen Typs: Vertrauen in die unbedingte mütterliche Liebe, geringeres Schuldgefühl, milderes Über-Ich, stärkere Glücks-, Genuß- und Mitleidsfähigkeit. Ein gesunder, normaler und

„genitaler“ Mensch vereint solche oralen Anteile in sich.

Der patrizentrische Typ sei — so Fromm — charakteristisch für die bürgerlich-protestantische Gesellschaft, während für das katholische Mittelalter und den europäischen Süden der matrizentrische Komplex die größere Rolle spielte und noch spiele.121

Der Katholizismus weist neben patrizentrischen Zügen zahlreiche mütterliche Attribute wie die „gnadenreiche heilige Jungfrau“ oder die Kirche als „bergende Mutter“

auf. Die Gläubigen werden z.B. auch als Söhne (seltener als Töchter) der Kirche bezeichnet, welche der Liebe ihrer Institution gewiß sein können. Zwar werden ebenfalls Schuldgefühle geschürt, aber leichter als im Protestantismus wieder beseitigt, wenn die Teilnehmer willig beichten und ihre Zugehörigkeit zur Kirche bestätigen.

Der Protestantismus dagegen ist fundamental durch die Charakterstruktur Luthers geprägt. Der Reformator war durch seine ambivalente Einstellung zum Vater ausgesprochen patrizentrisch geformt. Er fand stets eine Vatergestalt, die er hassen (den Papst), eine andere, die er lieben konnte (Gott). Vom Lebensgenuß hielt er im allgemeinen nicht viel. Eines seiner typischen Kennzeichen war der Haß. Fromm hebt an ihm zwangsneurotische und latent homosexuelle Züge hervor.

Der Protestant kann sich der Liebe Gottes nicht sicher sein; gegen diesen Zweifel gibt es nur Glauben und gottgefälligen Arbeitseifer. Die Calvinisten und andere protestantische Richtungen müssen sich die Anerkennung Gottes durch „innerweltliche Askese“, Pflichterfüllung und Erfolg im bürgerlichen Leben erringen.122

In einer Fußnote verweist Fromm auf den uneinheitlichen Charakter der jüdischen Religion. Typisch patrizentrisch ist die Gottesgestalt, die Pflichterfüllung fordert und je nachdem belohnt oder bestraft. Andererseits hätte sich die Gestalt der großen Mutter z.B. in der Idee Israels, wo „Milch und Honig“ fließe, erhalten. Der messianische Glaube der vertriebenen Juden, die ins Heilige Land zurückkehren dürfen, wenn Sonne (männlich) und Mond (weiblich) gleichzeitig scheinen, sowie die darauf folgenden schmerzlosen Geburten und das Sistieren des Arbeitszwanges würden die bedingungslos liebende Mutter repräsentieren.123 Fromm bezeichnet das Judentum ohne Messianismus als „radikales patrizentrisches System“ im Sinne des Protestantismus.

Erst im Chassidismus des 17. und 18. Jahrhunderts fänden sich die matrizentrischen Züge wieder.

Der Protestantismus ergänzte sich mit den damals herrschenden sozialen und ökonomischen Verhältnissen und beeinflußte als Weltanschauung die für das Funktionieren der kapitalistischen Ordnung erforderliche Triebstruktur: Die Bürger

121 Diese Theorien wurden von Max Weber: Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist (1905); in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Stuttgart 1973, herausgearbeitet.

122 Damit bewahrheitet sich die Freudsche Interpretation der Übereinstimmung zwischen zwangsneurotischen Symptomen und religiösen ritualistischen Betätigungen wie zwanghaftes Arbeiten und Pflichterfüllen.

123 Hier zeigt sich Fromms spekulative und romantisierende Ader, die sich im Alterswerk wieder verstärkte.

reagierten auf den äußeren politischen und ökonomischen Zwang mit Gehorsam und Fleiß, die sie als „inneres Bedürfnis“ empfanden. Das verinnerlichte autoritäre Gewissen im Über-Ich war auf diese Weise zwar zu beschwichtigen, jedoch konnten damit auf Dauer der verloren gegangene Lebensgenuß und die durch den Kampf aller gegen alle ausgelöste Isoliertheit und Liebesunfähigkeit nicht kompensiert werden.

Mit anderen Worten schwelen auch im perfekt funktionierenden Kapitalismus untergründige Angst, Aggression und Unzufriedenheit und der Wunsch nach matrizentrischen Zuständen. Der marxistische Sozialismus assimilierte deshalb zustimmend die Mutterrechtstheorien von Briffault, Morgan und Bachofen.

Als es 1928 zur Weltwirtschaftskrise kam, erfuhr die patrizentrische Struktur — wie nach dem Ersten Weltkrieg — eine gewaltige Erschütterung, da die millionenfache unverschuldete Arbeitslosigkeit im Widerspruch zur kapitalistischen Arbeitsmoral stand.

Das Dasein der Arbeitslosen verliert im Rahmen dieser Ideologie und der ihr zugrunde liegenden Triebstruktur jeden Sinn und jede Rechtfertigung (ebd.

S.108).

Der Kampf der Ideologien (Kommunismus, Nationalsozialismus, Sozialismus) entbrannte, wobei es den patrizentrischen Machthabern gelang, die psychische Struktur der Arbeitslosen umzupolen: An die Stelle des hohen Arbeitsethos traten heroisches Leiden und sadistischer Einsatz für die Nation, für „Blut und Boden“, für die „kommunistische Idee“ und den jeweiligen Führer.

Fromms sozio-politische Gedanken zum Mutterrecht lebten wieder in der Zeit der Studentenunruhen (1968) auf. In diesem Zusammenhang erläuterte er 1970 noch einmal die Theorien von Bachofen und Morgan im Aufsatz Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart124. Diese Forschungen liefern ihm auch Erklärungen für die Kriege und Massenmorde des 20. Jahrhunderts sowie Alternativen für die Zukunft. Die matriarchalische Gesellschaft erscheint fast als ein Paradies, in dem Freiheit, Gleichheit, Frieden, Liebe und Menschlichkeit verwirklicht gewesen sein sollen.

Fromm glaubt an eine Renaissance des Matriarchats und sieht Anhaltspunkte dafür an zahlreichen Veränderungen: Die autoritäre und patriarchalische Kultur zeige deutliche Zersetzungssymptome (unter anderem Gleichstellung der Geschlechter, Technik zur Erleichterung des Alltags, zunehmende Demokratisierung).

Allerdings könnte sich die Technik auch als „große Mutter“ erweisen, die zwar universalen Wohlstand sichert, aber alle „mit einem nie endenden Wiegenlied in Form von Radio und Fernsehen“ (ebd. S.112) einlullt. Der moderne Mensch präsentiert tatsächlich schon oft das Bild eines emotionalen Säuglings.

Fromm sieht auch an gewissen radikalen Jugendlichen matriarchalische Tendenzen wie Gruppensex, Verwischen der Geschlechtsunterschiede, Wünsche nach Gruppen und Sekten sowie Drogenmißbrauch am Werk.

Das beunruhigende Element in diesem Neomatriarchalismus ist, daß er eine reine Negation des Patriarchalismus und eine direkte Regression zu einer infantilen Einstellung statt eine dialektische Progression zu einer höheren Form des Matriarchalismus darstellt (ebd. S.113).

Dabei verweist er auf Herbert Marcuse, der die Jugend dazu verführen möchte, Regressionen und Perversionen als psychisch gesunde Reaktionen auf das kapitalistische System auszuleben.125

Vielleicht sei auch matriarchalisches Gedankengut in die Psychoanalyse eingesickert, da sie sich nicht mehr ausschließlich mit der ödipalen Thematik beschäftigt, sondern die frühe, prägenitale Bindung von Mutter und Säugling ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt.

124 EF: Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart. GA, Bd.1, S.111

125 Über Herbert Marcuse, seinem einstigen Gesinnungsgenossen im „Institut für Sozialforschung“, verfaßte Fromm einige kritische Rezensionen, die auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, z.B.

Eine Erwiderung auf Herbert Marcuse (1956). In: GA, Bd.8.

3.2. Das Marxsche Menschenbild und der historische Materialismus. Der

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