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Digital vernetzte Jugend: Thematische Neuorientierungen und

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 94-97)

die Arten und Weisen des Umgangs mit ihnen.

Erstens werden neue Themen erschlossen, die sich vor der Digitalisierung gar nicht gestellt haben. Insbesondere für junge Menschen ist das Digitale ein selbstverständlicher Teil der Lebenswelt, der nicht allein von Politik und Wirtschaft gestaltet werden sollte. Neben Civic Tech (s.o.) ist hier das breite Feld der Netzpolitik zu nennen. Rund um das Internet haben sich in jüngster Zeit insbesondere um Diskussionen zu einem modernen Urheberrecht und der Meinungsvielfalt im Netz breite Debatten entzündet. Auch die Themen Leistungsschutzrecht, Netzneutralität oder die Regulierung von Algorithmen (siehe etwa Algorithm Watch) haben zu netzpolitischen Initiativen geführt.

Weil sich junge Engagierte von den politischen Akteuren bei diesen Themen oft unverstanden fühlten, werden hier neue Ansätze gefordert und erprobt. Engagement zu diesen neuen Politikansätzen für das digitale Zeitalter finden sich unter anderem im Umfeld der TINCON, der ersten Teenage Internet Convention (Youth Policy Labs

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2019: 18–20),48 oder OPIN als einer neu entwickelten Plattform für internetbasierte Jugendbeteiligung in Europa (Youth Policy Labs 2019: 28–30)49.

Zweitens werden durch die Vernetzung mit Gleichgesinnten und/oder der möglichen Anonymität digitaler Medien Themen verhandelbar, die sonst womöglich im privaten Erfahrungsraum verharrt hätten. Eine besondere Rolle spielt hier etwa die Frage nach der geschlechtlichen Vielfalt (Gender Diversity), die von jungen Menschen adres-siert wird und digitales Engagement inspiriert. Das Trevor Project50 ist ein Beispiel dafür (Youth Policy Labs 2019: 53–55). Dabei handelt es sich um ein Selbsthilfeprojekt von LGBTQI*-Jugendlichen, das unter anderem Notfallberatung bei Selbstmordgefahr anbietet. Durch den anonymen Austausch finden hier Jugendliche im Netz eine angemessene Plattform, um Fragen der sexuellen Orientierung, der eigenen Identität und individueller Krisen in einem geschützten Raum verhandeln zu können. Ein weiteres Thema sind junge feministische Bewegungen, die sich für mehr Inklusion und Vielfalt in der Programmierung und dadurch in der Entwicklung von Technolo-gien einsetzen. Girls Who Code51 ist dafür ein Beispiel, eine von jungen Frauen gegründete Nichtregierungsorga-nisation, die mittlerweile für mehr als 90.000 Mädchen und junge Frauen Programmierkurse durchgeführt hat (Youth Policy Labs 2019: 46–49). Die Vernetzung ist erst durch digitale Medien möglich geworden und zeigt das Potenzial von Aktivistinnen, die zum einen besonders durch Hassrede und sexualisierte verbale Gewalt im Netz die Schattenseiten erleben, zum anderen jedoch Netzwerke von Aktivistinnen aufbauen, die sich für die Förderung von Frauen in der Technikentwicklung starkmachen.

Drittens werden gesellschaftlich bereits vertraute Themen neu und radikaler adressiert, indem Jugendliche sie als ihre Themen besetzen. Dies wird am Beispiel der Bewegung Fridays for Future deutlich: Initiiert von einer ein-zelnen jungen Frau, Greta Thunberg, hat sich innerhalb kurzer Zeit eine globale Bewegung junger Aktivist*innen entwickelt, die ein gemeinsames Anliegen haben: den Klimaschutz. Die Vernetzung der Bewegung findet über soziale Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram statt. Sie hat es ermöglicht, die freitags von Schüler*innen lokal organisierten lokalen Proteste medial in vielen Ländern zu verbreiten. Soziale Medien sind damit sowohl zentral für die Reichweite als auch für die Vergewisserung der eigenen Selbstwirksamkeit der Bewegung, indem weltweite Proteste als Motivator des individuellen Engagements wirksam werden. Untergruppen bilden sich auf regionaler und überregionaler Ebene aus. Die Bewegung vereint damit Organisationsformen von Schwarm und Netzwerk mit einer Inszenierung globaler Gemeinschaftlichkeit.

Haltung und Rhetorik der Bewegung werden ergänzt durch eine Artikulation von Kritik, die auf einen grundle-genden Interessenkonflikt und auf eine kulturelle Entfremdung zwischen den Generationen hindeutet. Diese Be-schreibung eines Generationenkonflikts ist laut Sommer et al. zwar „übertrieben“, allerdings dürfe „die Bedeutung solcher Auseinandersetzungen für die Entwicklung eigener Positionen und politischer Handlungsmotivation von Kindern und Jugendlichen nicht vergessen werden“ (2019: 22). Die Differenz „jung vs. alt“, ist in Selbst- und Fremdbeschreibungen von Fridays for Future außerordentlich wirkmächtig. Sie durchzieht Themen, Zielsetzun-gen und Praktiken. Der unterstellte Generationenkonflikt birgt ein großes Konfliktpotenzial aufgrund der Wahr-nehmung von Unverständnis und mangelnder gegenseitiger Akzeptanz, sodass eine konstruktive Befruchtung beider Seiten mit immensen Hürden verbunden ist. Die Differenz „jung vs. alt“ ist freilich ein wiederkehrendes Muster, das sich durch Generationswechsel als Bestandteil von Erneuerungsprozessen immer wieder beobachten lässt. Jedoch scheinen sich die Differenzen und damit einhergehenden Konflikte aufgrund von zunehmender Dy-namik der Digitalisierung einerseits und der Diagnose institutioneller Trägheit andererseits zu verschärfen. Von-seiten der politischen Institutionen wurde dieser Bewegung gegenüber insbesondere in der Anfangsphase 2019 vielfach ein Unverständnis geäußert, das sich zum einen als Kritik am Fernbleiben vom Schulunterricht formu-lierte, zum anderen den jungen Aktivist*innen schlichtweg die Expertise zum Thema absprach.

In Kombination mit etablierten Formen des eher analogen Engagements geht es im digitalen Raum vielfach um eine Mobilisierung von Engagierten durch das Netz, eine Stimulierung des Diskurses und eine Verbreitung der Initiativen auf vielfältige Gruppierungen und Standorte. Neben Fridays for Future (Youth Policy Labs 2019: 31–

35) ist das Sunrise Movement ein Beispiel für eine Klimabewegung junger Menschen in den USA, die durch Wähler*innenmobilisierung die Politik zum Handeln zwingen wollen.52

48 Informationen zur TINCON sind verfügbar unter: https://tincon.org (abgerufen am 05.09.2019).

49 OPIN ist verfügbar unter: https://opin.me/de/ (abgerufen am 05.09.2019).

50 Die Webseite des Trevor Project ist verfügbar unter: https://www.thetrevorproject.org/ (abgerufen am 05.09.2019).

51 Die Webseite von Girls Who Code ist verfügbar unter: https://girlswhocode.com/ (abgerufen am 05.09.2019).

52 Die Webseite des Sunrise Movement ist verfügbar unter: https://www.sunrisemovement.org (abgerufen am 05.09.2019).

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– 94 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Digitalität hat für alle drei Aspekte – spezifisch digitale Themenartikulation, öffentliche Themenerweiterung und Themenbesetzung durch junges Engagement – auch eine starke symbolische Bedeutung. Aus den Beiträgen der jungen Inputgeber*innen lässt sich schließen, dass ein Selbstverständnis als digitale Generation und das Ver-ständnis des eigenen Engagements als digitales Engagement (auch wenn Teile der Praktiken völlig analog von-stattengehen) ein identitätsstiftendes Differenzierungsmerkmal für junge Engagierte darstellt.

INPUT VON EXPERT*IN

„Digitalisierung ist die Waffe der Jugend! Dass wir damit aufgewachsen sind, ist unser Vorteil, unser Tool.

Wir sind die freieste und am besten vernetzte Generation jemals. Das müssen wir nur nutzen. Ohne die Digitalisierung wäre [...] Fridays for Future nicht möglich gewesen.“

— Silvan Wagenknecht, Initiator von Pulse of Europe (Wagenknecht 2019: Protokoll, S. 4) An diesem Beispiel wird ein medialer Kampf um die Deutungshoheit über eine gesellschaftspolitische Agenda deutlich, die für die Beschreibung neuer Formen des digitalen Engagements zentral ist. So öffnen sich mehrere Spannungsfelder, etwa durch eine Verniedlichung jungen Engagements und einer Verweigerung politischer Machtverschiebung oder durch Entmündigung des jungen Engagements durch Verherrlichung oder Verteufelung.

Dies betont auch Silvan Wagenknecht, Initiator von Pulse of Europe Berlin. Wie er berichtet, gebe es zurzeit sehr starke Jugendbewegungen, die unglaubliche Ausmaße angenommen hätten, die aber auf höherer politischer Ebene nicht wahrgenommen und nicht ernst genommen würden. Er betont, es sei nichts dagegen einzuwenden, dass bestimmte Parteien andere Standpunkte hätten als Rezo oder Fridays for Future. Das Problem sei vielmehr die Arroganz, mit der sie auf die jungen Menschen reagierten. Dies sei sehr demotivierend für junge Menschen (Wa-genknecht 2019: Protokoll, S. 4).

Diese Artikulation von Frustration der digital vernetzten Generation lässt sich auch an einem anderen Fall aufzei-gen. Kurz vor der Europawahl 2019 veröffentlichte der YouTuber Rezo auf der Plattform ein Video mit dem Titel

„Die Zerstörung der CDU“53. Inzwischen (Stand November 2019) wurde dieses Video mehr als 16 Millionen Mal aufgerufen und verbreitete sich über Twitter und Instagram in extremer Geschwindigkeit. Inhaltlich geht es um eine Auseinandersetzung mit der Politik der regierenden Parteien. Die Schwerpunktthemen dieser Kritik, die an-schaulich mit wissenschaftlichen Quellen und Statistiken hinterlegt ist, sind die Klimapolitik und die Verteidi-gungspolitik, aber auch Bildungsgerechtigkeit und soziale Ungleichheit werden angesprochen. Das Video des bekannten YouTubers bringt die Differenz zwischen den Generationen und Interessengruppen medial zum Aus-druck. Während es schnell Verbreitung fand und in seiner plakativen Kritik im Netz zumeist positiv bewertet wurde, stieß es in Printmedien und in der Reaktion der politischen Parteien auf vielfache Ablehnung. So wurde die Verwendung der wissenschaftlichen Studien als teils manipulativ bewertet und die angeführte Argumentation in ihrer Schärfe zurückgewiesen. Die Kritik an Rezo bezog sich auch darauf, dass das Video dem YouTuber zu einer extrem gesteigerten Bekanntheit verhalf und damit der kommerziellen Verwertung des eigenen Profils diente. Zugleich wurde das Video jedoch als Ausdruck der zunehmenden politischen Entfremdung zwischen der jungen Generation und den etablierten Parteien und deren Entscheidungen gewertet. Der Umgang mit dem Video seitens politischer Akteure (vgl. Handelsblatt 2019) löste eine Welle der Empörung im Netz aus, den sogenannten Rezo-Effekt (vgl. Brost 2019). Ein quantitativer Nachweis des Einflusses des Videos wird schwer zu erbringen sein, doch legen die Beobachtungen der jungen Inputgeber*innen des Engagementberichts durchaus nahe, dass es eine starke diskursive Bedeutung entfaltete. Neben inhaltlichen Aspekten ist bemerkenswert, dass auch hier – ähnlich wie bei Fridays for Future – eine Konstruktion temporaler Vergemeinschaftung medial geglückt ist, die auf den Mechanismen des Schwarms aufbaut und dabei zugleich stark auf die Inszenierung einer Einzelperson setzt.54

53 Das Video ist verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ (abgerufen am 21.08.2019).

54 Wie bereits im Unterkapitel 3.2.4 für die beschriebenen Praktiken herausgestellt, so ist es auch hier der Fall, dass die drei beschriebenen Kernaspekte nicht nur im zivilgesellschaftlichen Engagement Neuorientierungen und Spannungsfelder beschreiben, sondern auch im unzivilen Engagement. Auch rechtsradikale Bewegungen würden sicher behaupten, Gleichgesinnte zu vernetzen; und rassistische oder antisemitische Haltungen werden in den entsprechenden Communitys ebenfalls „verhandelbar“.

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