• Keine Ergebnisse gefunden

Kollektive Problemlösung: Mit- und Zuarbeit in der Crowd

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 81-84)

3.1 Zwischen Überraschung und Routine: Engagement-relevante

3.1.2 Kollektive Problemlösung: Mit- und Zuarbeit in der Crowd

Digitales Engagement geht über die Nutzung von sozialen Medien weit hinaus. Digitale Infrastrukturen ermögli-chen nämlich auch und gerade gänzlich neue Formen der kollektiven Bearbeitung von Problemen. Ein Stichwort dafür ist das Crowdsourcing (Howe 2009). Damit wird eine Form der Arbeitsteilung bezeichnet, mit der mittels digitaler Medien eine prinzipiell uneingeschränkte Menge von Nutzer*innen aufgerufen wird, sich kollektiv an einer bestimmten Arbeitsaufgabe oder Problemlösung zu beteiligen. Unternehmen nutzen Crowdsourcing etwa für Ideenwettbewerbe oder zur Delegationen vergleichsweise einfacher Aufgaben an die „Crowd“. Im Kontext von Engagement erlaubt Crowdsourcing Formen der Mit- und Zuarbeit, die wesentlich punktueller sind als klas-sische, analoge Formen.

Als Citizen Sourcing wird eine Form des Crowdsourcing bezeichnet, die sich auf Probleme von Gemeinwesen richtet. Dabei mobilisieren politische Institutionen Bürger*innen, um bestimmte öffentliche Probleme zu adres-sieren bzw. zu bearbeiten (Hilgers und Ihl 2010). Analog zu anderen Varianten des Crowdsourcing dient dabei eine App oder eine Webseite als Interface zwischen Bürger*innen und Institutionen. Citizen Sourcing wird von verschiedenen politischen Organisationen eingesetzt, etwa Parteien und Ministerien. Insbesondere aber Kommu-nen nutzen Ansätze des Citizen Sourcing als Innovations- und Verwaltungsinstrumente. Das Ziel besteht darin, die kollektiven Problemlösungskapazitäten der Bürger*innen mit digitalen Mitteln verfügbar zu machen (Thiem

26 Riccardo Simonettis Instagram-Profil ist verfügbar unter: https://www.instagram.com/riccardosimonetti/ (abgerufen am 21.08.2019).

27 Das Instagram-Profil des Programms ist verfügbar unter: https://www.instagram.com/dkmslife/ (abgerufen am 21.08.2019).

28 Das YouTube-Profil von tomatolix ist verfügbar unter: https://www.youtube.com/channel/UCNCktfoFAXtXnMlhjyc9SPA (abgerufen am 21.08.2019).

29 Die Kampagne ist verfügbar unter: https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/vonanfangan.html (abgerufen am 21.08.2019).

30 André Hamanns Instagram-Profil ist verfügbar unter: https://www.instagram.com/andrehamann/ (abgerufen am 21.08.2019).

31 Scott Eastwoods Instagram-Profil ist verfügbar unter: https://www.instagram.com/scotteastwood/ (abgerufen am 21.08.2019).

Drucksache 19/19320

– 80 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 2018). Dabei kann es etwa um Ideenwettbewerbe für politische Maßnahmen gehen, in denen Bürger*innen Vor-schläge für aktuelle Problemstellungen artikulieren können (Sohn und von Kortzfleisch 2012). Ein anderer An-wendungsfall sind Reporting-Plattformen, bei denen zum Beispiel Mängel der städtischen Infrastruktur gemeldet werden können. Ein Beispiel für Letzteres ist der Maerker Brandenburg32. Damit können Bürger*innen bestimmte Probleme melden, die sie in ihrer Umgebung beobachtet haben. „Das reicht von zu hoch gewachsenem Rasen auf einer Verkehrsinsel über eine kaputte Parkbank bis zum Wunsch nach einem Zebrastreifen in der Nähe einer Schule“ (Thiem 2018: 44). Citizen-Sourcing-Projekte verstehen sich oft als Teil einer Open-Government-Strate-gie. Demgemäß bieten einige Anwendungen auch Zugriff auf öffentliche Daten und erlauben eine zweikanalige Kommunikation zwischen Bürger*innen und Verwaltungen. Ihr zentrales Versprechen besteht darin, die Kom-munikation zwischen Bürger*innen und politischen Organisationen zu beschleunigen und einfacher zu gestalten.

Mit der Zuarbeit vieler lassen sich nicht nur Aufgaben dezentral erledigen, sondern auch Finanzmittel akquirieren.

So stellt Crowdfunding eine neue Form der Projektfinanzierung dar, die sowohl für privatwirtschaftliche als auch für gemeinwohlorientierte Vorhaben Verwendung findet. Die Grundidee besteht darin, eine möglichst große Menge an Personen dazu zu bewegen, ein Projekt mit einer je relativ kleinen Geldmenge zu unterstützen. Tech-nisch realisiert wird Crowdfunding über Online-Plattformen, auf denen sich verschiedene Projekte der Öffent-lichkeit vorstellen. Plattformen übernehmen dabei die Rolle eines Intermediärs, der zwischen Akteuren vermittelt, die finanzielle Unterstützung suchen, und solchen, die bereit sind, Projekte zu finanzieren. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass sich ganz unterschiedliche Vorhaben durch Crowdfunding realisieren lassen, etwa Musikalben, Brettspiele, Mode, Filme oder Technologien. Das Spektrum der Finanzierungsmodi beim Crowd-funding spannt sich zwischen zwei Polen auf. Auf der einen Seite stehen Crowdinvesting bzw. Crowdlending, bei denen Geldbeträge gewinnorientiert angelegt werden, am anderen Pol das Crowddonating, bei dem die Öffent-lichkeit zur Spende aufgerufen wird (Schulz-Schaeffer 2017: 28). Das „Standardmodell“ des Crowdfunding – das Crowdsupporting – ist gleichwohl zwischen diesen Polen angesiedelt. Das Grundprinzip besteht hier darin, dass erfolgreich finanzierte Projekte ihren Geldgebern eine Belohnung zukommen lassen, die je nach Höhe des ge-zahlten Geldbetrags variiert.

In unterschiedlichen Mischungsverhältnissen treten die Unterstützer dieser Projekte sowohl als Konsumenten auf, denen es um den Besitz von Erzeugnissen geht, die für sie besonders attraktiv sind, als auch als Engagierte, die sich für die Verwirklichung von Zielen einsetzen, die ihnen am Herzen liegen. (Schulz-Schaeffer 2017: 29)

Viele Plattformen sind auf einen bestimmten Typ des Crowdfunding fokussiert. Mittlerweile existiert in Deutsch-land eine Reihe von Plattformen, die sich auf das Sammeln von Spenden für gemeinnützige Zwecke spezialisiert haben.33 Darüber hinaus finden sich aber Projekte mit gemeinwohlorientierten Inhalten auch auf Plattformen, die nicht exklusiv für Crowddonating stehen.

Crowdfunding ermöglicht es Akteuren, auf Basis digitaler Infrastrukturen Finanzierungswege jenseits von klas-sischen Rechtsformen zu beschreiten. Dies kann auch und gerade für gemeinwohlorientierte Projekte attraktiv sein. Umgekehrt stellt Crowdfunding für Einzelpersonen eine Option dar, überaus zielgenau Projekte zu unter-stützen und sich über diese zu informieren. Durch Crowdfunding werden so auch Möglichkeiten der freiwilligen Unterstützung erschlossen, die bislang kaum denkbar waren, etwa der Geldspende an Einzelpersonen und Fami-lien, die von Schicksalsschlägen wie plötzlicher Arbeitslosigkeit oder schwerer Krankheit betroffen sind und Crowdfunding-Plattformen nutzen, um ihre Situation öffentlich darzustellen und außerhalb des sozialen Nahbe-reichs um Hilfe zu bitten.

Eine kollaborative Form der Zusammenarbeit, die im Vergleich zum typischen Crowdsourcing vernetzter und heterogener ist, bezeichnet der Ökonom Yochai Benkler (2006) als „commons-based peer production“. Hier ist nämlich gar nicht so klar, wer wen zur Mitarbeit auffordert. Im Modus der Peer Production produziert jeder Akteur ein bestimmtes Teilelement (etwa einen Textbeitrag) und diese Teilelemente lassen sich sukzessive modular zu-sammenfügen. Damit ist diese Form der Kollaboration sowohl für längerfristiges Engagement als auch für eine höchst punktuelle Beteiligung offen.

Beispiele sind die Online-Enzyklopädie Wikipedia oder die Open-Source-Software-Entwicklung. Beteiligte sind hier nicht primär durch einen monetären Nutzen motiviert. Vielmehr produzieren sie ein Gemeingut, das öffent-lich zur Verfügung gestellt wird. Das Ideal des offenen Wissens fungiert als Leitbild dieser gemeinschaftöffent-lichen Produktionsweise. Während Open-Source-Entwicklung ein spezifisches Wissen aufseiten der Beteiligten voraus-setzt, versteht sich Wikipedia als eine Plattform, in der grundsätzlich jede*r Bürger*in Wissen einbringen sowie

32 Der Maerker Brandenburg ist verfügbar unter: https://maerker.brandenburg.de/bb (abgerufen am 29.08.2019).

33 Eine Übersicht über diese Plattformen bietet etwa https://www.crowdfunding.de/plattformen/#spenden (abgerufen am 29.10.2019).

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 81 –

Drucksache 19/19320

publiziertes Wissen korrigieren und ergänzen kann. Chen (2010) weist darauf hin, dass die Normen der Wikipedia damit den vom Wissenschaftssoziologen Robert Merton explizierten Normen wissenschaftlicher Wissensproduk-tion (Universalismus, Wissenskommunismus, Uneigennützigkeit, organisierter Skeptizismus) entsprechen.

Ein weiteres Beispiel ist das Participatory Mapping (deutsch: partizipative Kartierung), das bereits in den 1970er Jahren entstanden ist (Haklay und Francis 2018), aber durch digitale Werkzeuge enorm potenziert wird. Die Me-thode ermöglicht den Bürger*innen, mit ihrem Wissen und ihren Anliegen die Erstellung von Karten zu unter-stützen und somit Grundlagen für Entwicklungsprozesse zu schaffen. Der Planer Kevin Lynch stellte bereits in seiner Forschung in den 1960er Jahren die Idee der kognitiven Kartierung in der Planung vor und untersuchte, wie Menschen Räume wahrnehmen, die sie auf kompliziertere Weise durchqueren, als es auf einer Straßenkarte dargestellt wird. Damit gelang ihm ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der partizipativen Kartierung, indem er alle Möglichkeiten analysiert, wie die Wahrnehmung von Nichtplaner*innen dazu beitragen kann, das Ver-ständnis und die Entscheidungen in der Planung zu beeinflussen (Kathlene 2007).

Participatory Mapping ist der Bottom-up-Ansatz, der es der breiten Bevölkerung ermöglicht, Karten für alle zu erstellen. Im Gegensatz zum traditionellen Top-down-Ansatz, bei dem die Erstellung von Karten einer speziali-sierten Gruppe wie Planer*innen, Ingenieur*innen etc. vorbehalten ist und die Massen nur indirekt profitieren, versucht Participatory Mapping lokales Wissen verschiedener Menschen zu sammeln und zu bündeln. Sie dienen dazu, einen höheren Wissensstand zu liefern, als dies mit herkömmlichen Mapping-Methoden möglich ist (War-ner 2015).

Die abgebildeten Daten können greifbar sein, wie die Lage von Straßen, Wohnungen, Geschäften und Bushalte-stellen, aber auch immateriell und qualitativ, wie zum Beispiel das Gefühl der Sicherheit, Zugehörigkeit und Begehbarkeit. Diese letztgenannten Daten sind Teil des lokalen Wissens, der informellen Daten, die man aus einer engen Interaktion mit einem persönlichen und an den Kontext angepassten Raum gewinnt. Die Kartierung kann mit einer Vielzahl von Mitteln und unter Verwendung verschiedener Technologien erfolgen, oft einschließlich Vermessung, Global Positioning System (GPS) und einer Sammlung von historischem und politischem Wissen.

Heutzutage handelt es sich dabei häufig um GPS-Daten von Smartphones der Nutzer*innen, die agglomeriert und zu Karten geformt werden (Haklay 2013).

Der partizipative Ansatz des Mappings versucht Informationen zu demokratisieren. Die Offenheit, Transparenz und der „horizontale“ Charakter dieses Prozesses geben allen Personen die Möglichkeit zu sehen, was wirklich in ihrer Umwelt geschieht. Informationen sind nicht mehr versteckt oder in der Macht einiger weniger, sodass alle Akteure die Möglichkeit haben, aus den gesammelten Daten Entscheidungen und Handeln abzuleiten.

Beispiele für digitale Participatory Mappings sind:

Open Street Map34: Ein 2004 gegründetes Projekt mit dem Ziel, eine freie Weltkarte zu schaffen. Es werden weltweit Daten über Straßen, Eisenbahnen, Flüsse, Wälder, Häuser und alles andere, was gemeinhin auf Karten zu sehen ist, gesammelt und offen zur Bearbeitung freigegeben. Die Karte kann lizenzfrei verwendet werden.

Wheelmap: Die Initiator*innen der Wheelmap, die Sozialhelden e. V., wollen mit der Wheelmap eine Karte für barrierefreie Orte schaffen, die Menschen im Rollstuhl den Alltag erleichtert und gleichzeitig gesell-schaftliche Akteure anregt, mehr Orte rollstuhlgerecht zu gestalten. Die Karte wird als Open-Source-Projekt betrieben und stellt eine Schnittstelle bereit für die Einbindung der Daten in andere Karten und Projekte. Die Wheelmap wurde 2010 ins Leben gerufen, hatte im September 2018 mehr als 900.000 Karteneinträge und eine tägliche Zuwachsrate von 300 Einträgen. Die Initiative wurde mehrfach ausgezeichnet und hat eine positive mediale Wirkkraft (Youth Policy Labs 2019: 36-38).35

Kollaborative Wissensarbeit wie das Participatory Mapping eröffnet dem Engagement Möglichkeiten, die im etablierten, rein analogen Engagement kaum realisierbar waren. Durch neue Modi kollektiver Mit- und Zuarbeit ändern sich nicht nur die Mittel des Engagements, sondern auch die Gegenstände. Engagement wird Bürger*innen nun auch vermehrt in Bereichen möglich, die ihnen zuvor weitgehend verschlossen waren – etwa in der Wissen-schaft. Ein diesbezügliches Beteiligungsfeld, das erst mit der Digitalisierung in der gesellschaftlichen Breite ver-ankert wurde, ist Citizen Science. Der Begriff bezeichnet heute vor allem die Beteiligung Freiwilliger an For-schungsprojekten. Im Prinzip sieht das Konzept Partizipationsoptionen in allen Phasen des Forschungsprozesses vor – von der Formulierung von Forschungsfragen und -zielen bis hin zur wissenschaftlichen Veröffentlichung.

34 Das Projekt ist verfügbar unter: https://www.openstreetmap.org (abgerufen am 21.08.2019).

35 Das Projekt ist verfügbar unter: https://wheelmap.org/search (abgerufen am 05.09.2019).

Drucksache 19/19320

– 82 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode In der Praxis engagieren sich Bürger*innen vor allem in der Datenerhebung und -auswertung. Die Projekte werden in der Regel von professionellen Forscher*innen bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen oder zivilgesellschaftli-chen Organisationen mit spezifiszivilgesellschaftli-chen Forschungsinteressen initiiert und koordiniert (Wenninger und Dickel 2019). Mittlerweile sind Ansätze der Citizen Science in nahezu allen Disziplinen zu finden. Sie ermöglichen da-tenintensive Projekte, die anders nur schwer umsetzbar wären, und erleichtern die Bearbeitung von Forschungs-themen, denen im regulären Wissenschaftsbetrieb wenig Aufmerksamkeit zuteilwird.

INPUT VON EXPERT*IN

Laut Katrin Vohland, Leitung Forschungsbereich Wissenschaftskommunikation und Wissensforschung im Museum für Naturkunde Berlin, können drei Arten von Citizen Science unterschieden werden (Vohland 2019: Protokoll, S. 8):

Contributory Citizen Science als Variante des Crowdsourcing: von Wissenschaftler*innen entworfene Pro-jekte, zu denen Bürger*innen durch Datengenerierung beitragen, zum Beispiel durch Dokumentation von Luftverschmutzung mit dem Mobiltelefon, dem Zählen von Wildvögeln oder durch Verschlagwortung von Kunstwerken.

Cooperative Citizen Science: Wissenschaftler*innen und Bürger*innen entwickeln und verfeinern das Pro-jekt gemeinsam und befinden sich auf Augenhöhe.

Extreme Citizen Science: vom professionellen Wissenschaftssystem unabhängige Projekte von Bürger*innen oder auch NGOs, bei denen es oft auch um alternative wissenschaftliche Ansätze geht.

Eine besondere Herausforderung in der Citizen Science besteht darin, wissenschaftliche Forschung auf eine Art und Weise öffentlich zugänglich zu machen, die eine Beteiligung von Menschen ohne Fachexpertise erlaubt.

Dabei sind zwei Stellschrauben zu nennen: zum einen eine Vereinfachung und Vorstrukturierung des Teils der Forschung, an dem sich Bürger*innen beteiligen können, zum anderen eine selektive Ausbildung der Beteiligten (etwa durch ein Online-Tutorial). Viele Projekte bedienen sich zudem Praktiken der Gamification, das heißt, sie integrieren spielförmige Mechanismen in die Prozesse der Datenerhebung und -auswertung, um das Projekt at-traktiv zu machen.

Mittlerweile haben sich auf nationaler wie internationaler Ebene Non-Profit-Organisationen etabliert, die Citizen Science in Wissenschaft und Gesellschaft verankern und weiterentwickeln wollen. In Europa ist hier die European Citizen Science Association zu nennen36. Zudem haben sich Online-Plattformen gegründet, auf denen sich Pro-jekte mit Bürger*innenbeteiligungsoptionen vorstellen, Interessierte sich über diese ProPro-jekte informieren und mit-unter direkt am Bildschirm beteiligen können. Die zentrale deutsche Anlaufstelle für Projekte dieser Art ist die Plattform „Bürger schaffen Wissen“37.

Im Dokument Dritter Engagementbericht (Seite 81-84)