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Religionspsychologische Erwägungen

6. AUSBLICK UND KRITISCHE WÜRDIGUNG: FROMMS BEITRÄGE ZUR

6.1 Basis des Frommschen Denkens: Die jüdische Sozialisation

6.1.1. Religionspsychologische Erwägungen

Emotionaler Ausgangspunkt für den Glauben der meisten Religiösen ist ein übermäßiges Minderwertigkeitsgefühl respektive ein Minderwertigkeitskomplex, der sich

391 Cohen, Hermann: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919)

392 Funk, Rainer: Mut zum Menschen. Erich Fromms Denken und Werk, seine humanistische Religion und Ethik. Stuttgart 1978

393 Z.B. auch Jan Dietrich: Das Religionsverständnis Erich Fromms. In: Fromm-Forum, Heft 3/1999, S.32f 394 Tagung in der Katholischen Rabanus Maurus Akademie/Wiesbaden-Naurod: „Produktivität —

ökonomische Leitidee und Inbegriff gelingenden Lebens?“

395 Fassbender, P.: Egoistische Selbstbehauptung? Menschenbilder der Ökonomie — Ökonomie der Menschenbilder. In: Fromm-Forum, 4a/2000, S.34

396 Hardeck, Jürgen: Humanismus und Religion. Pluralismus der Wege, nicht der Werte. In:

Funk/Johach/Meyer (Hrsg.): Erich Fromm heute. Zur Aktualität seines Denkens. München 2000, S.182

397 Rattner, Josef: Tiefenpsychologie und Religion. Ismaning/München 1987

hauptsächlich als Angst, Ohnmachtsgefühl und Flucht vor dem Leben äußert. Sämtliche Komponenten sind bei Fromm auszumachen: Ängstlichkeit, Neigung zu Weltflucht in Form von Mystik, Ablehnung bestehender Gesellschaftsordnungen und Anlehnung an

„große“ Menschen, wobei gerade an letzteren erkennbar ist, daß deren reale Weltanschauung Fromm nicht so wesentlich erschien wie ihr geistig-sittliches Prestige — man denke hierbei nur an die angebliche „Religiosität“ des Atheisten Bertrand Russell im Vergleich zu Albert Schweitzer.

Fromms Tendenz zur Weltflucht erklärt zu einem beträchtlichen Teil auch seinen Erfolg bei der Aussteiger-Generation der Hippies und die Zustimmung bei der 68er Generation in ihrem Aufruhr gegen das Establishment. Bei vielen Teilnehmern dominierte mehr das Rebellische als das echt Revoltierende, wie die Kürze der Bewegung und baldige Anpassung an das Bestehende bewies.

Minderwertigkeitskomplexe rufen kompensatorische Strebungen hervor, die sich beim Religiösen natürlich nicht offen in Größenwahn ausdrücken dürfen. Nebenwege sind jedoch erlaubt und werden gut honoriert. Märtyrer gelangen oft zum Epitheton

„heilig“ auf Wegen, die man nicht anders als neurotisch398 bezeichnen muß: Der heilige Simon Stylites z.B. lebte stehend auf einer Säule, der Mystiker Heinrich Seuse trug ein Gewand mit Nägeln und Stacheln und andere küßten eitrige Wunden.

Am deutlichsten ist dies an der These im gleichlautenden Buch Ihr werdet sein wie Gott (1966) erkennbar. Darin ist zwar die von Ludwig Feuerbach geschaffene

„anthropologische Reduktion“ der in den Himmel projizierten Eigenschaften des Menschen korrekt durchgeführt (indem die scheinbar „göttlichen“ Attribute dem Menschen wieder zugeschrieben werden), aber noch nicht mit der Erkenntnis verknüpft, daß der Mensch den „mißglückten Versuch darstellt, Gott zu werden“ (Sartre). Mit anderen Worten ist der durchschnittliche Mensch nicht nur „entfremdet“, sondern auch neurotisch.

Fromm begibt sich auf etliche geistige Umwege, um diese Tatsache zu verdrängen. So erkennt er z.B. nicht, daß ein haßerfüllt auf einem Feind herumtrampelnder Mensch (in einer Erzählung von Isaac Babel) seelisch schwer gestört ist oder daß der „nekrophile“ Hitler, der „zwischen Normalität und Geisteskrankheit“

(siehe 5.1.6) gestanden hätte, nur unter größten Vorbehalten mit Begriffen wie Normalität oder Gesundheit in Beziehung gebracht werden kann (oder darf).

Die „diagnostische“ Schwäche bei Fromm ist wahrscheinlich auf seine reduzierte Tätigkeit als Therapeut zurückzuführen. Es fällt auf, wie wenig praktische Erfahrung Fromm in Bezug auf Psychotherapie vermittelte; es existiert z.B. keine ausführliche und stimmige Falldarstellung in seinem großen Oeuvre.

Der homo religiosus glaubt in der Regel auch an Wunder, wobei dies bei Fromm durchaus keinen einfältig-primitiven Charakter annimmt. Wenn wir aber an einige seiner Vorschläge für die Schaffung einer gesünderen Gesellschaft denken, assoziiert man doch Naivität oder Wunderglauben. In Die Seele des Menschen (1964, siehe 5.6) schlägt er z.B. einen „Tag des Menschen“ vor, der im Verbund mit Festivals, Feiertagen und humanistischen Symbolen den Menschen bessern soll. Dieser Vorschlag erinnert an die Illusion von Massenbekehrungen, die aus entfremdeten, autoritätsgläubigen oder dem Konsum verfallenen Bürgern auf einfache und schnelle Weise ichstarke, tolerante und autonome Individuen machen sollen. Auch diverse Vorschläge in Haben oder Sein veranlaßten Kritiker, Fromm des Predigens zu bezichtigen, welches sich in „intellektueller Anspruchslosigkeit“ ergehe und lediglich eine „simple Heilslehre“399 zustande gebracht habe (dieses Urteil darf allerdings nicht auf Fromms Gesamtwerk übertragen werden, das auf weite Strecken von hoher Geistigkeit und humanistischem Ethos zeugt).

Auf die Isolierung, Ohnmacht und Dichotomie des Menschen — was im Minderwertigkeitskomplex enthalten ist, der die Betroffenen zwischen Kleinheit und Streben nach Größe hin und her schwanken läßt — kommt Fromm in zahlreichen seiner

398 James, William: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Leipzig 1914

399 Rhode, Roman: Die gute Substanz. Der Mensch und sein Anwalt: Der Entfremdungskritiker Erich Fromm ist wieder aktuell. In: Der Tagesspiegel, 16. Juli 2000

Veröffentlichungen zurück und sucht dafür eine Erklärung. Er glaubt, sie im Alten Testament, der Psychoanalyse und der Entfremdungs-Theorie gefunden zu haben. Sein Modell sieht folgendermaßen aus: Der Mensch lebte ursprünglich im Paradies — welches das Judentum in der frommen Familie bzw. Gemeinde, die Psychoanalyse im Mutterleib, der Marxismus in der mütterlichen, nicht entfremdeten und klassenlosen Gesellschaft erblickte —, wurde aufgrund seiner Sündhaftigkeit daraus vertrieben und sehnt sich deshalb zeitlebens danach zurück.

Mit anderen Worten findet man in Fromms Unbewußtem und Verdrängtem religiöse Überzeugungen vor, die stets im Emotionalen verankert sind und sich vor allem in seinem Alterswerk manifestieren. Ein Beispiel unter vielen soll zur Demonstration genügen: Der moderne Mensch hat sich am „Haben“ versündigt; er ist vollkommen der Konsum- und Besitzgier verfallen, so daß sich die bösartigste Aggression entfalten kann:

die Liebe zum Toten (Nekrophilie). Wer den vom Autor aufgestellten Sündenkatalog der technisierten Welt aufmerksam liest, hört neben der sehr wohl berechtigten Kulturkritik heraus, daß Fromms emotionale Befangenheit die Analyse in Richtung Dämonie und Verhängnis übertreibt. Dazu passen auch die zu Mythen verführenden Begriffe wie Nekrophilie, Biophilie und bösartige inzestuöse Beziehung.

6.1.2.. Zur Rezeptionsgeschichte von Fromms Religionspsychologie

Die Rezeption der Frommschen religiös inspirierten Gedanken ist keineswegs beendet. So widmete z.B. Volker Frederking diesen Themen einen Aufsatz im Sammelband zu Erich Fromms 100. Geburtstag400. Darin wird der mittelalterliche Dominikaner Meister Eckhardt gewürdigt, der Fromms „Seins“-Begriff vorweggenommen habe:

Daß dieser von Eckhart in seinen innerseelischen Bedingungen in exemplarischer Weise vorgedacht wurde, begründet im Urteil Fromms die erstaunliche Aktualität des mittelalterlichen Mystikers und spirituellen Theologen (ebd. S.169).

Im selben Band befaßt sich Jürgen Hardeck mit der Frommschen Kombination von

„Humanismus und Religion“401. Der Autor verweist darin unter anderem auf Eugen Drewermanns Werk402, der in den Fußstapfen Fromms Tiefenpsychologie und Religion miteinander verknüpft. Die mittelalterliche Mystik, die jüdische Tradition, Fromm und Drewermann wären sich darin einig, „daß der Mensch frei werden müsse, ledig von allem, selbst noch von Gott — um Gottes willen“ (ebd. S.183). Als „wahre Seel-Sorger“

wüßten sie, daß menschliches Heil nicht vom Glauben, sondern von der lebendigen (religiösen) Erfahrung abhänge.

Zwar sei Fromms idealer Mensch, der sich von allen inzestuösen Bindungen (Eltern, Rasse, Kirche, Partei, Konsum, Sucht usw.) losgesagt hätte, eine Utopie:

Diese Freiheit aus eigener Kraft erreichen zu wollen, erscheint allen Theologen dieser Welt als hybride Selbsterlösung, ja Selbstvergöttlichung des Menschen. Die Frage, ob das moderne aufgeklärte Bewußtsein die Welt besser versteht als das metaphysisch-religiöse, bleibt — im Sinne eines schlüssigen Beweises — unentscheidbar. (ebd. S.184).

Aber trotzdem hofft der Autor — da wird ihm auch niemand widersprechen —, daß...

das 21. Jahrhundert mehr auf die Stimme des großen Humanisten Erich Fromm hören (wird) als auf die derjenigen, die das Wohlsein des Menschen auf dem Altar irgendeines ideologischen Götzen zu opfern bereit sind (ebd.

400 Frederking, Volker: Vom Haben zum Sein. Fromms Gesellschaftskritik und die Mystik Meister Eckharts. In: Funk/Johach/Meyer (Hrsg.): Erich Fromm heute. Zur Aktualität seines Denkens.

München 2000

401 Hardeck, Jürgen: Humanismus und Religion. Pluralismus der Wege, nicht der Werte. In: Erich-Fromm heute. München 2000

402 Drewermann, Eugen: Kleriker. Psychogramm eines Ideals. München 1991

S.185).

Kommentar: Wenn sich Fromm eingehender mit seinen tiefenpsychologischen Kollegen beschäftigt hätte, wäre er z.B. in Harald Schultz-Henckes Buch Der gehemmte Mensch403 (1940) auf die (weltanschaulich motivierten) Hemmungsabsichten des Christentums gestoßen: Die christlichen Tugenden Armut, Keuschheit und Gehorsam stehen nämlich in direktem Gegensatz zu den natürlichen menschlichen Antrieben des Besitzes, der Sexualität, der Freiheit und der Geltung. Wie die abendländische Kultur gezeigt hat, führte die oft gelungene Unterdrückung zur Schwächung des Menschen an seinen biologischen Wurzeln und bewirkte Untertanenmentalität, Perversion und (eklesiogene) Neurosen.

Fromm analysierte gewiß korrekt die destruierende Wirkung der Hemmung auf Seiten der Sexualität und vor allem der Freiheit. Aber im Bereich des „Habens“ war er durch das jahrhundertealte antisemitische Vorurteil des angeblich raffgierigen Juden geprägt und entwickelte deshalb kompensatorisch (psychoanalytisch: durch Sublimierung) einen Hang zur Askese und Abstraktion. Deshalb wohl auch seine religiös-moralistisch eingefärbte Aversion gegen den Kapitalismus und den Protestantismus und die fast völlig fehlende Analyse des Antisemitismus, die solche Zusammenhänge deutlich gemacht hätte.

6.2 Analytische Sozialpsychologie

Übereinstimmung herrscht darin, daß sich Fromm bleibende Verdienste auf dem Gebiet der Sozialpsychologie erworben hat. Bereits Anfang der dreißiger Jahre profilierte er sich im Institut für Sozialforschung in Frankfurt (IfS), das unter Max Horkheimers Leitung bemüht war, Psychoanalyse und Marxismus in Einklang zu bringen. Wie gut Fromm diese Vorgabe erfüllte, zeigen seine Veröffentlichungen und seine weithin akzeptierte Einordnung zu den Freudo-Marxisten404 (Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich und Otto Fenichel).

Als Soziologe wußte er, daß ökonomische, soziale und politische Tatsachen nicht direkt durch die Psychoanalyse erforscht werden können. Das Bindeglied, das er in die Sozialpsychologie einführte, war der Gesellschaftscharakter. Um ihn zu verdeutlichen, arbeitete er interdisziplinär, indem er unter anderem auch Philosophie, Literaturanalyse, Ethik und Politologie mit einbezog.

Helmut Dahmer405 (Jahrgang 1937), Soziologe und Philosoph, attestiert Fromm daher:

Fromm brachte die Ideen Reichs und Bernfelds (in differenzierter Fassung) in die großen theoretisch-empirischen Untersuchungen des Instititus für Sozialforschung über Autorität und Familie und den autoritätsgebundenen Charakter ein (ebd. S.68).

Im Programm des IfS wurden die verschiedenen Faktoren aufgeschlüsselt; Fromm war für die „Veränderung der psychischen Struktur ihrer (der gesellschaftlichen Gruppe) einzelnen Mitglieder und den auf sie wirkenden und von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrichtungen“ zuständig.

Die Motive für diese Untersuchungen liegen auf der Hand: Die Katastrophen des Ersten Weltkriegs, der Sieg des Kommunismus in der Sowjetunion, die Weltwirtschaftskrise, der Zerfall der Weimarer Republik und das Aufkommen des braunen Terrors brannten als Tagesthemen unter den Nägeln und erzwangen entweder Verdrängung oder Stellungnahme. Es gehört zum bleibenden Verdienst Fromms, daß er

403 Schultz-Hencke, Harald: Der gehemmte Mensch (1940). Stuttgart 1978

404 Burns, John: Die Charakterologie Erich Fromms unter besonderer Berücksichtigung des Gesellschafts-Charakters. Diplomarbeit im Fach Psychologie, Berlin 1990.

405 Dahmer, Helmut: Psychoanalyse und historischer Materialismus. In: Psychoanalyse als Wissenschaft.

Frankfurt/Main 1971

seine Augen der aufkommenden Hitlerdiktatur gegenüber nicht verschloß und sich — mit seinen Mitteln — bemühte, darüber aufzuklären.

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