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Nationalsozialismus, Hitler und die Nekrophilie

4. KULTURANALYSE UND KULTURKRITIK

4.7. Nationalsozialismus, Hitler und die Nekrophilie

Ein zentrales Kapitel des vorliegenden Buches befaßt sich mit den Anhängern des Nazismus,230 den Kleinbürgern, die wesentlich am Erfolg von Hitler und seinen Gefolgsleuten beteiligt waren. Die Arbeiterklasse und das liberale und katholische Bürgertum beugten sich der Gewalt ohne wesentlichen Widerstand, gehörten aber nicht zu den Bewunderern der Nazis. Die Arbeiter hatten bereits 1918 und in den folgenden Jahren ihre Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Veränderung begraben. Sie mißtrauten ihren eigenen Führern und allen politischen Doktrinen. Eine Untersuchung des „Instituts für Sozialpsychologie“, an der Fromm wesentlich beteiligt war (Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, 1930/31)231, ergab, daß die Arbeiter und Angestellte aufgrund ihrer Charakterstruktur weder dazu neigten, Anhänger der Nazis noch ihre tatkräftigen Gegner zu werden.

Es waren die Kleinbürger (Geschäftsleute, Handwerker, kleine Angestellte), welche den Nazismus begeistert begrüßten.232 Blinder Gehorsam gegenüber dem Führer, Haß gegen rassische und politische Minderheiten, Streben nach Eroberung und Herrschaft, Verherrlichung des deutschen Volkes und der nordischen Rasse — all dies sprach den autoritären Charakter des Kleinbürgers an. In ihrem Gesellschafts-Charakter dominierten Vorliebe für die Starken, Haß auf die Schwachen, Kleinlichkeit, allgemein feindselige Haltung, übertriebene Sparsamkeit in bezug auf Gefühle wie auf Geld und eine asketische Einstellung. Das Fremde wurde gehaßt und verachtet, man war übermäßig neugierig und neidisch auf die Umgebung, spionierte sie aus und rationalisierte den Neid als moralische Entrüstung.

Das deutsche Kleinbürgertum war bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf die Untertanen-Mentalität eingeschworen;233 es erblickte in der Monarchie den Garanten für sein relativ stabiles nationales Prestige und Einkommen. In der Familie gebärdete sich der Vater wie der Kaiser und bläute seinen Kindern patriarchalisch-autoritär ein, sich Gott, dem Kaiser, dem Militär und natürlich ihm selbst zu unterwerfen.

Nach dem Krieg kam jedoch der wirtschaftliche Absturz. Die Inflation raffte bis zur ihrem Höhepunkt (1923) alles Ersparte hinweg. Die kurze Erholungsphase bis 1928 wurde durch die Weltwirtschaftskrise 1929 abrupt unterbrochen. Der bürgerliche Mittelstand war davon am schwersten betroffen.

Dazu gesellten sich noch psychologische Probleme: der verlorene Krieg, der Sturz der Monarchie, die Sinnlosigkeit des Sparens, die zerstörte Autorität des Staates und die gesellschaftliche Abwertung der Position als „Bürger“. Schließlich wurde auch die

230 Fromm verwendet anstelle von Nationalsozialismus diese Kurzbezeichnung auch, um die Assoziation mit „Sozialismus“ zu vermeiden.

231 EF: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung (1980). In: GA Bd.3

232 Fromm verweist hier unter anderem auf zwei Untersuchungen: Lasswell, H.D.: The Psychology of Hitlerism. In: The Political Quaterly, London 4 (1933) und Schumann, F.L.: The Nazi Dictatorship, New York 1939.

233 Die beste Charakterisierung hat wohl Heinrich Mann in seinem Buch Der Untertan (1918) geschaffen.

letzte Bastion der Sicherheit erschüttert, die Familie, als die Nachkriegsjugend gegen die Autorität des Vaters (des Repräsentanten der Monarchie) rebellierte und sich protestierenden Jugendverbänden234 anschloß.

Die ältere Kleinbürger-Generation wurde immer verbitterter, verwirrter und machtloser, und die jüngere Generation drängte zur Tat. Alle Niederlagen Deutschlands und die Versailler Verträge stachelten den Groll weiter an. Insgesamt fühlte sich die deutsche Nation bedeutungslos und ohnmächtig.

Fromm betont, daß diese Faktoren nicht die Ursachen des Nazismus, sondern deren psychologische Basis darstellen. Von den politischen und wirtschaftlichen Faktoren erwähnt er nur, daß die Vertreter der Großindustrie und die halb bankrotten Junker hofften, durch Hitler wieder zu Geld und Besitz zu kommen. Hitler konnte sich mit den erbitterten und haßerfüllten Kleinbürgern bestens identifizieren — auch er fühlte sich im Alltag als „Niemand“ — und betätigte sich opportunistisch, als er sich in den Dienst der Großindustriellen und Junker stellte (indem er gleichzeitig hinterlistig dem Volk einen Antikapitalismus verkündete). Ursprünglich empfahl er sich nämlich als Messias des Mittelstandes, welcher die Warenhäuser abzuschaffen und die „Zinsknechtschaft“ zu brechen versprach, was er aber nie tat. Er lullte seine Anhänger höchst wirksam damit ein, daß er Hunderttausenden von ihnen Ämter verschaffte (oft von Juden und politischen Gegnern) und prestigeträchtige Aufmärsche und „Spiele“ organisieren ließ.

Hitler repräsentierte den autoritären Charakter in Reinkultur. Fromm belegt dies mit ausführlichen Zitaten aus dessen „Autobiographie“ Mein Kampf (1933). Unter anderem diagnostiziert er beim „großen Führer“ ein sadistisches Streben nach Macht, Verachtung und Mißachtung der Massen und der Frauen, schlaue Hypnotiseur-Eigenschaften mit geschickter Manipulation des Volkes, so daß es seinen Sadismus an Schwachen und „minderwertigen Rassen“ austobte. Er rechtfertigte seine Destruktivität durch einen vulgären Sozialdarwinismus (das freie Spiel der Kräfte sei die „Weisheit des Lebens“). Verfolgungswahnartige Projektionen, Lügen und „paranoide Aufrichtigkeit“

passen ebenfalls zum sadistischen Charakter Hitlers.

Die Masse des Volkes wurde mit Parolen wie: „Der Einzelne ist nichts und zählt nicht“ auf masochistische Verhaltensweisen eingestimmt und daraufhin erzogen. Der Staatsbürger soll seine Bedeutungslosigkeit annehmen, sich einer höheren Macht hingeben und stolz darauf sein, an deren Stärke und Glorie teilhaben zu können. In diesem Sinne schrieb der Propagandist Goebbels in seinem Roman Michael, man müsse die Persönlichkeit „der Gesamtheit zum Opfer bringen“.

Hitler schwelgte selbst ab und zu in masochistischen Bildern und gelobte, sich Gott, der Vorsehung, der Geschichte und der Natur zu unterwerfen, eben einer

„überwältigend starken Macht“ (ebd. S.353). Auch Minderwertigkeitsgefühle, Haß auf das Leben, Asketentum und Neid auf diejenigen, die sich des Lebens erfreuen, sind bei Hitler auszumachen.

Das Gemeinsame an Faschismus, Nazismus und Stalinismus besteht darin, daß sie den hoffnungslosen, unterdrückten und ohnmächtigen Menschen eine Zuflucht boten und durch Nationalismus, Führerkult und Imperialismus den narzißtischen Hunger der Untertanen befriedigten. Fromm macht aber auch sorgfältig auf die Unterschiede zwischen den jeweiligen Totalitarismen in Italien, Deutschland und Rußland aufmerksam.235

4.7.2. Hitler als Prototyp des Nekrophilen

Über 30 Jahre später kam Fromm noch einmal auf das Thema Hitler zurück. In Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973)236 figurieren Stalin und Himmler237

234 Bekannt ist die Jugendbewegung des „Wandervogels“. Fromm lernte diese antiautoritäre Haltung auch in der zionistischen Jugendgruppe kennen, die er kurzzeitig frequentiert hatte.

235 Unter anderem in Wege aus einer kranken Gesellschaft (GA, Bd.4).

236 EF: Anatomie der menschlichen Destruktivität. GA Bd.7

237 Fromms psychologische, soziologische und biographische Analysen von Stalin, Heinrich Himmler und Hitler gehören zu den Höhepunkten des vorliegenden Werkes. Sie sollten zu Pflichtlektüren in Schulen verwandt werden.

unter den Sadisten, während Hitler einen „Fall von nekrophiler bösartiger Aggression“

darstellt (allerdings mit sadistischen Anteilen).

Die bösartige Aggression bzw. Destruktivität läßt sich nach Fromm in Grausamkeit (Sadismus) und „Liebe zum Toten“ (was Nekrophilie übersetzt bedeutet) unterteilen. Anhand zahlreicher Details aus Stalins Biographie beweist der Autor, daß Sadismus „die seelische Religion der Krüppel“ (ebd. S.263) ist und von Menschen ausgeübt wird, die auf „absolute und uneingeschränkte Herrschaft“ (ebd. S.262) ausgerichtet sind. Zum Syndrom des Sadismus gehören aber auch Lebensangst, Unterwürfigkeit und Feigheit sowie eine „vitale Impotenz“.

Der Sadist besitzt einen autoritären Charakter, was noch deutlicher bei Heinrich Himmler, einem „Fall von anal-hortendem Sadismus“, beobachtet werden kann. Alle Attribute des analen Charakters werden bei ihm sorgfältig nachgewiesen und seine psycho-soziale Entwicklung dargestellt. Der Autor charakterisiert Himmler als pedantisch, kaltherzig, scheinbar freundlich, unterwürfig gegenüber Autoritäten, lebensschwach (deshalb kompensatorisch hart und grausam), opportunistisch, narzißtisch, hypochondrisch, sexuell verklemmt, schwatzhaft, Karriere-besessen, neidisch, bösartig und intrigant. Die mit Zitaten belegte Menschenverachtung dieses SS-Führers braucht hier nicht besonders ausgeführt zu werden.

Zu den Voraussetzungen eines sadistischen Lebensentwurfes zählen unter anderem eine schwache, verwöhnende und anklammernde Mutter, ein autoritärer Vater, körperliche Schwäche und Ungeschicklichkeit, Neid auf Geschwister, Schüchternheit Frauen gegenüber, pedantische und verlogene familiäre Situation sowie eine konservative, bürgerliche und reaktionäre Gesellschaft.

Nekrophil-destruktive Menschen werden wiederum leidenschaftlich „von allem, was tot, vermodert, verwest und krank ist“ (ebd. S.301) angezogen. Sie zerstören um der Zerstörung willen und interessieren sich fast ausschließlich für Mechanisches und Technisches. Nekrophile sind „Hasser, Rassisten, Befürworter von Krieg, Blutvergießen und Destruktion“ (ebd. S.334). Als Prototypen des Gegenteils, der „Biophilie“ (Liebe zum Leben), nennt Fromm Namen wie Albert Schweitzer, Albert Einstein und — Papst Johannes XXIII.238

Der Autor subsumiert unter das Syndrom der Nekrophilie eine Fülle von Lastern und Details, die hier nicht alle aufgelistet werden können. Auch der moderne Gesellschaftscharakter (der sogenannte „Marketing“-Charakter), wird in diese Rubrik eingereiht.239 Das folgende Kapitel wird diesen modernen Charakter, den er in die Nähe der Schizophrenie bringt, genauer darstellen.240

Als Ursache der Nekrophilie macht Fromm eine „bösartige inzestuöse Bindung“

aus. Er beschreibt hierbei eine verhätschelnde, übertrieben beschützende und bewundernde Mutter, welche das Kind eng an sich bindet und es dadurch oft in ein autistisch-distanziertes Verhältnis zu ihr treibt.

Der nekrophile Adolf Hitler. — Hitlers Mutter, Klara Hitler, wird nun ebenfalls als überfürsorgliche, verwöhnende und ihren Sohn anhimmelnde Frau geschildert, welche bei Adolf die soeben beschrieben „bösartige inzestuöse Bindung“ verursacht haben soll.

Deshalb sei der Sohn kalt geblieben, und die narzißtische Schale hätte nicht gesprengt werden können. Sie wäre für ihn keine reale Person geworden,

sondern ein Symbol der unpersönlichen Macht von Erde, Schicksal — und Tod ... Jedoch, trotz seiner Kälte, mag Hitler symbiotisch an die Mutter und ihre Symbolisation gebunden gewesen sein, eine Bindung, deren letztes Ziel

238 Wahrscheinlich taucht hier dieser Papst deshalb auf, weil er Begegnungen mit anderen christlichen Kirchen und Religionen gefördert hatte und für den Weltfrieden eingetreten war.

239 Etwas skurril mutet folgende Klassifikation von nekrophilen Handlungen an: Churchill, der, als er sich in Nordafrika aufhielt, massenhaft Fliegen erschlug und sie dann auf dem Tischtuch aufreihte; oder, wer Streichhölzer und Blumen zerbreche, ständig über Krankheiten und Tod berichte und sich Wunden aufkratze.

240 Die Aufzählung einer sehr umfänglichen Seelenpathologie drückt wohl Fromms Alters-Meinung über den Menschen aus; sie ist gewiß pessimistisch. Er versucht allerdings stets, Argumente zu finden, welche zu Hoffnung berechtigen.

die Vereinigung mit der Mutter im Tode ist. (Eine nicht seltene, perverse Form der unio mystica) (ebd. S.342).

Fromm interpretiert Hitlers Bindung an Deutschland als Mutterbindung und den Selbstmord als verdrängten Wunsch, „die Mutter (= Deutschland) zu zerstören“.241

Es folgen einfühlsame und lehrreiche biographische sowie charakterologische Details von Vater und Sohn Hitler, wobei deutlich wird, daß die Eltern des Diktators keineswegs destruktive Übeltäter waren (den Vater kann man allerdings mit einiger Berechtigung autoritär nennen).

Adolf, der älteste Sohn, war ein verspielter und in Karl May eingesponnener Junge, der ausgesprochen narzißtisch-empfindlich reagierte und jegliche Kooperation und geregelte Arbeit verweigerte. Weder in Wien noch später in München interessierte er sich wirklich für seine (angebliche) Berufung zum Künstler: Er verbummelte seine Zeit, malte Ansichtskarten, um das Allernötigste zum Leben zu verdienen, und bestand kein einziges Aufnahme-Examen. Das einzige, was er beherrschte, war, den anderen großmäulig zu imponieren. Das Soldatenleben im Ersten Weltkrieg vermittelte ihm nachhaltig nationalistische und narzißtische Befriedigung; dabei stilisierte er sich zum Helden empor.

Die vorhin erwähnten Kriterien der Nekrophilie werden nun von Fromm auf Hitler angewandt und bestätigt. Er attestiert ihm zusammenfassend gravierende psychische und soziale Defekte, die aber nicht zu einer manifesten Psychose geführt hätten.

Einschränkend stellt er fest:

Man darf mit Recht vermuten, daß er psychotische, vielleicht schizophrene Züge aufwies. Aber war Hitler deshalb ein „Wahnsinniger“, hat er, wie gelegentlich behauptet wird, an einer Psychose oder Paranoia gelitten? Ich glaube, daß man darauf mit Nein antworten muß (ebd. S.391).

Er war „in einem dynamischen, interpersonalen Sinn ein schwerkranker Mann“ (ebd.

S.392). Damit möchte Fromm ausdrücken, daß ein durch und durch destruktiver und böser Mensch nicht wie ein Teufel mit Hörnern (oder ein Wahnsinniger) aussehen muß, sondern sich höflich oder sogar liebenswürdig präsentieren kann.

Unter uns gibt es Hunderte von Hitlern, die hervortreten würden, wenn ihre historische Stunde gekommen wäre ... Jede Analyse, die Hitlers Bild verzerrt, indem sie ihn seiner menschlichen Eigenschaften beraubt, würde uns nur noch blinder machen für die potentiellen Hitlers, die keine Hörner haben (ebd. S.393).

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