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Digitales Engagement vs. analoge Politik?

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 141-144)

Die vorangegangenen Perspektiven haben gezeigt, dass die verschiedenen Praktiken eines digitalen Engagements an zahlreichen Stellen Bezugspunkte zur Gemeinwohlorientierung gesellschaftlicher Akteure aufweisen. Das Re-sultat sind neue Dynamiken und Konkurrenzsituationen, die Beteiligung im Rahmen klassischer Organisationen verändern. Zivilgesellschaftliche Akteure wie Vereine und Interessengruppen sind davon betroffen (siehe Kapi-tel 6.4), Parteien als direkt mit dem politischen Institutionensystem verbundene Akteure geraten dadurch insbe-sondere in den Fokus: Vor allem für die politische Sozialisation jüngerer Bevölkerungsgruppen verlieren sie dras-tisch an Bedeutung. Nicht wenige der jungen Engagementexpert*innen, die die Kommission im Rahmen der Be-richtsarbeit informierten, brachten eine Abgrenzung gegen die Arbeit im Ortsverein zum Ausdruck: Parteien und andere etablierten politische Institutionen gelten ihnen als veraltete Strukturen, die für aktuelle Probleme keine Lösungen bieten und von „alten weißen Männern“83 dominiert sind.

Gleichzeitig durchlaufen die Institutionen der Parteiendemokratie ganz ähnliche Transformationsprozesse wie der Engagementsektor – auch hier fordern Digitalisierungseffekte etablierte Strukturen heraus und eröffnen Spiel-räume für innovative Ansätze. So lassen sich auch für den Bereich der Politik Plattformeffekte identifizieren, und die Etablierung von Netzwerkstrukturen für Unterstützer*innen sind zu Wahlkampfzeiten längst die Regel ge-worden (Kreiss 2012 und 2016; Römmele und Schneidmesser 2016).

Das Aufkommen und der Bedeutungszuwachs sozialer Netzwerke zieht damit auch eine allmähliche Veränderung politischer Beteiligung nach sich – digital „gelernte“ und von politischen Akteuren unterstützte Praktiken und Routinen konkurrieren mit traditionellen Formen von Teilhabe. Für den Kontext des digitalen Engagements er-geben sich daraus unterschiedliche Überlegungen. Plattformeffekte legen einerseits die Entstehung geschlossener

„Engagementblasen“ nahe, da sich Beteiligungsmotivationen auf Bürger*innenseite immer kleinteiliger „berech-nen“ lassen (Kreiss 2016) – an die Stelle der räumlichen Begrenzung kann in digitalen Beteiligungsprozessen eine inhaltlich oder technisch vermittelte Abschottung treten. So wächst zugleich die Volatilität politischen Handelns, da der Einsatz individueller Ressourcen immer kleinteiliger dosiert werden kann. Darunter leidet die Rolle von Parteien als strukturierender Faktor im öffentlichen Diskurs – Probleme, Perspektiven und Handlungsfelder müs-sen längst nicht mehr durch parteipolitische Akteure gebündelt und vertreten werden. Sie ergeben sich zwanglos durch den persönlichen Austausch im Netzwerk – oder werden durch neue, digitale Engagementakteure aktiv befördert. Dieser Umbruch geschieht nicht über Nacht: In der für den Bericht durchgeführten Jugendbefragung (bei 14- bis 28-Jährigen) gaben beinahe zwei Drittel an, in einer traditionellen Organisation (zum Beispiel Verein, Verband, Partei) aktiv zu sein.

Dennoch gibt es Grund zu der Annahme, dass die Ausbreitung sozialer Medien im zivilgesellschaftlichen Bereich Auswirkungen auf die Organisationsformen des Engagements hat. Die Nutzung von Plattformen als „Betriebs-system“ des Engagements reduziert den erforderlichen Aufwand für kollektives Handeln (Bimber 2017; Bennett et al. 2018) und schafft so neue Möglichkeiten für niedrigschwellige und informelle Typen des Engagements.

Dazu zählen das Aufkommen von „slacktivism“, „armchair activism“ oder „tiny forms of participation“ (Margetts 2019). Wohin ein solcherart verändertes Beteiligungsverhalten führen kann, dokumentieren neue plattformba-sierte Parteien (Gerbaudo 2019; Chadwick und Stromer-Galley 2016) ebenso wie neuere soziale Bewegungen (das derzeit prominenteste Beispiel Fridays for Future wurde bereits mehrfach erwähnt). Lose Netzwerke mit vergleichsweise geringem Institutionalisierungsgrad treten in offene Konkurrenz mit Mitgliedschaftsorganisatio-nen, weil sie ein breiteres Spektrum auch zeitlich befristeter, projektartiger Beteiligungsformen im Rahmen fle-xibler und weniger hierarchischer Koordinationsstrukturen ermöglichen (Hofmann 2019: 11).

Begünstigt durch neue Praktiken (siehe Kapitel 3), formiert sich jenseits traditioneller Beteiligung eine Kultur des alltäglichen digitalen Engagements. Damit einher geht jedoch die Reduzierung vorhandener Zeitbudgets für ge-sellschaftliche Teilhabe – langwierige Ortsvereinssitzungen und Verhandlungen auf Unterbezirksebene üben kaum noch Faszination auf junge Menschen aus, die sich stattdessen intensiv um ihre virtuellen Gemeinschaften und Online-Netzwerke kümmern. Bennett und Segerberg (2012) fassen treffend zusammen: Parteien werden zwar nicht bedeutungslos, doch unter den Bedingungen der Digitalisierung verlieren sie ihr „Beteiligungsmonopol“.

Deshalb gewinnt die Organisationsdimension des digitalen Engagements an Bedeutung und zeigt Wirkungen für demokratische Gesellschaften. Keinesfalls zufällig spüren seit dem Aufkommen der sozialen Medien auch die politischen Parteien die wachsende Dynamik und eine Konkurrenz um engagierte Bürger*innen. Die – vorüber-gehenden – Erfolge der Piratenpartei waren wohl nur ein Vorbote für eine nachhaltigere digitale Transformation

83 Der Begriff „alte weiße Männer“ betont die gesellschaftliche Machtposition dieser spezifischen demografischen Gruppe und hat sich im öffentlichen Sprachgebrauch verfestigt. Die Journalistin und Autorin Sophie Passmann bildet die Debatte mit ihrem Buch „Alte Weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch“ ab.

Drucksache 19/19320

– 140 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode der Parteiendemokratie. Movimento 5 Stelle (Italien), Podemos (Spanien), La République en Marche (Frankreich) oder die Liste Kurz (Österreich) werden vorläufig als „Bewegungsparteien“ umschrieben, die auf „weichere“ For-men von Mitgliedschaft und Beteiligung setzen. Der allmähliche „Formwandel“ eines traditionellen Organisati-onskonzepts politischer Beteiligung wird also auch künftig eng mit Fragen gesellschaftlicher Teilhabe verbunden sein. Ein durch digitale Angebote differenzierter und auf Mobilisierung ausgerichteter Engagementsektor kann hierzu einen Beitrag leisten.

In Anlehnung an Böckenförde (1967)84 lässt sich sagen, dass die Demokratie die Bedingungen ihres Fortbestands nicht selbst herstellen kann. Es ist das Engagement der Bürger*innen und deren Vertrauen in die eigene Wirk-samkeit, das diese Bedingungen herstellt. Allerdings kann der Staat vieles tun, um demokratisches Engagement in seiner Vielfalt anzuerkennen und zu fördern.

84 Der Staats- und Verwaltungsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte das Diktum „Der freiheitliche, sä-kularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 1967).

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 141 –

Drucksache 19/19320

7 Handlungsempfehlungen zur Förderung des digitalen Engagements junger Menschen und der Digitalisierung des Engagementsektors

Aus den Ergebnissen des Dritten Engagementberichts lässt sich eine Reihe von Zielen ableiten, an denen eine Förderung des digitalen Engagements Jugendlicher ausgerichtet werde sollte. Nachfolgend werden diese Ziele einer Engagementförderung formuliert und daraus jeweils konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet.

Grundlage dieser Zielformulierung ist einmal die DEB-Jugendbefragung 2019, die deutlich das integrierte Neben- und Miteinander von Engagement mit und ohne digitalen Bezug sichtbar macht und zugleich auf die Potenzierung bildungs- und regionsbezogener sozialer Ungleichheiten verweist, wenn es nicht nur um Engagement an sich, sondern auch um dessen Verbindung mit digitalem Medienhandeln im Jugendalter geht. Wenn sich Jugendliche und junge Erwachsene engagieren, dann bringen sie sich nach wie vor beispielsweise im kirchlichen Kontext, in den Technischen Hilfswerken oder auch in der organisierten Verbandsarbeit vielfältig ein. Auch das individuali-sierte Engagement oder das Engagement in selbst organiindividuali-sierten Projekten oder Gruppen gehören zum Alltag die-ser vielfach aktiven Jugend. Das digitale Engagement in seinen unterschiedlichen Formen oder die Nutzung von digitalen Möglichkeiten innerhalb des Engagements verdrängen daher nicht die „klassischen“ Aktivitäten der jungen Menschen, sondern ergänzen diese vielmehr auf sehr produktive Art und Weise und eröffnen neue Formen der Ausgestaltung des Engagements. Gerade Jugendliche entwickeln hier mithilfe digitaler Medien neue und kre-ative Lösungen für Fragen der Vernetzung, der Informationsweitergabe und -beschaffung sowie der Finanzie-rungsmöglichkeiten.

Zugleich eröffnen sich über die medialen Möglichkeiten auch ganz neue Formen und Themen gesellschaftlichen Engagements für Jugendliche. Die Teilnahme oder die Initiierung von Hashtag-Bewegungen, Online-Diskussio-nen oder PetitioOnline-Diskussio-nen, das Erstellen von Videos oder Blogs zu gesellschaftlichen Themen bis hin zum Coding u. v. m. loten die neuen digitalen Möglichkeiten aus und bilden für ca. ein Viertel der Jugendlichen den Schwer-punkt ihres Engagements. Dabei erweitern die Digitalisierungsprozesse das Engagementspektrum junger Men-schen um Themen, die sich explizit auf die digitalen Entwicklungen selbst beziehen und deren Möglichkeiten und Grenzen in den Blick nehmen (siehe Kapitel 3). Mit dem Internet vergrößert sich sowohl der Aktionsraum von Vereinen und Verbänden als auch von jungen Menschen selbst in ihren gesellschaftlichen Partizipationsbestre-bungen. Relevant ist hier insbesondere die starke Verknüpfung des digitalen Engagements mit lokalem Engage-ment vor Ort. Ein Beispiel hierfür ist die Fridays for Future-Bewegung, die die digitalen Möglichkeiten zur In-formationsverbreitung und Vernetzung effektiv nutzt und darüber eine enorme Kraft für die Mobilisierung auch zu lokalen Aktionen schöpft. Aus der DEB-Jugendbefragung 2019 wissen wir nun, dass (1.) dieses Phänomen der Hybridität von digitalem und nicht digitalem Engagement bei jungen Menschen existiert, dass (2.) digitales En-gagement nicht in Konkurrenz zu nicht digitalen EnEn-gagementformen steht, sondern eine Erweiterung der bisheri-gen Engagementformen und -themen darstellt, dass (3.) digitales Engagement für Jubisheri-gendliche in kleinen Gemein-den auch einen Ersatz für fehlende Engagementmöglichkeiten vor Ort darstellt und dass (4.) sich bildungsbezo-gene Ungleichheiten, die bereits das „klassische“ Engagement gekennzeichnet haben, im digitalen Engagement potenzieren.

Organisationen des Engagementbereichs stellt der Wandel des medialen Umfelds und der Verhaltensmuster von jungen Engagierten jedoch vor große Herausforderungen, denen durch gezielte Unterstützung begegnet werden kann. Die Analysen der Organisationen sowie Gespräche mit gesellschaftlich Engagierten haben gezeigt, dass die Akteure einerseits von vielen Eigenschaften digitaler Kommunikationsmedien profitieren, etwa von der Schnel-ligkeit und Reichweite der Informationsverbreitung, dass aber andererseits die Anpassung der oft eher statischen Strukturen – etwa der internen Abstimmungsprozesse oder die Sicherstellung der Finanzierung – an die sich stän-dig verändernde stän-digitale Umgebung für viele schwer zu bewältigen ist. Die neuen stän-digitalen Infrastrukturen stellen nicht nur eine Erweiterung des Handlungsraums dar, sondern zwingen allen Akteuren auch neue Regeln und Beschränkungen auf. Kommerzielle digitale Plattformen wie Facebook oder WhatsApp erweitern einerseits die Reichweite des Engagements erheblich, andererseits operieren sie nach ihren eigenen Logiken, die unter Umstän-den Umstän-den Bedürfnissen von Engagierten oder Organisationen im Engagementsektor zuwiderlaufen. Das Feld der Engagement-spezifischen Plattformen (zum Beispiel zum Crowdfunding, für Kampagnen oder zur internen Or-ganisation) ist durch große Vielfalt gekennzeichnet. Davon können Organisationen im Engagementsektor profi-tieren, weil ihnen damit Wahlmöglichkeiten offenstehen. Zugleich geht mit einem erhöhten Orientierungsbedarf in dieser Vielfalt ein zusätzlicher Ressourceneinsatz einher.

Drucksache 19/19320

– 142 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Aus diesen Befunden ergibt sich eine Reihe von Zielen, an denen sich die folgenden Handlungsempfehlungen ausrichten. Diese Ziele nehmen die Herausforderungen für individuelles Handeln, für Organisationen im Enga-gementsektor sowie für die infrastrukturellen Bedingungen für Engagement in den Blick. In den folgenden Ab-schnitten werden die Ziele sowie Handlungsempfehlungen zusammengefasst.

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 141-144)