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Die humanistische Psychoanalyse und ihr Konzept für eine gesunde Gesellschaft

3. VOM BEITRAG DES MATRIARCHATS ZUM MARXISMUS UND VOM

3.5. Die humanistische Psychoanalyse und ihr Konzept für eine gesunde Gesellschaft

Ein weiterer Meilenstein in Fromms Gesamtwerk ist das Buch Wege aus einer kranken Gesellschaft158 (The sane Society) aus dem Jahre 1955, das er als Fortsetzung seiner Werke Die Furcht vor der Freiheit (1941) und Psychoanalyse und Ethik (1947) verstanden wissen möchte. Ausgangspunkt sind die Krankheitssymptome einer Gesellschaft, dessen „Pathologie der Normalität“ mehrheitlich durch entfremdete Menschen geprägt ist.

Fromm entwickelt in der vorliegenden Veröffentlichung die Ideen zu einer

„humanistischen Psychoanalyse“, die sich nicht mehr auf eine von Freud vermutete Triebnatur des Menschen stützt, sondern davon ausgeht, daß der Mensch eine „neue Beziehung zum Menschen und zur Natur“ (ebd. S.6) finden muß, um eine gesunde Gesellschaft zu bilden.

Der Autor weist anhand geschichtlicher Überlegungen und einiger Statistiken nach, daß der westliche Mensch trotz Wohlstand, längerer Lebenszeit, mehr Freizeit usw.

psychisch keineswegs zufriedener, glücklicher und friedlicher lebt — im Gegenteil:

Kriege, Selbstmorde, Alkoholismus und andere Süchte beweisen, daß tiefe Bedürfnisse der Menschen nicht gestillt werden.

Fromm zeigt nun, daß „eine Gesellschaft dann gesund ist, wenn sie den Bedürfnissen des Menschen entspricht“ (ebd. S.19), und die Konflikte zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft gelöst werden können.

Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch die Harmonie mit der Natur verloren: Er kommt fast instinktlos zur Welt und ist für den Lebenskampf schlecht gerüstet. Jedoch gelang es ihm im Verlauf der Evolution, seiner selbst bewußt zu werden sowie Phantasie und Vernunft einzusetzen, so daß er sich teilweise von der Natur befreien und sie transzendieren konnte.

Durch ihr (Selbstbewußtsein, Vernunft) Entstehen wurde der Mensch zu einer Anomalie, zu einer Laune des Universums ... Die Vernunft, der Segen des Menschen, ist zugleich sein Fluch ... Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine eigene Existenz als ein Problem empfindet, das er lösen muß und dem er nicht entrinnen kann (ebd. S.21).

Freud glaubte, aus der sexuellen Triebkraft die menschlichen Leidenschaften und Wünsche erklären zu können. Fromm hält dagegen, daß die eben erwähnte menschliche Situation es ist, welche die humanen Bedürfnisse konstelliert. Körperliche Bedürfnisse hat jeder Mensch mit dem Tier gemeinsam; menschliche Bedürfnisse sollten durch das Gewissen dirigiert werden, das ihm sagt, was er kultivieren oder vermeiden sollte bzw.

157 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. In: Marx-Engels-Werke, Bd.2, Berlin 1959

158 EF: Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955). In: GA, Bd.4, S.1

was „gut“ oder „böse“ ist.

Alle Leidenschaften und Strebungen des Menschen sind Versuche, eine Antwort auf seine Existenz zu finden, oder man könnte auch sagen, sie sind ein Versuch, der Geisteskrankheit zu entgehen (ebd. S.25).

Nach Ansicht des Autors hat der Mensch nur zwei Alternativen: Regression oder Progression bzw. Barbarei oder Kultur, wobei er anschließend die Variationen dieser Bedürfnisse thematisiert.

Die erste Gruppe von Bedürfnissen werden von Fromm unterteilt in Bezogenheit durch Liebe oder Narzißmus. Die normale Entwicklung führt vom primären Narzißmus, bei dem sich das Kind nur auf sich selbst konzentriert und um seine Bedürfnisse kreist, etwa ab dem neunten Lebensjahr zu „fühlen, daß die Bedürfnisse eines anderen Menschen ebenso wichtig sind wie die eigenen“ (H.S. Sullivan, ebd. S.29). Dann erst tritt das ein, was wir mit „Liebe“ bezeichnen und für das Fromm einfühlsame Worte findet.

Regrediert der Mensch jedoch und erreicht nicht die produktive genitale Liebesfähigkeit, entsteht der „sekundäre Narzißmus“, der in extremster Form in die Geisteskrankheit einmündet.

Eine andere Alternative, welche aus der menschlichen Situation entsteht, wird von Fromm als Transzendenz durch Kreativität oder Destruktivität beschrieben.

Bezogenheit, die aus Liebesgefühlen stammt, führt zu Produktivität und Fürsorge.

Jedoch:

Wenn ich kein Leben schaffen kann, dann kann ich es zerstören. Auch indem ich das Leben zerstöre, kann ich es transzendieren (ebd. S.30).

Schaffen und Zerstören, Lieben und Hassen wären Antworten auf das gleiche Bedürfnis nach Transzendenz.159

Als dritte Möglichkeit wird die Verwurzelung durch Brüderlichkeit oder Inzest angeführt. Nach der Vertreibung aus dem Paradies — das Fromm mit der kindlichen Geborgenheit bei der Mutter vergleicht — muß der Mensch eine neue Heimat suchen.

Gelingt es ihm nicht, neue Freunde („Brüder“) zu finden, strebt er zurück in den Schoß der Familie und verfehlt damit die Entwicklung zum Erwachsensein.

Der Autor vermutet, daß aus diesen Gründen im Verlauf der Evolution das Inzesttabu errichtet wurde; nicht — wie Freud annahm —, um dem sexuellen Trieb, mit der Mutter verkehren zu wollen, Einhalt zu gebieten, sondern um dem Heranwachsenden den Weg zur sozialen Einbindung zu weisen.

Freud hatte mit dem Konzept des „Ödipus-Komplexes“ zwar gespürt, daß darin die „Sehnsucht des Mannes nach der Liebe der Mutter“ enthalten ist, aber durch seine einseitig patriarchalische Haltung die Wichtigkeit der Mutter wieder negiert. Fromm korrigiert dies, indem er auf Johann Jakob Bachofen verweist, der die matriarchalische Gesellschaftsordnung (wie sie möglicherweise vor dem Patriarchat geherrscht hatte) mit ihrer größeren Lebens- und Menschenfreundlichkeit und Liebe eindrücklich beschrieben hatte (siehe 3.1).

Fromm schlägt einen umfassenden sozio-politischen und religions-historischen Bogen, um die Auswirkungen des Patriarchats seit der Antike zu schildern. Der patriarchalische Geist führte zu negativen und positiven Ereignissen: Einerseits mündete seit der Renaissance die Befreiung des Menschen in den Siegeszug der Rationalität und trug so wesentlich zu den Erfolgen von Naturwissenschaft, Wirtschaft und Technik bei.

Andererseits weisen der Kapitalismus, die Diktaturen, die westlichen monotheistischen Religionen und das moderne Managertum destruktive patriarchalisch-autoritäre Strukturen auf.

Aber auch der matriarchalische Anteil besitzt negative, d.h. regressive Bereiche, die zum emotionalen Inzest führen können:

159 Die Verbindung von Liebe und Haß mit dem Thema der „Bezogenheit“ ist spezifisch psychoanalytisch. Dies hängt wohl damit zusammen, daß der Begriff der „Bezogenheit“ so schwammig ist, daß darunter soziale Verbundenheit wie Antisozialität verstanden werden kann. Das gleiche gilt dann auch für die Transzendenz.

Nachdem es den großen europäischen Revolutionen des 17. und 18.

Jahrhunderts nicht gelungen war, die „Freiheit von“ in eine „Freiheit zu“

umzuwandeln, wurden der Nationalismus und die Verehrung des Staates zu den Symptomen einer Regression auf die inzestuöse Fixierung. Erst wenn es dem Menschen gelingt, seine Vernunft und seine Liebe weiter zu entwickeln, als es bisher gelungen ist, erst wenn er eine Welt aufbauen kann, die sich auf menschliche Solidarität und Gerechtigkeit gründet, erst wenn er sich im Erlebnis einer universalen Menschenliebe verwurzelt fühlt, wird er zu einer neuen Form menschlicher Verwurzelung hingefunden haben, wird er seine Welt in eine wahrhaft menschliche Heimat verwandelt haben (ebd. S.46).

Zu den existentiellen Bedürfnissen zählt auch die Suche nach der eigenen Identität, wobei die Alternative zwischen Identitätserleben durch Individualität oder Herdenkonformität besteht. Noch in unserer Zeit, die vorgibt, größten Wert auf Individualität zu legen, finden sich der weit verbreitete Typus, sich allen Status-Normen anzupassen; Konformität in einem Verein, einem Klub oder in einem Staat vermittelt dann den Einzelnen die Illusion, ein „Ich“ und ein Individuum zu sein.

Die Suche nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe durch Vernunft oder durch Irrationalität entspricht dem Frommschen Begriff der Religiosität. Entwicklung geht mit Vernunft einher, während Regression zu Hingabe an

„schlechte“ Objekte führt, nämlich solche, welche die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten hemmen oder unterdrücken, z.B. Ideologien bzw. Götzen wie Technik und Sport.

Erst die Befriedigung der positiven Anteile der geschilderten existentiellen menschlichen Bedürfnisse führt zu seelischer und geistiger Gesundheit. Dabei spielt die Gesellschaft eine wesentliche Rolle: Sie kann fördern als auch stören und pathogen wirksam sein. Fromm erläutert hauptsächlich die krankmachenden Faktoren, indem er anschließend eine Analyse des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft vornimmt.160

3.6. Der Roboter-Mensch des 20. (und 21.) Jahrhunderts

Die Reformbewegungen der vergangenen Jahrhunderte trachteten danach, irrationale Autoritäten (d.h. unfähige Herrschaft nur aufgrund von Erblichkeit), Ausbeutung, sexuelle Unterdrückung und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Liberalen, die Sozialisten und die Psychoanalytiker verwirklichten tatsächlich zahlreiche fortschrittliche Ziele. Jedoch ist der moderne Mensch „seelisch kränker“ (ebd. S.75) als im 19. Jahrhundert; er ist zwar nicht mehr Sklave, sondern eher ein Roboter (Adlai Stevenson), der keine Individualität, keine eigene Meinung und fast kein Selbstgefühl mehr besitzt; man kann ihn relativ leicht manipulieren.

Fromm macht mehrere Entstehungsursachen dafür namhaft: Zum einen die Quantifizierung und Abstraktion des Lebens, die darin besteht, alle Dinge unter dem Gesichtspunkt von Zahlen und Mengen zu betrachten und von ihnen das Lebendige abzuziehen. Beispiele dafür sind: „Ich habe mir ein Eigenheim zugelegt“ oder die Überschwemmung war eine „Millionen-Dollar-Katastrophe“. Deutlich ist diese Veränderung auch im Bereich der Kriegsführung zu beobachten: Der moderne Soldat hat es nicht mehr mit sichtbaren Menschen zu tun, die er töten muß, sondern mit „Zielen“, die er mittels Drücken eines Knopfes vernichtet.

Wissenschaft, Geschäftsleben und Politik haben alle Grundlagen und Proportionen eingebüßt, die für den Menschen einen Sinn haben. Wir leben in Zahlen und Abstraktionen. Da nichts mehr konkret ist, ist nicht mehr real (ebd. S.87).

160 Wir werden in Teil 4 (Kulturanalyse und Kulturkritik) diese Ausführungen wieder aufgreifen.

Ein weiterer, zentraler Faktor ist die Entfremdung (siehe auch 3.3), die man an den Arbeitern, den Managern, der Bürokratie sowie der ganzen westlichen Gesellschaft beobachten kann. Die Entfremdung zeigt sich unter anderem darin, daß den Menschen die Kontrolle über Politik, Ökologie und Wirtschaft entgleitet und das Verhältnis zum Mitmenschen entartet: Der andere wird — wie man selbst! — als Fremder erlebt, den man fast ausschließlich unter den Gesichtspunkten der Zweckhaftigkeit und des Marktwertes betrachtet. Deshalb nannte Fromm diese Art der Beziehung zu sich selbst (und den anderen) die „Marketing-Orientierung“.161

Diese moderne Form der Entfremdung ist gut am Phänomen der Liebe zu erkennen. Im 19. Jahrhundert dominierte noch die Freude am Besitz (auch einer Frau bzw. eines Mannes). In der Moderne geht es mehr ums Tauschen:

Die Liebe ist oft nichts anderes als ein günstiges Tauschgeschäft zwischen zwei Menschen, die dabei entsprechend ihrem Wert auf dem Personenmarkt soviel wie möglich für sich herausschlagen (ebd. S.106).

Selbst das Leben wird als ein Unternehmen angesehen, das man bilanziert. Manche

„Bilanz-Selbstmörder“ stellen eine falsche Gleichung auf, in der sie versuchen, Glück, Lust, Liebe, Leid, Unglück usw. gegeneinander aufzurechnen. Falsch ist diese Bilanz deshalb, weil Lebenswerte nicht sinnvoll quantifizierbar sind: Sonst könnte man mit Recht sagen, daß kein Leben lebenswert sei, da es ohnehin mit dem Tod endet.

Zum modernen Gesellschaftscharakter zählen auch die anonyme Autorität und Konformität. Fromm beschreibt anhand von soziologischen Studien detailliert, wie der mittlere Mensch des 20. Jahrhunderts nicht allein sein kann und sich ständig aufgefordert fühlt, mit den anderen zu kommunizieren und „aus sich herauszugehen“.

Ein weiteres Zeichen für die soziale „Anpassung“ ist das völlige Fehlen einer privaten Sphäre und das hemmungslose Reden über seine persönlichen

„Probleme“ (ebd. S.113).

Der Autor spricht von einer neuen Art von Über-Ich, das einen „Konformitätsstil“ fordert.

Dazu kommt noch das Prinzip, jede Frustration zu vermeiden. Aldous Huxley hatte dies prophetisch vorausgesehen und in seinem Buch Schöne neue Welt (1946) zur Devise „Schiebe nie das Vergnügen, das du heute haben kannst, auf morgen auf“

verdichtet.162 Eine solche „Spaß-Kultur“ konsumiert ständig und bleibt in dieser passiven Haltung dennoch unbefriedigt.

Zur Entfremdung zählt auch das sogenannte freie Reden, das nicht nur in den Medien und im Alltag, sondern ebenso bei den Psychologen in ein Gerede und Geplapper übergegangen ist:

„Sich auszusprechen“, ist Mode geworden und zeugt von intellektueller Kultur. Man hat dabei keinerlei Hemmungen, kein Schamgefühl und übt keinerlei Zurückhaltung (ebd. S.120).

In Bezug auf Vernunft, Gewissen und Religion übt Fromm massive Kulturkritik. Die Dummheit hätte in der Neuzeit gewaltig zugenommen, ebenso der Mangel an Wirklichkeitssinn. Der moderne Mensch besitze kein humanistisches Gewissen mehr;

dies zeige sich unter anderem auch am zunehmenden Vandalismus der Jugend. Er stimmt mit Arnold Gehlen im Kulturpessimismus überein: Die Gesellschaft marschiere

„auf die Barbarei zu“ (ebd. S.125).

Der westliche Religionsglaube ist ebenfalls verkommen:

Genauso wie man die Nächstenliebe durch eine unpersönliche Fairneß ersetzt hat, hat man Gott in einen unerreichbaren Generaldirektor der Universum GmbH verwandelt; man weiß, daß Er da ist, daß Er den Laden schmeißt (wenn dieser vermutlich auch ohne Ihn laufen würde), man

161 Zum erstenmal taucht diese Bezeichnung in Psychoanalyse und Ethik (1947) auf.

162 Ein typischer Vertreter der 2000er-Generation drückte dies in einem 100-Tage Fernseh-Experiment („Big Brother“) zum wiederholten Male so aus, daß alles „Spasss!“ machen müsse.

bekommt Ihn nie zu sehen, doch erkennt man Ihn als Chef an, während man selbst seine Arbeit tut (ebd. S.126).

Die Entfremdung von der Arbeit ist auch daran zu erkennen, daß der moderne Arbeiter durchschnittlich nach mehr Geld unter den Prämissen von „Faulheit und Passivität“

strebt.

Nicht zuletzt weist die Demokratie bedenkliche Mängel auf. Fromm stützt sich hierbei hauptsächlich auf die Aussagen des Nationalökonomen Joseph Alois Schumpeter163 (1883-1950), der betonte, daß der „Wille des Volkes“ ähnlich wie in der kommerziellen Werbung manipuliert wird und die mittlere Kultur auf einem niedrigen geistigen Niveau anzusiedeln ist.

Der Autor kommt zum Schluß, daß der entfremdete moderne Mensch von seelischer Gesundheit weit entfernt ist, auch wenn man positive Ansätze, die sich gegen die momentane Situation wehren, nicht leugnen kann. Der machtvollste Produktionsapparat geht zugleich einher mit dem „machtvollsten Vernichtungsapparat ..., den sich ein Wahnsinniger nur ausdenken konnte“ (ebd. S.136). Überdies ist der moderne Mensch nicht glücklich, auch wenn er sich zwanghaft einbläut und einreden läßt: „Jeder ist heutzutage glücklich“ (Huxley in Schöne neue Welt) und wenn er unentwegt bemüht ist, sich zu amüsieren und zu konsumieren. Fromm diagnostiziert am mittleren Menschen Angst, latente Depression und Schizophrenie. Auf die Kulturkritik anderer Autoren, die Fromm einbringt, wird in Teil 4 näher eingegangen.

3.7. Wege aus einer kranken Gesellschaft. Die Irrtümer und

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