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Schwärme, Netzwerke, Organisationen und Gemeinschaften

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 89-94)

Haben wir bisher den Fokus auf neue (digitale) Praktiken gelegt, so liegt der Fokus im folgenden Abschnitt auf der Herausarbeitung von vier Idealtypen der heutigen Organisationsformen gesellschaftlichen Engagements: dem Schwarm, dem Netzwerk, der Gemeinschaft und der Organisation.

ORGANISATIONSFORMEN GESELLSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS

Abbildung 19: Vier Idealtypen der Organisationsformen gesellschaftlichen Engagements (Quelle: eigene Dar-stellung)

Die Typisierung erfolgt in Anlehnung an die Methode der sozialwissenschaftlichen Typenbildung (vgl. Kluge 2000; vgl. Kelle und Kluge 2010) und basiert auf den Datengrundlagen des Youth-Policy-Labs-Gutachtens, der Inputs der Expert*innen sowie der sozialwissenschaftlichen Literatur zum Thema. Definiert werden diese Ideal-typen durch die Kombination von vier Merkmalen des Engagements. Diese beschreiben

– die dem Engagement zugrunde liegende Organisiertheit/Koordinationsstruktur42,

42 Bezüglich der dem Engagement zugrunde liegenden Organisiertheit/Koordinationsstruktur haben wir Fragen an die Fallbeispiele gestellt wie: Wie organisiert, geplant, koordiniert (durch Dritte) ist das Engagement? Verläuft es in immer ähnlichen Ablaufschritten? Wie wiederhol- bzw. reproduzierbar ist es? Ist das Engagement planbar oder findet es spontan/ad hoc statt?

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– das vom Engagement ausgehende kollektive Bewusstsein bzw. die Identifikation, die es bietet43, – die zeitliche Dimension des Engagements44 sowie

– die inhaltliche und strukturelle Komplexität des Engagements45.

Durch das Anlegen einer Mehrfeldertafel (siehe Abbildung 20) erhielten wir einen Überblick über sämtliche Kombinationsmöglichkeiten der theoretisch denkbaren Merkmale (vgl. Kluge 2000: 3).46 Die Idealtypen unter-scheiden sich dann durch die unterschiedlich intensive Ausprägung dieser Merkmale voneinander. Diese Linea-rität der Merkmalsintensitäten lässt sich natürlich nicht für alle Fallbeispiele neuen Engagements feststellen. Viel-mehr zeigt sich, dass die empirischen Fälle oftmals quer zu den Idealtypen liegen, etwa weil sie verschiedene Aspekte kombinieren (es sich also etwa um Organisationen handeln, die Schwärme mobilisieren) oder weil sie sich im Zeitverlauf ändern (etwa in Richtung höherer formaler Organisiertheit). Deshalb gilt für die hier vorlie-gende Typologie das Gleiche wie für die dreiteilige Typologie von „connective and collective action networks“

nach W. Lance Bennett und Alexandra Segerberg:

The real world is of course far messier than this three-type model. In some cases, we see action formations corre-sponding to our three models side by side in the same action space [...] In still other action cycles, we see a movement from one model to another over time. (2012: 758)47

Die analytische Stärke der Idealtypen wird damit aber nicht geschwächt; vielmehr erlauben sie genau diese Diag-nosen von Heterogenität oder von Wandel gerade erst und können so als Interpretationshilfen für die Analyse konkreter Fälle dienen.

MERKMALE VON ORGANISATIONSFORMEN DES ENGAGEMENTS

Abbildung 20: Mehrfeldertafel, aus der die unterschiedlichen Merkmalsintensitäten ablesbar sind (Quelle: eigene Darstellung)

Im Folgenden werden die vier hier herausgearbeiteten Idealtypen neuen digitalen Engagements vorgestellt.

43 Bezüglich der dem Engagement zugrunde liegenden Identifikation/dem kollektivem Bewusstsein haben wir Fragen an die Fallbeispiele gestellt wie: Wie sehr nehmen engagierte Individuen andere Engagierte wahr? Wie sehr definieren die engagierten Personen sich über ihr Engagement auch miteinander? Stiftet das Engagement kollektiven Gemeinsinn?

44 Bezüglich der dem Engagement zugrunde liegenden zeitlichen Dimension haben wir Fragen an die Fallbeispiele gestellt wie: Wie lange dauert das Engagement an? Ist es nach einer Aktion abgeschlossen oder wird es über längere Zeit ausgeübt?

45 Bezüglich der dem Engagement zugrunde liegenden Komplexität haben wir Fragen an die Fallbeispiele gestellt wie: Beinhaltet das Engagement mehrere verschiedene Aufgaben oder ist es nach einer Handlung abgeschlossen? Wie komplex sind diese Aufgaben/Hand-lungen?

46 Um eine optimale Vergleichbarkeit zu gewährleisten, haben wir für alle Merkmale drei möglichst ähnliche Intensitätsstufen festgelegt, angelehnt an die Erkenntnisse aus dem Youth-Policy-Labs-Gutachten. Im Sinne der Erarbeitung von Idealtypen als gewinnbringendem Analysevorgang sind diese Intensitätsstufen natürlich vereinfacht ausgewählt; im Grunde sind viele Fallbeispiel wie auf einer Skala frei beweglich zwischen den Polen „lose“ und „stark“.

47 Auch das Youth-Policy-Labs-Gutachten belegt sowohl die gleichzeitige Zuordenbarkeit von Fallbeispielen zu allen vier Typen als auch die Möglichkeit der alle Typen durchlaufenden Entwicklung eines Fallbeispiels. Als prominentes Beispiel kann hier etwa Fridays for Future herangezogen werden. Hier haben sich schnell parallel zu Hashtag und großen Straßendemonstrationen Kernteams herausgebil-det, die zu bestimmten Teilbereichen eng und permanent in Kontakt stehen (vgl. Youth Policy Labs 2019). Es erscheint plausibel, dass sich das Engagement eines Kernteammitglieds in seinen Merkmalen in vielen Bereichen stark von dem einer*s (ausschließlich) De-monstrierenden oder Postenden von Beiträgen in sozialen Medien unter #fridaysforfuture unterscheidet.

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3.2.1 Idealtyp I – Schwarm

Abbildung 21: Visualisierung des Idealtyps Schwarm (Quelle: eigene Darstellung)

Eines der herausstechenden Merkmale des kollektiven Handelns im Internet ist die Bedeutung von volatilen und gleichwohl potenziell enorm wirkmächtigen Formen der Aggregation von Individuen. Solche Aggregationen kommen mitunter ohne formale Organisationsstrukturen aus. Sie nutzen vielmehr vorhandene Infrastrukturen des Netzes (Dolata und Schrape 2016). In ihrer einfachsten Form kann es sich dabei um Aggregationen handeln, die aufgrund individueller und nichtkoordinierter Handlungen Einzelner auftreten. Bürger*innen können etwa unab-hängig voneinander beschließen, eine Geldspende für einen wohltätigen Zweck zu tätigen oder Produkte aus po-litischen Gründen zu boykottieren. Solche Praktiken sind – für sich betrachtet –freilich kein originäres Merkmal des digitalen Raums. Sie waren und sind auch offline möglich. Das Internet senkt jedoch zunächst einmal die Zugangshürden für entsprechende Aktivitäten: Erstens ist es für jede*n Einzelnen einfacher als zuvor, Zugang zu Informationen aller Art zu erhalten. Damit ist es nun auch wesentlich leichter, sich über gesellschaftliche Prob-leme und Missstände, politische Anliegen und diesbezügliche Handlungsmöglichkeiten zu informieren. Zweitens bietet das Netz vielfältige Möglichkeiten, selbst etwas mitzuteilen und aktiv zu werden. Hierfür bieten heute ins-besondere sozial-mediale Plattformen einen Raum. Tatsächlich wäre es aber höchst unzureichend, die Funktion des Netzes nur unter dem Gesichtspunkt gesenkter Zugangshürden zu betrachten. Gerade für die Fragen des bür-gerschaftlichen Engagements ist entscheidend, dass die Handlungen Einzelner durch das Internet nun auch viel leichter öffentlich werden können.

Mit dem Internet hat ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit stattgefunden. Translokale Öffentlichkeit wird nun nicht mehr nur durch die klassischen Massenmedien hergestellt, die nach dem Modus „one-to-many“ operie-ren. Soziale Medien stellen vielmehr eine Kommunikation im Modus „many-to-many“ technisch bereit und insti-tutionalisieren diese sozial (Münker 2009). Das Netz schafft damit auch und gerade neue Bedingungen der wech-selseitigen Beobachtung: Jemand beginnt online etwas zu tun, andere beobachten diese Handlung und reagieren darauf – imitierend, variierend, zustimmend oder sich abgrenzend. Diese wechselseitige Beobachtung führt dazu, dass sich mediatisierte Formen des kollektiven Handelns herausbilden, die zuvor auf eine körperliche Kopräsenz angewiesen waren. Einzelne Personen und Ereignisse erregen Aufmerksamkeit, zunächst vielleicht nur die von wenigen, und schaffen so Anknüpfungspunkte für andere Personen. Man beginnt sich aneinander zu orientieren und setzt gegebenenfalls einen sich selbst verstärkenden sozialen Prozess in Gang. Dies geschieht etwa auf sozial-medialen Plattformen durch das Sharing medialer Inhalte. Wir wollen Formen des Engagements, welche digitale Infrastrukturen in dieser Form nutzen, als Schwärme bezeichnen.

Wie Eva Horn feststellt, ist die „Logik des Schwarms […] eine Logik der Selbstorganisation und der Selbststeu-erung. Sie impliziert damit andere Begriffe der Einheit, andere Formen der Kohäsion, andere Modi der Kontrolle und andere Formen der Teleologie“ (2009: 10). Schwärme „funktionieren ohne zentrale Steuerung, allein durch die Kooperation einzelner Agenten, die lokal miteinander interagieren und einander gleichgeordnet sind (auch wenn ihre Funktionen stark ausdifferenziert sein können, wie etwa in der Arbeitsteilung von Ameisen)“ (ebd.).

Aus einzelnen Individuen wird ein Schwarm ohne zentrale Anweisung, ohne eine Einheit oder eine*n Repräsen-tant*in, der/die überwacht und kontrolliert. Dennoch sind die Handlungen von Schwärmen zielgerichtet, motiviert und sinnhaft. Eugene Thacker fasst dies als das Paradoxon des Schwarms zusammen (2004).

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Schwärme sind charakterisiert durch ein nur schwach verbundenes, aggregiertes Handeln Einzelner, die durch die Öffentlichkeit des Netzes aufeinander Bezug nehmen können. Dieser niedrigschwellige Typus des Engagements zeichnet sich durch seine Einfachheit, seine geringe Verbindlichkeit sowie die Möglichkeit zur extrem kurzfristi-gen Aktivität aus. Ein einzelner Post, das Teilen einer Nachricht, der Klick auf einen Button, der einen beispiels-weise zum „Jetzt spenden“ auffordert (wie im Falle von betterplace.org) oder zum „Petition unterschreiben“ (wie im Fall von change.org) genügt, um sich für eine Sache symbolisch, kommunikativ und gegebenenfalls materiell einzusetzen. Die potenzielle Wirkmächtigkeit solcher Aktivitäten liegt in der Aggregation des Handelns vieler unter Abwesenheit gesteuerter Koordination. Generell ist „die Entwicklung von Schwarm-Verhalten schwer an-tizipierbar, denn seine Dynamik oder seine Effekte sind nicht linear, sondern exponentiell. Plötzlich ist ein Effekt da, wo vorher lange nur unzielgerichtetes Gewimmel zu beobachten war“ (Horn 2009: 13). Dabei sind insbeson-dere (Kultur-)Techniken bedeutsam, die es ermöglichen, Referenzen und Verknüpfungen herzustellen. Das klas-sische digitale Werkzeug dafür ist der Hyperlink. Eine zeitgenösklas-sische Methode, die erst seit rund zehn Jahren verwendet wird, ist die Nutzung von Hashtags (#).

3.2.2 Idealtyp II – Netzwerk

Abbildung 22: Visualisierung des Idealtyps Netzwerk (Quelle: eigene Darstellung)

Dies führt uns zum nächsten Idealtyp, den wir als Netzwerk bezeichnen. Im Vergleich zum ersten Typ steigen der Organisationsgrad der Aktivitäten sowie ihre zeitliche Stabilität. Häufig funktioniert ein Netzwerk dabei ohne einen zentralen, versammelnden Akteur.

In den Strukturen dieser Versammlungen ohne formale Leitung, in der Leichtigkeit, mit der Menschen zwischen der Rolle der Sprechenden und der Zuhörenden wechseln können, und in der Art und Weise, wie sämtliche Diskussionen über das Internet oder Protokolle öffentlich gemacht werden, spiegelt sich eine mittlerweile weitverbreitete Internet-kultur der Transparenz und der flexiblen Beteiligung wider (2014: 24),

so Felix Stalder. Solche Netzwerke werden insbesondere durch sogenannte schwache Bindungen (vgl. Granovet-ter 1973) zusammengehalten. Diese schwachen Bindungen lassen laut Stalder „viel Raum selbst für größere Dif-ferenzen“ zwischen den Akteuren, da es nicht darum ginge, „immer einer Meinung zu sein oder tiefgründiges Wissen miteinander zu teilen“ (2014: 29). Stalder betont, dass es durch das Internet bedeutend einfacher geworden sei, viele schwache Bindungen mit geringem Aufwand einzugehen und aufrechtzuerhalten:

Die Pflege von umfassenden Netzwerken war früher – allein aufgrund der dafür benötigten Infrastruktur – ein kost-spieliges Privileg der Eliten und vollzog sich auf internationalen Tagungen und Konferenzen, mittels Clubmitglied-schaften und speziell für diesen Zweck eingestelltem Personal. In quantitativer Hinsicht hat hier eine Demokratisie-rung stattgefunden. (2014: 30)

In Bezug auf zivilgesellschaftliches Engagement kann diese Feststellung bedeuten, dass das Internet es ermög-licht, häufiger, stärker oder auch diverser engagiert zu sein. Wenn man nicht zu jedem wöchentlichen Stammtisch jeder Initiative oder Gruppierung, mit deren Zielen man sich identifiziert und für die man sich einsetzen will, physisch anwesend sein muss, wird Engagement orts- und zeitungebunden und damit einfacher.

Im Vergleich zum ersten Typ steigt der Organisationsgrad der Aktivitäten und ihre zeitliche Stabilität jedoch nicht immer zwingend auf der Seite der Bürger*innen, die sich beteiligen, sondern häufig auch nur bei den Projekten, an denen sie sich beteiligen. Netzwerke erlauben so die Bewältigung von hoher Komplexität, ohne dass diese Komplexität für die Einzelnen sichtbar werden muss. Das kommt prägnant im Crowdsourcing zum Ausdruck:

Die mit Crowdsourcing geschmiedeten Netzwerke haben idealtypisch einen zentralen Akteur in ihrem Zentrum,

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der mit allen weiteren Punkten des Netzwerks verbunden ist, während die Beziehungen der übrigen Akteure un-tereinander schwach sein oder völlig fehlen kann. Verteiltes Handeln von Netzwerken, wie wir sie etwa in der Commons-based Peer Production finden, ist hingegen multipler und mit zahlreichen lateralen Verbindungen aus-gestattet. Solche Netzwerke stehen vor der Herausforderung, Anschlussfähigkeit herzustellen und zu erhalten, Beteiligte zu motivieren und motiviert zu halten.

3.2.3 Idealtyp III – Organisation

Abbildung 23: Visualisierung des Idealtyps Organisation (Quelle: eigene Darstellung)

Formale Organisationen sind der etablierte Fall, mit dem sich Engagementhandeln strukturiert. Sie besitzen typi-scherweise eine eigene Rechtsform, eigene Regelwerke und greifen arbeitsteilig auf gemeinsame Ressourcen zu (vgl. Abraham und Büschges 2004: 21, Erstauflage 1983). Beispiele für Engagement-Organisationen sind vorran-gig Vereine, Stiftungen oder auch gemeinnützige GmbH (vgl. Priemer et al. 2017: 51). Auch Bennett und Seger-berg stellen heraus, dass „most formal organizations are centered (e.g. located in physical space), hierarchical, bounded by mission and territory, and defined by relatively known and countable memberships“ (2012: 759).

Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Engagement-Organisationen erfolgt weiter unten in Kapitel 4, Die Di-gitalisierung der Engagement-Organisationen.

3.2.4 Idealtyp IV – Gemeinschaft

Abbildung 24: Visualisierung des Idealtyps Gemeinschaft (Quelle: eigene Darstellung)

Die drei zuvor genannten Typen sind vor allem durch ihre strukturelle Organisiertheit charakterisiert. Anders sieht es beim letzten hier präsentierten Idealtyp aus: der (Online-)Gemeinschaft. Diese ist nicht durch strukturelle, son-dern kulturelle Muster geprägt. Hier spielen keine organisierten Handlungsdynamiken, sonson-dern Werthaltungen und Identifikationsformen die entscheidende Rolle. Gemeinschaften waren immer schon ein zentrales Thema der sozialwissenschaftlichen Erforschung des Digitalen. Gerade in der Anfangszeit des Internets kreisten viele De-batten um die Frage, wie sich die digitale Sphäre auf Gemeinschaftlichkeit auswirkt, ob sie bestehende gemein-schaftliche Bande schwächt, stärkt oder transformiert (Wellman et al. 2002) oder gar zu gänzlich neuen Formen virtueller Gemeinschaften führen kann (Rheingold 1993). Mittlerweile scheint klar, dass diese frühen Überlegun-gen noch stark von einer Denkweise geprägt waren, welche die analoge Welt und ihre etablierten Gemeinschaften von der digitalen Welt geschieden hielt. Heute werden offline erwachsene Gemeinschaften ganz selbstverständ-lich (auch) online gepflegt, und „virtuelle“ Gemeinschaften können ins Analoge übergreifen. Gemeinschaftselbstverständ-lich- Gemeinschaftlich-keit zeichnet sich durch affektive soziale Beziehungen von Akteuren untereinander aus, durch geteilte Werte und

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– 92 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode eine kollektive Identität. Gemeinschaften sind, kurz gesagt, durch ein Wir-Gefühl charakterisiert, dass kommuni-kativ zum Ausdruck gebracht wird (Dickel 2011).

Gemeinschaften müssen nicht durch persönliche Begegnungen oder freundschaftliche Kontakte charakterisiert sein. Anderson (1983) spricht von „imagined communities“, um etwa die Konstruktion nationaler Gemeinschaf-ten zu beschreiben, bei denen sich Menschen im Spiegel der Medien als Teil einer großen Einheit wahrnehmen können. Eben dieses Phänomen einer medial hergestellten Gemeinschaftlichkeit lässt sich auch im digitalen Raum beobachten. Im Kontrast zur massenmedial geprägten Moderne, in der man translokale Gemeinschaft nur indirekt über Zeitung, Radio und Fernsehen erfahren konnte („one-to-many“), erlauben die partizipativen Medien der di-gitalen Gesellschaft aber auch medial vermittelte Interaktionen mit anderen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg („many-to-many“) (Gruzd et al. 2011).

Gemeinschaften – und insbesondere medial vermittelte Gemeinschaften – müssen nicht durch Tradition und Her-kunft verbunden sein. Bindung und kollektive Identität können auch durch geteilte Interessen, die Begeisterung für eine Marke, den Glauben an eine Leitidee (etwa: Freie Software) oder gemeinsame politische Ziele erfolgen.

Bei allen Unterschieden in ihrer Ausrichtung sind ihre übergreifenden Kennzeichen eine über Ad-hoc-Aktivitäten deutlich hinausgehende Fokussierung auf ein Thema und die Entwicklung einer Gruppenidentität mit geteilten Grundsätzen, Sichtweisen oder Expertisen unter den aktiven Gemeinschaftsteilnehmern, die ohne den Unterbau aus-geprägter formaler Organisationsstrukturen gemeinsame Projekte verschiedenster Art betreiben – vom professionel-len Austausch bis hin zur kollaborativen Entwicklung von Produkten und Inhalten. (Dolata und Schrape 2018: 23)

Für Engagement gilt Gemeinschaftlichkeit als zentraler Faktor, sei es als eines der Motive, sich zu engagieren, sei es als Klebstoff sozialer Beziehungen von Engagierten. Schwärme, Netzwerke und formale Organisationen können sich aber auch ohne starke wechselseitige Bindungen entwickeln und handlungsfähig sein: Man muss mit Personen, mit denen man ein Anliegen auf sozialen Medien teilt oder mit denen man ein Projekt durchführt, nichts gemeinsam haben. Gemeinschaftlichkeit ist etwas, was bei solchen Formen des gemeinsamen Tuns hinzutreten kann, aber nicht muss. Gerade aber bei loseren Netzwerken ohne klare Rollenstruktur kann der Klebstoff der Gemeinschaftlichkeit gleichwohl essenziell sein, um Personen auf Dauer engagiert zu halten.

Gerade bei den Fällen des jungen digitalen Engagements spielt Gemeinschaftlichkeit oft eine maßgebliche Rolle, wie das Youth-Policy-Labs-Gutachten zeigt:

YOUTH-POLICY-LABS-GUTACHTEN

„Zum einen entstehen Formen von Online-Gemeinschaften, die trotz der Abwesenheit formaler und meist auch informeller organisatorischer Strukturen einen starken Zusammenhalt aufweisen. Dies können reine Online-Gemeinschaften sein [...] oder verwobene Online-Offline-Gemeinschaften. Das Gutachten betont da-bei insbesondere die Bedeutung von Online-Gemeinschaften für Personen, die von Diskriminierung betrof-fen sind und sich im digitalen Raum neue individuelle wie kollektive Handlungsmöglichkeiten erobern.

Diese Gemeinschaften sind emotional getragen und durch den Austausch über erlebte Benachteiligung ge-prägt, und haben ihren Mehrwert im gemeinsamen Umgang mit diesen Benachteiligungen.“ (Youth Policy Labs 2019: 60)

3.3 Digital vernetzte Jugend: Thematische Neuorientierungen und Spannungsfelder

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