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Soziale Ungleichheit: Inklusions-/Exklusionseffekte digitalen

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 136-139)

Die durch die Digitalisierung entstehenden neuen Möglichkeiten verändern die Gesellschaft, aber nicht grund-sätzlich die gesellschaftlichen Effekte von sozialer Ungleichheit. Wie in der Jugenduntersuchung zum vorliegen-den Bericht, aber auch in vorliegen-den verschievorliegen-denen Inputsessions der Engagementexpert*innen deutlich wurde, ist auch das Engagementfeld ein durch unterschiedliche Inklusions- und Exklusionseffekte gekennzeichnetes. In erster Linie bestätigen sich, wie es auch bereits der Zweite Engagementbericht oder auch der Freiwilligensurvey (Si-monson et al. 2017) konstatieren, in unserer Untersuchung die bildungsbezogenen Ungleichheiten im gesellschaft-lichen Engagement Jugendlicher. Ob der Hauptschulzweig oder das Gymnasium besucht wird, macht einen ent-scheidenden Unterschied in der Engagementbeteiligung und ist gleichzeitig mit Effekten des sozialen Milieus verknüpft (Calmbach und Borgstedt 2012). Die Möglichkeiten des Digitalen brechen – wie sich gezeigt hat – diesen Zusammenhang jedoch nicht auf, sondern scheinen ihn vielmehr sogar weiter zu verstärken. Dass Digita-lisierung zur Demokratisierung und zu gleichberechtigten Zugängen zum Engagement beiträgt, lässt sich also

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nicht bestätigen und ist mit der Formulierung von der „Digital Divide“ (vgl. auch Norris 2001) bereits pointiert beschrieben.

Grundsätzlich gilt aber mittlerweile für alle Jugendlichen, dass sie nicht nur zu fast 100 Prozent über Smartphone und Internetzugang und zu fast drei Vierteln über eigene Computer oder Laptops verfügen (mpfs 2017), sondern dass sie diese Geräte auch tagtäglich nutzen, um ihren Alltag zu organisieren, zu kommunizieren, sich zu unter-halten und natürlich auch, um sich auszudrücken und ihre Sicht auf die Welt in unterschiedlichen Dimensionen darzulegen. Wie auch unsere Untersuchung gezeigt hat, trennen Jugendliche heute nicht mehr zwischen On- und Offline-Leben, die analoge und digitale Welt sind für sie nicht mehr zwei verschiedene Erfahrungsräume, sondern verschmelzen auf vielfältige und dynamische Weise zu hybriden Räumen. Und die Jugendlichen gestalten diese neuen, entgrenzten Räume, wenn auch unterschiedlich, weitestgehend eigenständig und behaupten sich darin.

Auch Jugendliche und junge Erwachsene füllen das Netz mit Inhalten, sie bloggen, erstellen Videos, kreieren Musik, posten und kommentieren Beiträge in den sozialen Medien oder betreiben eigene Webseiten. Die digitalen Medien stellen für sie zentrale Erfahrungs-, Lern- und Anerkennungsräume dar, sodass heute Bildungs- und Teil-habeerfahrungen immer auch mit Medienerfahrungen verknüpft sind.

Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass Jugendliche sehr unterschiedliche Praktiken des Medienhandelns entwi-ckeln. Die Medienforschung weist hier auf eine vielfältige, kreative und vor allem produktive Mediennutzung durch Jugendliche aus höheren Sozialmilieus und eine eher einseitig unterhaltungsorientierte, passive und kon-sumorientierte Nutzung durch Jugendliche aus unteren Sozialmilieus hin (SINUS-Institut Heidelberg 2014: 100).

Jugendliche haben damit zwar fast alle Zugang zur digitalen Welt, scheinen sich in ihr aber sehr unterschiedlich zu bewegen. Dies gilt im Kontext gesellschaftlichen Engagements und politischer Partizipation insbesondere für höherschwellige Netzaktivitäten, die digitales Know-how und Kreativität erfordern. Diese stehen deutlich im Zu-sammenhang mit den Faktoren Bildungsbeteiligung und soziale Herkunft (BMFSFJ 2017a: 295). Dabei sind es vor allem die männlichen Jugendlichen aus höheren Bildungsmilieus, die bislang als typische digital Engagierte ausgemacht wurden (vgl. auch Wagner und Gebel 2014). Bezogen auf die aktuellen Entwicklungen etwa im Kon-text der Bewegung Fridays for Future wirkt dieses Bild jedoch deutlich gebrochen. Während in dieser Bewegung die Gebundenheit des Engagements an höhere Sozialmilieus erhalten bleibt, erscheint sie nicht nur „weiblich initiiert“, sondern auch verstärkt von weiblichen Aktivisten getragen, die die sozialen Medien intensiv für ihr Anliegen nutzen (Sommer et al. 2019).

Bei der Verflechtung von Digitalem und Engagement zeigt sich, dass Jugendliche aus niedrigeren Bildungswegen sich weniger zutrauen, die Möglichkeiten von digitalen Medien für das Engagement zu nutzen und mutmaßlich auch weniger Chancen erhalten, durch gezielte Ansprache (etwa in der Schule) begeistert zu werden. Eine Son-derstellung nehmen dabei die eher niedrigschwelligen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken ein, die unter-schiedliche Arten von Aktivitäts- und Informationskanälen, wie Informationsseiten, Chats, Foren etc., integrieren (Wettstein 2012). Das Teilen, Weiterleiten oder Kommentieren von Posts, Videos oder Bildern (siehe Kapitel 3.1.1) ermöglicht es, sich auf eher niedrigschwelligem Niveau am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen und aktiv Selbstpositionierungen vorzunehmen. Hier sind – zumindest, was die Form betrifft – die Differenzen zwi-schen Jugendlichen aus unterschiedlichen Bildungswegen deutlich geringer. Durch eine Abwertung als „Slackti-vism“ oder den Verdacht der Normverletzung bezogen auf die Inhalte der Aktivitäten werden sie jedoch nicht als milieuspezifischer Ausdruck von Kritik und in ihrem Potenzial für mögliche Anschlüsse anerkannt, sondern eher aus einer bildungsbürgerlichen Perspektive heraus entwertet (Thomas 2012: 334).

Die Suche nach Bedingungsfaktoren der beschriebenen sozialen Ungleichheiten im (digitalen) Engagement darf jedoch nicht bei individuellen Merkmalen wie der besuchten Schulform, individuellen Interessen oder Selbstwirk-samkeitsüberzeugungen stehen bleiben. Weniger Zeit, weniger familial oder Peer-vermittelte Zugänge, weniger aktive Ansprache über die Schule, die Vereine oder die Jugendarbeit sind weitere gewichtige Gründe, die damit eng verwoben sind. Gerade im Hinblick auf politisches Engagement bilden auch milieubezogene Sprachbarrieren immer wieder einen gewichtigen Faktor dafür, dass Jugendliche aus niedrigeren Bildungswegen keinen Zugang finden und ihre Selbstwirksamkeit in diesem Bereich als minimal einschätzen (Arnold et al. 2011). Pointiert aus-gedrückt: Hashtag-Bewegungen und Initiativen wie Fridays for Future, Online-Petitionen und Partizipationskam-pagnen im Internet sind akademische Engagements, geführt von jenen, für die (Bildungs-)Sprache ein alltägliches Medium darstellt. Es handelt sich damit um bildungsexklusive Strömungen.

Studien zur Aktivierung der Jugendlichen aus niedrigeren Bildungswegen mittels Schulprojekten zeigen jedoch, dass nicht die Motivation, sondern in erster Linie die Möglichkeiten des Zugangs ein Hemmnis darstellen und hier Potenziale für eine Inklusion dieser Jugendlichen in das Feld des gesellschaftlichen Engagements bestehen (Reinders 2014).

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6.3 Digitalisierung als Gegenstand von Engagement

Auch wenn die Art der Mediennutzung in Abhängigkeit von Bildungswegen variiert und Exklusionseffekte deut-lich zu sehen sind, schaffen die sozialen Netzwerke Raum für neue Teilhabe- und Bildungserfahrungen und lassen eine spezifische Kultur des Engagements entstehen, wie den vorangegangenen Kapiteln zu entnehmen ist. Zu den besonderen Aspekten der neuen zeitgenössischen Engagementkultur gehört auch, dass die Digitalisierung selbst zum Gegenstand von Engagement wird. Wie das Engagement für internetspezifische Themen und die Realexpe-rimente im Civic Tech (siehe Kapitel 3) zeigen, ist vielen Engagierten bewusst, dass wir in einer technisch ge-prägten Gesellschaft leben. In dieser hängt die Zukunft des Miteinanders auch und gerade von digitalen Infra-strukturen und Werkzeugen ab: vom Design von Algorithmen, der Struktur von Plattformen oder dem Umgang mit Daten. Deren Gestaltung ist somit nicht nur eine technologische, sondern eine immanent gesellschaftliche Frage (Callon et al. 2011).

Die digitale Verfasstheit der Gesellschaft ist daher nicht allein als staatliche oder privatwirtschaftliche Aufgabe zu betrachten, sondern auch als Ansatzpunkt zivilgesellschaftlichen Engagements. Hier entstehen aktuell zahlrei-che neue Formate und Handlungsansätze; hier sind viele junge Menszahlrei-chen aktiv und verbinden technologiszahlrei-ches Know-how mit gemeinwohlorientiertem Denken und Handeln. In vielen Open-Source- und Civic-Tech-Commu-nitys, in Hacker- und Makerspaces, in Fablabs und offenen Werkstätten geht es nicht nur um das Design neuer technischer Produkte, sondern auch um die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Alternativen mit und durch diese technischen Werkzeuge. Es entsteht ein neuer Engagementbereich, der Digitalisierung nicht nur nutzt, sondern selbst zum Thema hat. Dieser wird durch die Kraft der kollektiven Intelligenz, die sich aus geteiltem Wissen und Erfahrung speist, maßgeblich geprägt. In diesem Prozess sind individuelle Akteur*innen gleichermaßen involviert wie lose Netzwerke oder Engagement-Organisationen. Während bislang vorherrschend diskutiert wurde, wie En-gagierte von der Digitalisierung betroffen sind, zeigt sich nun, dass diese ebenso auf den digitalen Wandel ein-wirken, die Digitalisierung und das Zusammenleben in einer digitalen Welt aktiv mitgestalten und dabei die Vor-züge digitaler Technologien nutzen.

Betrachtet man die jüngere Geschichte der Engagement-Organisationen, so zeigt sich, dass eine wachsende An-zahl die Relevanz der Digitalisierung erkennt, ihre Kompetenzen in Bezug auf den Einsatz digitaler Technologien ausbaut oder Digitalisierung sogar als Führungsaufgabe in der Organisation verankert (Rasmussen 2019: 82). Wie die in Kapitel 4 gebildeten Typen der Engagement-Organisationen veranschaulichen, weist das digitale Engage-ment eine große Vielfalt auf. Ein Handlungsschwerpunkt betrifft inzwischen die Digitalisierung selbst.

Ein Beispiel solchen Engagements ist der Verein Digitale Gesellschaft, der sich für Grundrechte und Verbrau-cher*innenschutz im Bereich der Netzpolitik engagiert. Mit der konstruktiven und kreativen Mitgestaltung der sich durch die Digitalisierung verändernden Zivilgesellschaft befasst sich D64 – Zentrum für Digitalen Fort-schritt e. V. Etwas spezifischer – jedoch gleichermaßen dem ersten Schwerpunkt zuzuordnen – ist dagegen das Engagement gegen Hassrede im Netz, wie es von Initiativen wie #ichbinhier oder der Amadeu Antonio Stiftung initiiert wird.

Ein zweiter Schwerpunkt beschreibt Engagierte, die die Zivilgesellschaft darin unterstützen, im Umgang mit di-gitalen Themen handlungsfähiger zu werden. Das internationale Festival digitaler Internetkultur TINCON hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, jungen Menschen Mut zu machen, „die vernetzte Gesellschaft aktiv mitzugestal-ten“ (TINCON o. J.), und arbeitet bei der Themenkuratierung, Programmplanung und Organisation eng mit der Zielgruppe zusammen. Einen ähnlichen Schwerpunkt haben die Open Knowledge Foundation Deutschland und der Verein für Medienbildung mediale pfade.org: Mit ihrem Projekt Jugend hackt haben sie einen Hackathon für Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren zur Förderung des Programmiernachwuchses ins Leben gerufen.

Freifunk-Vereine, die sich bundesweit dafür einsetzen, eine offene WLAN-Infrastruktur aufzubauen, engagieren sich für eine gemeinschaftliche digitale Infrastruktur und dafür, dass von ebendiesen Entwicklungen die breite Gesellschaft profitiert.

Im Bereich der Engagement-Organisationen deutet die Entstehung von Vereinen, Stiftungen und gGmbHs, die sich für Digitalisierung engagieren, auf die langfristige Entstehung eines organisationalen Feldes hin. Der Stifter-verband fördert beispielsweise mit Publikationen wie „digital.engagiert: Denkanstöße zur Digitalisierung der Zi-vilgesellschaft“ und Aktionsprogrammen wie Future Skills die Digitalisierung, indem wissenschaftliche Erkennt-nisse geteilt und Hilfestellungen für die Zivilgesellschaft bereitgestellt werden. Solche Felder müssen keinesfalls nur aus neuen Organisationen entstehen, denn neben jungen Organisationen beteiligen sich auch schon lang be-stehende Verbände. Allerdings zeigen sich jüngere Organisationen im Schnitt sehr viel technologieaffiner als bereits im 20. Jahrhundert gegründete (Dufft und Kreutter 2018: 110).

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Damit organisationale Felder langfristig bestehen können, müssen sie sich durch Institutionen wie etwa kulturelle Gemeinsamkeiten, Begegnungsformen oder Förderrichtlinien stabilisieren. Insofern kann die Politik durch ent-sprechende Unterstützungsmaßnahmen, aber auch durch die Anerkennung des digitalen Engagements einen Bei-trag leisten (siehe Kapitel 3.3). Die Berücksichtigung von Digitalisierung als Engagementbereich, beispielsweise im Freiwilligensurvey, kann den Stellenwert des digitalen Engagements als besonderen Bereich für das Gemein-wohl untermauern.

Die Etablierung eines Engagementbereichs, der sich mit der Digitalisierung und dem Zusammenleben in der di-gitalen Welt beschäftigt, bedeutet in vielfacher Hinsicht eine Bereicherung für die Zivilgesellschaft: Das digitale Engagement trägt zur Steigerung der Medien- und Informationskompetenz von Bürger*innen bei, es fördert die Vielfalt technischer Lösungen und Dienstleistungen und es eröffnet auf diese Weise neue Erfahrungshorizonte auch jenseits populärer Plattformen. Dadurch entstehen in einem neuen Engagementbereich auch neue Perspek-tiven für demokratische Bildungsprozesse.

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