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Kulturanalyse des Mittelalters und der Reformation

4. KULTURANALYSE UND KULTURKRITIK

4.5. Kulturanalyse des Mittelalters und der Reformation

In der Bewertung der sozio-kulturellen Vorgänge im Mittelalter streiten sich die Gelehrten. Einerseits spricht man vom finsteren Mittelalter, in dem Feudalismus und Absolutismus regierten, so daß das Individuum im Aberglauben verharrte, wenig von sich selbst wissen und sich nicht frei entwickeln konnte. Andererseits betonten einige

„reaktionäre Philosophen, aber gelegentlich auch progressive Kritiker des modernen Kapitalismus“, daß der mittelalterliche Mensch solidarischer war, sich innerhalb seiner Familie, Kirche, Berufsgilde und mit seiner Orientierung auf unmittelbaren Lebensgenuß (nicht Geld- oder Machterwerb) sicherer und heimischer fühlte als spätere Generationen.

Fromm gibt beiden Seiten recht, bevorzugt aber die Interpretationen von Jakob Burckhardt212 (1818-1897), Wilhelm Dilthey (1833-1911)213 und Ernst Cassirer214 (1874-1945). Deren Thesen hatte vor allem Johan Huizinga215 (1872-1945) widersprochen und einige Mängel am Renaissance-Bild von Burckhardt aufgedeckt. Die Kritik trifft aber — so Fromm — auf die wesentlichen Elemente der Veränderung nicht zu, die darin bestehen, daß es sehr viel mehr Menschen in der Renaissance als im Mittelalter gelang, sich aus familiären, sozialen und politischen Fesseln zu befreien und die „Geburt des Individuums“

einzuleiten. Jakob Burckhardt beschrieb diesen Vorgang als „Entdeckung der Welt und des Menschen“216.

Die Befreiung des Individuums hing auch mit dem Besitz des Geldes zusammen.

Diejenigen, die mehr davon besaßen, konnten sich persönlich besser entwickeln als die Masse des Volkes. Diese Fortschritte waren zuerst in Italien zu beobachten, wo Handel,

211 Es erhebt sich die Frage, ob dies tatsächlich die einzigen Alternativen sind, die der Mensch besitzt.

212 Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien (1860). Berlin 1981

213 Dilthey, Wilhelm: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (1914). Ges. Schriften II, Leipzig und Berlin 1923

214 Cassirer, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Leipzig 1927 215 Huizinga, Johan: Das Problem der Renaissance. In: Wege der Kulturgeschichte. München 1930 216 Burckhardt 1981, S.335

Architektur, Kunst und Philosophie im 15. Jahrhundert einen großartigen Aufschwung nahmen. Das neu erwachte Individuum eroberte und bereiste andere Kontinente, verwischte die Standesgrenzen und entwickelte einen kosmopolitischen Geist, aus dem heraus Dante sagen konnte: „Meine Heimat ist die ganze Welt“ (ebd. S.244).

An der Spitze der Renaissance-Gesellschaft herrschte eine reiche Schicht (meistens Adlige oder Großbürger), während das Volk keine Rechte besaß, zunehmend dirigiert und ausgebeutet wurde. So entstand mit dem neuen Individualismus auch ein neuer Despotismus: „Freiheit und Tyrannei, Individualität und Orientierungslosigkeit waren unentwirrbar miteinander verwoben“ (ebd. S.245). Dazu kam noch ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf um Besitz und Macht; Skrupellosigkeit, Egozentrik und unersättliche Gier nahmen Überhand.217

Die zu neuem Leben erwachten Individuen handelten sich mit ihrer persönlichen Expansion jedoch auch Vereinsamung, Selbstzweifel, Unsicherheit, Verzweiflung und Angst ein.218 Kompensatorisch strebten deshalb zahlreiche Renaissance-Menschen wiederum nach Macht, Ruhm und Besitz.

Fromm erläutert nun den Übergang von der Renaissance zur Reformation und damit zum eigentlichen Kapitalismus der Neuzeit. Dabei sind wesentliche Unterschiede festzuhalten, denn die Wurzeln des Kapitalismus sind hauptsächlich in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Mittel- und Westeuropas sowie in den Lehren Luthers und Calvins zu finden.

In der Renaissance hatten sich einige wenige Reiche, Condottiere (Söldnerführer), Künstler und Adlige zur Individualität entfaltet, während in der Reformation der neue religiöse Geist die städtische Mittel- und Unterschicht sowie die Bauernschaft ergriff. Das städtische Bürgertum wurde, wie Max Weber219 (1920) es ausdrückte, zum Rückgrat der modernen kapitalistischen Entwicklung.

Im folgenden weist Fromm nach, daß der „Geist“ der Renaissance und der Reformation unterschiedlich war.220 Die mittelalterliche Gesellschaft besaß kaum große Unternehmen; der Kleinhandel dominierte, und die Zunfthandwerker hatten ihr Einkommen. Das Erwerbsleben war eher unwichtig. Habsucht galt als Todsünde, so daß kein Kapital angehäuft wurde.

Im 14., 15. und vor allem im 16. Jahrhundert jedoch veränderte sich die Situation.

Es entstanden Monopole, Großunternehmer und konkurrierende Gesellschaften, die den kleinen Kaufmann in den Ruin trieben. Bereits Luther wetterte 1524 gegen die Monopole und den Wucher. Auch die Bauern, die zwar keine Leibeigenen mehr waren, mußten so hohe Abgaben entrichten, daß sie in eine materielle Hörigkeit gerieten.

Die Zeitgeist-Veränderungen zeigten sich auch an anderen Details: Allgemein ist mehr Hektik und Unruhe zu konstatieren — seit dem 16. Jahrhundert schlugen z.B. die Turmuhren in Nürnberg alle Viertelstunden, da keine Zeit mehr vergeudet werden durfte.

Neue Tugenden und Werte wie Arbeitseifer, berufliche Tüchtigkeit und materieller Reichtum rangierten nunmehr an erster Stelle. Einigen Menschen gelang es tatsächlich in dieser zunehmend konkurrierenden Gesellschaft zu Macht, Ansehen und Kapital („Freiheit“) zu kommen.

Die neue Freiheit mußte in ihm (dem Menschen der Reformation) ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Ohnmacht, des Zweifels, der Verlassenheit und Angst wecken. Wenn der Mensch sich in der Welt behaupten sollte, mußte er wenigstens teilweise von diesen Gefühlen erleichtert werden (ebd.

S.254).

217 Darüber liegen zahlreiche Berichte vor, unter anderem von der Familie der adligen Borgias, in deren Reihen Päpste, Renaissance-Fürsten (Cesare Borgia als Vorbild für Macchiavellis Der Fürst, 1513) und -Fürstinnen (Lucrezia Borgia) auftraten, welche neben ausschweifendem Leben Reichtum und Macht anhäuften, aber auch großzügig die Künste förderten.

218 Wilhelm Dilthey wies dies u.a. eindrücklich am Dichter Petrarca nach (Dilthey 1923, S.19ff).

219 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.1, Tübingen 1920

220 Er nimmt dabei Bezug auf Autoren wie K. Lamprecht, R. Ehrenberg, W. Sombart, G. von Below, M.

Weber, J.S. Schapiro, R.H. Tawney und L. Kraus.

Luther und Calvin als Hauptrepräsentanten der Reformation drücken nun in ihrem Leben und ihren Lehren diesen Doppelaspekt der neuen Freiheit charakteristisch aus. Beide Persönlichkeiten werden von Fromm eindrücklich analysiert und interpretiert.

Luther war ein typischer Repräsentant des autoritären Charakters. Als Kind eines strengen Vaters hatte er wenig Liebe und Sicherheit erfahren. Gegenüber Autoritäten verhielt er sich ambivalent. Er lehnte sich gegen seinen Vater und den Papst auf, unterwarf sich andererseits Gott, den Obrigkeiten des Klosters und den Fürsten. Gefühle von Angst, Einsamkeit, Ohnmacht und Sündhaftigkeit waren allgegenwärtig; zwanghaft von Zweifeln geplagt, suchte er stets nach Sicherheit, Liebe, Kontrolle und Macht. Er haßte den „Pöbel“, sich selbst und das Leben.

Luther verkündete, daß er sich Gott freiwillig und aus Liebe unterwerfe.

Tiefenpsychologisch betrachtet motivierten ihn jedoch eher die (unbewußten) Gefühle der Ohnmacht und der eigenen Sündhaftigkeit: Der Vergleich zu einer masochistischen Beziehung liegt auf der Hand, in der ebenfalls von „Liebe“ gesprochen wird.

Im Unterschied zu Luther und Calvin glaubte die mittelalterliche (katholische) Kirche noch, daß der Mensch trotz Sündenfall nach dem Guten streben, damit zu seinem Heil beitragen und durch die Sakramente der Kirche errettet werden könne. Augustinus, Thomas von Aquin und andere — von Luther als „Sau-Theologen“ bezeichnet — attestierten den Menschen einen freien Willen, der auch von Gott nicht beeinflußt werde.

Erasmus von Rotterdam, der die Willensfreiheit verteidigt hatte, wurde von Luther deswegen ebenfalls wüst beschimpft. Gerade der letztere anerkannte die Würde des Menschen und seine Gottähnlichkeit, worauf sich echte Humanität gründen könnte.

Luthers Menschenbild sah anders aus. Er hielt den Menschen für verdorben und schlecht. Deshalb muß er sich der Gnade Gottes unterwerfen und ist somit nicht frei, sein Leben aus eigener Kraft, z.B. durch ein tugendhaftes Verhalten, zum Guten zu wenden.

Luthers „Glaube“ war die Überzeugung, man werde unter der Bedingung der völligen Unterwerfung geliebt (ebd. S.265).

Dies stand in diametralem Gegensatz zu seiner Rebellion gegen den Mißbrauch der Autorität durch den Papst und die Kirche. Sein Vorbild in dieser Hinsicht löste bei den Ärmsten und Bauern sogar Aufstände aus. Da er dem Mittelstand angehörte, hatte er jedoch Angst, daß die autoritäre Ordnung insgesamt, d.h. auch diejenige seiner Schicht, bedroht war. Deshalb stellte er sich z.B. bei den Bauernrevolten auf die Seite der Fürsten und Ausbeuter. Er brachte zwar die Autorität der Kirche ins Wanken, verlangte aber von sich und den Gläubigen, daß sie sich unbedingt und absolut der Autorität Gottes unterwarfen.

Damit waren die Voraussetzungen für die Unterwerfung unter jegliche Obrigkeit und Tyrannei gegeben. Tatsächlich verkündete er auch, daß die Ordnung und Gewalt der Machthaber — unabhängig von deren moralischen Qualitäten — gut wären, da sie von Gott kämen. Das suggestiv wirksame Anprangern der Verderbtheit und Wertlosigkeit der menschlichen Natur unterstützte zusätzlich die Bereitschaft zur Unterwerfung.

Diese Faktoren machen verständlicher, warum sich die Zeitgenossen Luthers (und die folgenden Generationen) bereitwillig zum Mittel für einen Zweck machen ließen, der außerhalb ihrer selbst lag, z.B. zum Zweck der industriellen Produktion, der Anhäufung von Kapital und in der Neuzeit zum Kanonenfutter für eine Ideologie bzw. für einen „Führer“.

Calvin gewann vor allem in den angelsächsischen Ländern bei konservativen Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten Anhänger. Er predigte den Menschen, sich selbst zu erniedrigen, ihren Stolz auszurotten und das gegenwärtige Dasein zu verachten, denn Demut und Selbsterniedrigung wären die Voraussetzungen für die Akzeptanz durch Gott.

(Gegen die menschliche Verworfenheit) läßt sich kein anderes Heilmittel finden als dies, daß du dich selbst verleugnest, ... und deinen Sinn einzig danach streben läßt, das zu suchen, was der Herr von dir fordert (ebd.

S.267).

Calvin war auch der Meinung, daß Gott bereits entschieden hätte, wer erlöst oder verdammt würde (Prädestination). Damit erhielt Gott die Attribute eines Tyrannen (und nicht der Liebe).

Mit der Prädestinationslehre ist der menschliche Wille hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. Allenfalls der bedingungslose Glauben an Gott könnte den Menschen retten. Der Glaube (und damit der Mensch) mußte daher um so fanatischer sein, da nur die absolut Gläubigen die Chance erhielten, zu den Auserwählten zu gehören.221 Fromm stellt hier einen Zusammenhang mit den modernen Ideologien her, der nicht von der Hand zu weisen ist: Auch die Nazi-Ideologen z.B. unterteilten die Menschen in Auserwählte und solche, die nach ihrem „Recht“ gnadenlos vernichtet werden durften.

Eigentlich erwartet man als Folge von Fatalismus, Angst, Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht Apathie und Depression. Fromm versucht jedoch deutlich zu machen, daß Calvin die Gläubigen zu einem zwanghaften Aktivismus, zu „innerweltlicher Askese“

(Max Weber) und Arbeitswut motivieren konnte: Leistung und Arbeit wurden Selbstzweck. Dies stand im Gegensatz zum mittelalterlichen Menschen, der sich bemühte, einen sittlichen Lebenswandel zu führen, und der das Geld nur für den Lebensunterhalt und — wenn vorhanden — den Lebensgenuß benötigte.

Zu Angst und Ohnmacht gesellten sich beim Mittelstand noch Affekte wie Feindseligkeit, Ressentiment, Neid, Mißtrauen und moralische Entrüstung über die Mächtigen und Besitzenden. Calvin und Luther waren auch hierin „Vorbilder“.

Aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ergab sich somit eine neue Charakterstruktur, welche durch die religiösen „Reformationen“ intensiviert wurde:

Der Zwang zur Arbeit, der leidenschaftliche Sparsinn, die Bereitschaft, sein ganzes Leben einer außerpersönlichen Macht zu weihen, Askese und ein zwanghaftes Pflichtgefühl (ebd. S.276).

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