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4.7 St¨ orungstheorie

Die allermeisten Probleme in der Quantenmechanik lassen sich nicht exakt l¨osen, so daß man auf N¨a-herungsverfahren angewiesen ist, und zwar bei der L¨osung sowohl der zeitunabh¨angigen als auch der zeitabh¨angigen Schr¨odingergleichung. In beiden F¨allen geht man von einem Hamiltonoperator H, den man bereits ”gut kennt“, und einer im Vergleich zu H ”kleinen“ St¨orung W, etwa einem zus¨atzlichen Potential, aus und versucht dann, Aussagen ¨uber den OperatorH0 =H+W zu machen.

Zur L¨osung der zeitabh¨angigen Schr¨odingergleichung dient die zeitabh¨angige St¨orungstheorie. Um eine L¨osung des Anfangswertproblems

id

dtw(t) =H0w(t) = (H+W)w(t), w(0) =u, (23) zu bestimmen, sucht man eine L¨osungw(t) der Form

w(t) = exp(−itH)v(t) (Variation der Konstanten) in der Erwartung, daß sich bei

”kleiner“ St¨orung W die Funktion v nur langsam mit der Zeit ¨andert. Die resultierende Differentialgleichung f¨urv,

id

dtv(t) = exp(itH)Wexp(−itH)v(t),

geht man mit dem Picardschen Iterationsverfahren an: Man setzt v(0)(t) = u und bestimmt durch Integration Funktionenv(n),n≥1, mit

id

dtv(n)(t) = exp(itH)Wexp(−itH)v(n−1)(t) und v(n)(0) =u. (24) Anders als beim Satz von Picard-Lindel¨of, bei dem Stetigkeit und lokale Lipschitzstetigkeit eines zeit-abh¨angigen Vektorfeldes Existenz und Eindeutigkeit einer L¨osung sichern, bleibt im vorliegenden Fall unklar, ob die Folge (v(n))n uberhaupt konvergiert und welche Eigenschaften ein allf¨alliger Grenzwert¨ besitzt. Um nicht mit leeren H¨anden dastehen zu m¨ussen, sieht der Physiker dar¨uber hinweg und ¨ uber-setzt Gleichung (23) unter der Annahme der Existenz einer Orthonormalbasis (ek) aus Eigenvektoren von H, Hek = Ekek, in ein System von skalaren Differentialgleichungen f¨ur die Koeffizienten ck(t) vonv(t) =P

kck(t)ek. Das Resultat ist id

dtck(t) =X

l

ei(Ek−El)tWklcl(t), (25) dabei sind Wkl =hek, W eli die Matrixelemente von W in das Basis (ek). Betrachtet man das System aus dem Blickwinkel der Eigenvektoren vonH, so induziertW Uberg¨ange zwischen diesen, weil sie eben¨ nicht Eigenvektoren von H0 sind. Nimmt man an, daß sich das System zum Zeitpunkt t = 0 im dem Eigenzustand ek befindet, dann ergibt sich als ¨UbergangswahrscheinlichkeitPkl(t) = |hel, w(t)i|2, das System zum Zeitpunkt t im Zustand el zu finden, in linearer N¨aherung (d. h. ein Iterationsschritt in Gleichung (24)) der Ausdruck

Pkl(t)≈ Zt 0

ei(El−Ek)sWlkds

2

.

Insbesondere ist ein ¨Ubergang k→ l in 1. Ordnung St¨orungstheorie ausgeschlossen, wenn das Matrix-elementWlk verschwindet. Es ist klar, daß diese lineare N¨aherung, wenn sie ¨uberhaupt sinnvoll ist, nur f¨ur kleine Zeiten das System n¨aherungsweise beschreibt. So kann sich in Anwendungen beispielsweise ergeben, daßPkl(t) linear vont abh¨angt, was mit der Bedingung 0≤Pkl(t)≤1 nicht vereinbar ist.

Die zeitabh¨angige St¨orungstheorie wird auch angewandt, wenn die St¨orung selbst zeitabh¨angig ist, wie etwa bei der Wechselwirkung eines Atoms mit elektromagnetischer Strahlung. Formal macht es in Gleichung (25) keinen großen Unterschied, wenn auchWkl vontabh¨angt. Allerdings ist bei zeitabh¨angi-gen Hamiltonoperatoren Satz 3.7 nicht mehr anwendbar, so daß mathematisch die Frage nach Existenz von L¨osungen der Schr¨odingergleichung neu aufgerollt werden m¨ußte. (Der Eindeutigkeitsbeweis w¨are weiterhin g¨ultig.) Aus diesem Grund beschr¨anke ich mich auf zeitunabh¨angige Hamiltonoperatoren.

Die zeitunabh¨angige St¨orungstheorie ist eine Methode zur approximativen Bestimmung der Eigen-werte und -vektoren vonH0. Die recht komplizierte mathematische Begr¨undung dieses Verfahrens geht auf Kato zur¨uck und beruht auf der Potenzreihenentwicklung von Resolventen. Außerdem sind die Vor-aussetzungen, die dabei an H undW gestellt werden (um dem weiter oben verwandten Begriff

”klein“

einen Sinn zu geben), in der Praxis oft nicht erf¨ullt. Das tut der Popularit¨at der Methode keinen Ab-bruch, weil die Kenntnis von Spektrum und Eigenr¨aumen in der Quantenmechanik unverzichtbar ist.

Auch ich werde nicht in mathematischer Strenge vorgehen und zum Beispiel stets annehmen, daß der Definitionsbereich von W den von H enth¨alt. Durch die zeitunabh¨angige St¨orungstheorie erh¨alt man Eigenwerte und -vektoren vonH0 als Reihen in den Eigenwerten bzw. -vektoren von H. In der ersten N¨aherung, die oftmals ausreicht, ergibt sich dabei folgendes: Ein Eigenraum eig(H, λ) spaltet im allge-meinen in eine direkte Summe von Eigenr¨aumen eig(H0, λ0k) auf und verschiebt sich, insbesondere geht kein (mit Multiplizit¨aten gez¨ahlter) Eigenwert ”verloren“. Mit der Bezeichnung Pλ f¨ur die Projektion auf eig(H, λ) sind die Verschiebungenλ0k−λder Eigenwerte (und die neuen Multiplizit¨aten) gerade die des OperatorsPλW in eig(H, λ). Auch die Eigenr¨aume vonH0lassen sich aus der Kenntnis vonH undW berechnen; f¨ur die Formel sei auf die Literatur verwiesen.

Oft wird die Situation so sein, daßH Morphismus bez¨uglich einer GruppeGist undW (und damit auchH0) Morphismus bez¨uglich einer kleineren GruppeG0 ⊂G. Entscheidend ist dann folgender Sach-verhalt: Weil H undH0 G0-Morphismen sind, ist der Projektionsoperator, der einen Eigenraum vonH isomorph auf die Summe der daraus hervorgehenden Eigenr¨aume von H0 abbildet, selbstG0 -Morphis-mus. Die G0-Modulstruktur dieser Eigenr¨aume vonH0 ist daher die gleiche wie die des urspr¨unglichen Eigenraumes, muß also mit der Restriktion desG-Moduls eig(H, λ) aufG0 vertr¨aglich sein. Ist diese Re-striktion insbesondere multiplizit¨atenfrei, dann kann eig(H, λ) nicht feiner aufspalten als inG0-isotypische Komponenten.

Es gibt ¨ubrigens durchaus ZusatztermeW, die sich nicht st¨orungstheoretisch behandeln lassen. Ein Beispiel daf¨ur ist der Stark-Effekt, bei dem ein Atom in ein homogenes elektrisches Feld plaziert wird.

Dann verschwinden alle Eigenwerte vonH, und das kontinuierliche Spektrum ist ganzR[GP91, Sec. 10.8].

Physikalisch ist das Fehlen von gebundenen Zust¨anden zu erwarten, denn die Raumbereiche mit beliebig tiefem Potential gestatten stets das

”Tunneln“ eines gebundenen Teilchens ins Freie.

Oft wird der bekannte OperatorH durch mehrere Zusatzterme gleichzeitig gest¨ort, zum Beispiel in der Form

H0 =H+W1+W2.

Falls die einzelnen St¨orungen unterschiedlich”groß“ sind, kann man die zeitunabh¨angige St¨orungstheorie in mehreren Schritten anwenden. Ist etwa W1 die dominante St¨orung, dann berechnet man zuerst die St¨orungen der Eigenwerte und -vektoren von H +W1. Weil W2, wenn es deutlich kleiner ist als W1, die durch W1 bewirkte Aufspaltung nur noch leicht ver¨andern wird, macht es Sinn, W2 als St¨orung vonH+W1aufzufassen und die neuen Korrekturen an Spektrum und Eigenvektoren zu bestimmen. Ist dagegenW2deutlich gr¨oßer alsW1, so beginnt man bei der Berechnung mitW2. Eine solche Reihenfolge, in der verschiedene St¨orungen ber¨ucksichtigt werden, heißt Kopplungsschema. FallsW1undW2ungef¨ahr gleich groß sind, dann muß manW1+W2 in einem Schritt als St¨orung vonH ber¨ucksichtigen. In diesem Fall spricht man von intermedi¨arer Kopplung (zwischen den beiden Kopplungsschemata mit dominantem W1 oderW2).

Welches Kopplungsschema das angemessene ist, h¨angt vom konkreten System ab. In den folgenden Abschnitten werden wir uns mit den Energieniveaus des Hamiltonoperators eines Atoms besch¨aftigen.

Den Atomkern nehmen wir dabei aufgrund seiner sehr viel gr¨oßeren Masse als ruhend an;11der Hilbert-raum zur Beschreibung dernElektronen ist dann

H⊗n,

wobei H=L2(K)⊗U1/2 die Zust¨ande eines einzelnen Elektron beschreibt. (Tats¨achlich spielt nur ein Unterraum von H⊗n eine Rolle, n¨amlich der der antisymmetrischen Tensoren. Darauf werden wir in

11Unter Einbeziehung des Atomkernes w¨urde man auch nicht einen Hamiltonoperator der Form (26) erhalten. Die der Gleichung (3) entsprechende Transformation (x(0): Kern,x(k),k= 1, . . . ,n: Elektronen)

separiert zwar die Schwerpunktsbewegung und macht die Potentiale nur noch von jeweils einer Koordinate abh¨angig, uhrt aber f¨ur die Elektronen zu einem unangenehmen Differentialausdruck. Mittels Jacobikoordinaten ist es m¨oglich, wieder eine Summe von Laplaceoperatoren zu erhalten [Jos69, Abschnitt IV.4], doch h¨angen dann alle Potentiale von allen Relativkoordinaten ab. Zudem ist diese Transformation nicht mit derSn-Wirkung auf dem Elektronenkonfigurationsraum Knvertr¨aglich, so daß sie keine Abbildung inVn

L2(K) induziert.

4.7. St¨orungstheorie 71 Abschnitt 4.10 in Zusammenhang mit der symmetrischen Gruppe Sn zu sprechen kommen. Momentan stehen O(K)- und Spin(K)-Symmetrien im Vordergrund.) Der Atomkern wechselwirkt mit den ihn umgebenden Elektronen ebenso wie die Elektronen untereinander. Wenn wir zun¨achst diese Elektron-Elektron-Wechselwirkung vernachl¨assigen, gelangen wir zum Modell unabh¨angiger Teilchen. In diesem Falle ist der Hamiltonoperator eines neutralen Atoms mitnElektronen von der Form

H(n):=H⊗1⊗ · · · ⊗1 + 1⊗H⊗1⊗ · · · ⊗1 +· · ·+ 1⊗ · · · ⊗1⊗H, (26) wobei

H =HC =− 1

2m∆−ne2 kxk

der Einteilchenoperator unter Vernachl¨assigung der als n¨achstes zu besprechenden Fein- und Hyperfein-struktur ist. (Es kann sinnvoll sein, schon in diesem ersten SchrittHC durch einen anderen OperatorH zu ersetzen, vgl. Abschnitt 4.12.) In unserer Beschreibung sei der Hamiltonoperator erweitert zu

H0=HC(n)+WC+Wf+Whf. Dabei repr¨asentiert der Term

WC =X

k<l

e2 kx(k)−x(l)k die gegenseitige Abstoßung der Elektronen. Der Feinstrukturoperator

Wf =Wγ+WD+WLS

enth¨alt die Terme, die sich als f¨uhrende Korrekturen aus einer relativistischen Theorie auf Grundlage der Dirac-Gleichung ergeben:Wγber¨ucksichtigt die korrekte relativistische Beziehung zwischen Geschwindig-keit und kinetischer Energie, der Darwin-TermWD beschreibt

”nicht-lokale“ Effekte durch Entkopplung der beiden Spinorkomponenten einer L¨osung der Dirac-Gleichung und WLS die Spin-Bahn-Kopplung, die man (bis auf einen Faktor 1/2) auch durch klassische (nichtrelativistische) Argumente herleiten kann. Der HyperfeinstrukturoperatorWhf schließlich nimmt die Wechselwirkungen der Elektronenspins mit dem Kernspin in die Theorie auf. (Daf¨ur muß man zun¨achst den Hilbertraum erweitern, um die Freiheitsgrade des Kern beschreiben zu k¨onnen.) Wie der Name andeutet, ist die durch Whf bewirkte Aufspaltung der Niveaus, die sogenannte Hyperfeinstruktur, deutlich kleiner als die Feinstruktur der Linien, die durchWf verursacht wird. Vergleicht man CoulombabstoßungWC und Feinstrukturoperator, so h¨angt es von der Gr¨oße des Atoms bzw. von dessen Kernladungszahl ab, welcher Term der gr¨oßere ist.

Bei leichten Atomen dominiertWC deutlich gegen¨uberWf, so daß man Wf als St¨orung vonHC(n)+WC

auffassen kann. Dieses Kopplungsschema nennt manLS- oder nach seinen Urhebern Russell-Saunders-Kopplung. Bei schwereren Atomen ist die Spin-Bahn-Kopplung und damit Wf gr¨oßer, aber nicht groß genug, umWC als St¨orung vonHC(n)+Wfrechtfertigen zu k¨onnen. (Ein solches, hier eben nicht realisier-tes Kopplungsschema heißt jj-Kopplung.) Es liegt also ein Fall von intermedi¨arer Kopplung zwischen LS undjj vor.

Die Namen der Kopplungsschemata erkl¨aren sich wie folgt: Der OperatorHC(n)ist selbstadjungierter Morphismus bez¨uglich der Gruppe

O(K)×Spin(K)n

.

(Die Sn-Symmetrie vernachl¨assigen wir. Die Rechtfertigung daf¨ur erfolgt in Abschnitt 4.11.) Bei LS-Kopplung wird durch WC die Symmetrie reduziert auf O(K)×Spin(K), so daß ein minimal entarte-ter Eigenraum von der Form Ul⊗Us ist. Einem solchen, Term genannten Untermodul kann man die Bahndrehimpulsquantenzahll und die Spinquantenzahlszuordnen, die sich jeweils auf die Summe aller Elektronen beziehen.12 Die St¨orung Wf bewirkt dann eine Aufspaltung in Spin(K)-Untermoduln mit verschiedenen Gesamtdrehimpulsquantenzahlen j. Bei jj-Kopplung wird im ersten St¨orungsschritt die Symmetrie auf Spin(K)n reduziert; jedem Elektron kommt eine Gesamtdrehimpulsquantenzahl jk zu.

12Nach einer auf Russell und Saunders zur¨uckgehenden Notation kennzeichnet man Quantenzahlen, die zur Gesamtheit aller Elektronen geh¨oren, durch Großbuchstaben L,S,J etc., im Gegensatz zu den Quantenzahlenl,s,jeines einzelnen Elektrons. Dieser in der Physik ¨ublichen (und sinnvollen) Konvention folge ich nicht, um die Quantenzahlen von den (in dieser Form in der Physik nicht vorkommenden) Drehimpulsoperatoren zu unterscheiden. Ein kleiner Trost liegt darin, daß ich so einige Formeln nicht einmal mit kleinen und danach mit großen Buchstaben aufschreiben und beweisen muß, denn die mathematischen ¨Uberlegungen sind oft unabh¨angig von der physikalischen Interpretation der Gr¨oßen. Zum Zusammenhang mit Orangen vergleiche Mackey in [BL81, S. xxix]

Nach der zweiten St¨orungWf ist wie bei Russell-Saunders-Kopplung nur nochSpin(K) Symmetriegrup-pe. BeiLS-Kopplung setzt sich also der Gesamtdrehimpuls des Systems im letzten St¨orungsschritt aus dem Gesamtbahndrehimpulslund dem Gesamtspinszusammen, beijj-Kopplung aus den Drehimpul-senjk der einzelnen Elektronen.

In den n¨achsten Abschnitten werden Beispiele aus der LS-Kopplung vorgestellt. Dabei beschr¨anke ich mich auf Schritte, die zum einen aus darstellungstheoretischer Sicht besonders interessant sind und zum anderen wichtige qualitative Eigenschaften der Atomspektren beschreiben. Die Ver¨anderung der Energieniveaus durch die CoulombabstoßungWC wird kurz beschrieben, wenn das Periodensystem der Elemente besprochen wird. Vom FeinstrukturoperatorWf ist vor allem die Spin-Bahn-Kopplung WLS

von Bedeutung, da dieser Term f¨ur die Brechung der O(K)×Spin(K)-Symmetrie und damit f¨ur die Aufspaltung der Niveaus verantwortlich ist. Schließlich wird noch der Fall eines Atoms im homogenen Magnetfeld betrachtet.

Literatur: [CT77b, Ch. XI+XIII], [GP91, Sec. 10.7], [Jos69, Abschnitt V.1], [LL66, Kap. 4], [CO80, 92–112]