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3.4.1 Behinderungserfahrungen und ihre Auswirkungen auf das Lernen und die Entwicklung

Eine Vielzahl von Studien belegen eine abweichende Entwicklung sozialer Kompetenzen bei Menschen mit geistiger Behinderung, die jedoch meist Beschreibung von Defiziten bezüglich sozialer Anpassungsleistungen darstellen (vgl. dazu zusammenfassende Darstellung bei Fied-ler 2007, S. 24ff.). Unter Verweis auf deren hypothetischen Charakter nennt Mühl (2000) die in Tabelle 3 stichpunktartig aufgeführten Merkmale eines besonderen Lernverhaltens von Menschen mit geistiger Behinderung.

• mangelnde Umstellungsfähigkeit • Situationsverhaftetheit

• Entwicklungsverlangsamungen • Entwicklungsabweichungen

• Misserfolgserwartung • Außengerichtetheit der Motivation

• mangelnde Merkfähigkeit • mangelnde Kreativität

• mangelnde sprachliche Steuerung • mangelnde Begriffsbildung

• Aufmerksamkeitsdefizite • Transferinsuffizienz

• mangelnde Organisation von Lernmate-rial

• mangelnde Nachahmung

Tabelle 3: Merkmale eines besonderen Lernverhaltens von Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Mühl 2000, S. 52)

Hofmann (vgl. 2001, S. 319) bezieht sich auf Studien von Zigler & Balla, in denen verschie-dene motivationale Charakteristika bei Menschen mit geistiger Behinderung herausgearbeitet werden, die nach Ansicht der Autorin jegliche Kompetenzentwicklung determiniert:

Positive Reaktionstendenz: Damit wird die Tendenz von Kindern mit geistiger Behinderung zur übermäßigen Abhängigkeit von erwachsenen Bezugspersonen bezeichnet.

Negative Reaktionstendenz: Damit sind Misstrauensreaktionen (Rückzug, Minderung der Qua-lität der Aufgabenlösung in Anforderungssituationen) am Anfang eines Kontaktes zu neuen Interaktionspartnern gemeint, obwohl dieser Kontakt generell sehr gewünscht wird.

Misserfolgserwartung: Dabei wird davon ausgegangen, dass Misserfolgserleben aufgrund der Häufigkeit von erlebten Frustrationen im Selbstbild konzeptualisiert wird.

Außengerichtetheit: Damit wird die Tendenz bezeichnet, Hilfe bei der Lösung von Proble-men/Anforderungen eher in der Umwelt und nicht in der eigenen Person zu suchen und dabei eher Interesse an der Interaktion als an der Lösung der Aufgabe zu haben. Jantzen (1999) be-zeichnet damit die motivationale Abhängigkeit von der Beziehungsabsicherung statt vom Handlungsergebnis (vgl. S. 209).

Wirkungsmotivation: Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung zeigen ein niedriges Verlangen nach Aufgaben mit hohem Anspruchsniveau und reagieren eher auf greifbare als auf vorgestellte Belohnung

In Kapitel 2 wurde eine Sichtweise auf das Konstrukt der geistigen Behinderung zugrunde gelegt, innerhalb derer sie als komplexer sozialer Tatbestand erscheint. Diese Auffassung ba-siert auf einem multifaktoriellen Erklärungsmodell, welches Behinderung als Resultat der wechselseitigen Beeinflussung individumszentrierter und umweltorientierter Faktoren auf-fasst. Die von Mühl und Hofmann beschriebenen Merkmalsausprägungen sind unter kompe-tenzorientierter Sicht als Ergebnis von Lernprozessen und damit sowohl individuell als auch sozial determiniert zu verstehen. Sie beschreiben keine vorgefundenen Ausgangsdefizite des Menschen mit geistiger Behinderung, sondern sind Ergebnis eines durch interne und externe Einflüsse geprägten Erziehungs- und Lernprozesses. Im Folgenden sollen Entwicklungsum-stände von Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben werden, die das Zusammenspiel der individuellen Dispositionen einer Person und die jeweilige Anforderungsstruktur als äuße-re Entwicklungsbedingungen akzentuieäuße-ren.

Es kann davon ausgegangen werden, dass Menschen mit geistiger Behinderung auf-grund anlage- und/oder sozialisationsbedingter Gegebenheiten oftmals ungünstige Interakti-ons- und Kommunikationserfahrungen machen. Als Beispiel sei hier die Eltern-Kind-Beziehung genannt. Ein entwicklungsfördernder Aspekt, besonders im Säuglings- und frühen Kindesalter wäre die emotionale Präsenz der Bezugsperson. Im Prozess der Auseinanderset-zung mit der Tatsache ein behindertes Kind zu haben, sind Eltern oft verunsichert und irritiert in Bezug auf die eigenen Gefühle dem Kind gegenüber, emotionale Präsenz und Konstanz

können gestört sein. Das daraus resultierende, nicht authentische und oft ambivalente Verhal-ten wird durch die Schwierigkeit des Kindes, Kontaktangebote der Bezugsperson zu ent-schlüsseln und in erwarteter Weise zu erwidern, weiter verschärft. Noch größere Verunsiche-rung auf Seiten der Eltern kann die Folge sein, was die Angemessenheit des Kontaktangebo-tes weiter herabsetzen würde (vgl. Luxen 2003, S. 240f.).

Elbert (1986) spricht der frühen Interaktionserfahrung des Nicht-Angenommen-Seins aufgrund eines Schockzustandes der Eltern, ausgelöst durch das „Urteil“ geistige Behinde-rung, eine formierende Wirkung zu (vgl. S. 78). Die nicht geglückten Interaktionen im frühen Eltern-Kind-Dialog führen dann unweigerlich zu Irritationen und Enttäuschungen auf beiden Seiten. Folge davon ist, dass Kontaktangebote unterlassen oder übertrieben intensiv initiiert werden. Dies kann wiederum extreme Erziehungsstile nach sich ziehen, die zwischen absolu-ter Überbehütung mit daraus folgender erlernabsolu-ter Hilflosigkeit einerseits und strikabsolu-ter Regle-mentierung andererseits schwanken. (vgl. dazu auch Niedecken 1998, S. 37f.)

Es sei betont, dass Eltern nicht zwangsläufig dieser Negativspirale ausgesetzt sind, wenn sie damit konfrontiert werden, ein Kind mit Behinderung zu bekommen. Auch sie ver-fügen über Möglichkeiten der positiven Bewältigung. Gelingt ihnen dies jedoch nicht, kann von einer massiven Gefährdung in Bezug auf die Entwicklung des Kindes ausgegangen wer-den. Ablehnung oder Fremdbestimmung erschweren Lernprozesse zum Erwerb sozialer Prob-lemlösungskompetenzen. Die infolgedessen angewandten Strategien sind oft auf einem sehr einfachen, stressreduzierenden Niveau angesiedelt und meist defensiv-abwehrend statt lö-sungsorientiert (vgl. Wüllenweber 2001, S. 95). Sie dienen damit nicht der Erweiterung des Verhaltensrepertoires auf Seiten des Menschen mit geistiger Behinderung sondern können seine weitere Entwicklung behindern.

Rustmeier (vgl. 2002, S. 473) bestätigt diese Aussagen. Sie beobachtete im Schulalltag oftmals Situationen, in denen Interessenkonflikte zwischen Schülerinnen und Schülern eska-lierten und äußert die Vermutung, dass den Schülerinnen und Schülern die Steuerung ihrer Gefühlsausbrüche deshalb schwer fällt, weil die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung eigener Gefühle nur ansatzweise ausgeprägt ist. Es fehlt an konstruktiven Handlungsstrategien zu deren Bewältigung und sie stehen der Situation hilflos gegenüber. Auch hier wird die unge-nügende emotionale Differenzierung und die damit verbundenen Schwierigkeiten eigene Ge-fühle zu erkennen und zu kommunizieren und die GeGe-fühle anderer wahrzunehmen und ange-messen darauf zu reagieren als entwicklungshemmend dargestellt und entsprechend Förder-notwendigkeiten im schulischen Kontext abgeleitet.

Auch häufige Krankenhausaufenthalte und/oder das Aufwachsen in Heimen mit wech-selnden Bezugspersonen können die Entwicklungsbedingungen eines Kindes ungünstig beein-flussen. In extremer Ausprägung kann es zu elementaren Interaktions- und Beziehungsstörun-gen kommen. Diese manifestieren sich nicht nur im sozial-emotionalen Bereich, sondern kön-nen vielseitige Konsequenzen für die Gesamtentwicklung des Kindes haben. Auf motivationa-ler Ebene besteht die Gefahr eines eingeschränkten Aufbaus von Vertrauen in sich und ande-re, was wiederum das Explorations- und Experimentierverhalten negativ beeinflussen kann.

Generalisierte Misserfolgsorientierung kann die Auseinandersetzung mit der Welt und damit den Aufbau kognitiver Strukturen massiv beschränken. Der Prozess der Weltaneignung ver-läuft dann in kleinen bis kleinsten Schritten.

Luxen (vgl. 2003, S. 256) referiert in diesem Zusammenhang einen Beitrag von Switz-ky & Haywood. Diese belegten anhand experimenteller Studien, dass Menschen mit geistiger Behinderung generell mit den Motiven Neugier und Kompetenz geboren werden, diese sich jedoch durch das häufige Erleben von Misserfolg nicht in gewünschter Richtung entwickeln, sondern eher abgeschwächt und gehemmt werden. Durch häufig erlebte Misserfolge wird dem Menschen mit geistiger Behinderung die Motivation zur Erkundung neuer Zusammenhänge genommen. Dies hat zur Folge, dass keine neuen Informationen gewonnen und verinnerlicht werden können und es zur Ausbildung eines geringeren Erfahrungsschatzes (geringeres Aus-maß an basalem Wissen) kommt. Durch die abgeschwächte Neugiermotivation als ureigenste intrinsische Motivation muss die extrinsische Motivation an deren Stelle treten und Misser-folgsvermeidung wird als generelle Strategie konzeptualisiert wodurch die kognitive Entwick-lung langsamer verläuft als es aufgrund der kognitiven Beeinträchtigung notwendig wäre.

Diese motivationalen Besonderheiten führen zu einer Schwäche in der Antriebsregulation, was den Menschen mit geistiger Behinderung oftmals als antriebsarm, wenig kreativ oder auch interessenlos erscheinen lässt. Abweichende Leistungen von Menschen mit geistiger Behinderung können also durchaus eher auf eine abweichende motivationale Entwicklung als auf generelle kognitive Unterschiede zurückgeführt werden. Die Aussage kann noch weiter verschärft werden. Auch Gröschke (1992) führt abweichendes Lernverhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie auf motivationale Unterschiede zurück (vgl. S. 202).

Durch ausbleibende Erfolge und das Nichterleben von Selbstwirksamkeit bleibt die Gewiss-heit der eigenen Leistungsfähigkeit aus und das Selbstwertgefühl entwickelt sich ungenügend.

Demzufolge erlebt sich der Menschen mit geistiger Behinderung selten als die Person, welche die Umwelt kontrolliert und verändernd eingreift. Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen

wird zur verhaltensbestimmenden Grunderfahrung, wobei die Welt oftmals bedrohlich und beängstigend erlebt wird.

Meyer (vgl. 2001, S. 170f.) untersuchte in einer Studie das Angstverhalten und Angst-erleben von Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung. Er kommt zu dem Ergeb-nis, dass dieses Phänomen bei Menschen mit geistiger Behinderung häufig und stark anzutref-fen ist. Besonders ausgeprägt ist die Angst vor Leistungsversagen, die auf die Sozialisations-erfahrung des Nicht- Könnens durch erlebte Misserfolge und Einschränkung der Autonomie zurückgeführt wird. Folgen davon können Leistungsverweigerung (Passivität), geringe An-strengungsbereitschaft, Fixierung auf einen sicher beherrschten Ablauf (Perseverationsten-denz) und/oder Verleugnung der eignen Schwäche sein. Unabhängig vom Behinderungsgrad wird Verlassenheits- und Trennungsangst als häufigster Grund für psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung angegeben, was auf die hohe Zahl an Trennungserfah-rungen und Beziehungsabbrüche zurückgeführt wird.

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass Menschen mit geistiger Behin-derung einem gewissen Gefährdungspotential ausgesetzt sind, welches die Gesamtentwick-lung ungünstig beeinflussen kann. In Kapitel 2 wurde dahingehend das Stigma-Identitäts-Konzept diskutiert. Dort wurde jedoch ebenfalls herausgearbeitet, dass die Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung nicht ausschließlich durch Umwelteinflüsse erklärbar ist und sie durchaus eigene Kräfte zur Abwehr identitätsschädigender Einflüsse entwickeln kön-nen. In Kapitel 3 wurde dahingehend auf das Identitätsmodell von Frey verwiesen. Innerhalb des bio-psycho-sozialen Modells der WHO (ICF) wurden sie als personale Kontextfaktoren bezeichnet, wobei deren theoretische und klassifikatorische Verankerung ein Desiderat inner-halb des Modells ausmachen. Unter Bezugnahme auf Wustmann & Opp verweist Miller (2008) auf entsprechende Ergebnisse der Resilienzforschung. Danach konnte belegt werden, dass bestimmte Schutzfaktoren dazu beitragen können, das Gefährdungspotential ungünstiger Entwicklungsbedingungen zu entschärfen: „Die personalen Schutzfaktoren bestanden bei-spielsweise in der Freude an neuen Erfahrungen, in Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit, in positiven sozialen Beziehungen, im angemessenen Ausdruck von Gefühlen etc.“ (S. 215, dazu auch Brendel 1998, S. 193).

3.4.2 Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz

Es kann zusammengefasst werden, dass Unterschiede im Lernverhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht allein auf eine abweichende kognitive Entwicklung zurückzufüh-ren sind, sondern als Resultat abweichender Erfahrungen erklärt werden können. Sie können

somit als soziokulturell vermittelt interpretiert werden. Jantzen (1999) bezeichnet geistige Behinderung aus soziologischer Sicht als „erlernte Inkompetenz“ (S. 209.) Innerhalb dieses Kapitels wurde Kompetenz als relationale Denkfigur herausgearbeitet. Dies legt nahe, dass geeignete pädagogische Konzepte das individuelle Erleben von Kompetenz in Form entspre-chend positiver Lernerfahrungen unterstützen können. Die Entwicklung personaler Ressour-cen kann somit als Entwicklungsziel definiert werden. Dabei kommt neben der Familie den Bildungseinrichtungen eine besondere Bedeutung zu, indem in Bezug auf die Akzentuierung von Lerninhalten sowie die Gestaltung schulischer Lernsituationen die Entwicklung sozialer Kompetenzen besonders fokussiert wird.

Folgerichtig werden in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förder-schwerpunkt geistige Entwicklung (vgl. Drave et al. 2000) besondere Hilfen „bei der Findung und Entfaltung der Persönlichkeit“ (S. 266) gefordert. Das Selbsterleben als handelnde Person innerhalb schulischer Kontexte soll die Möglichkeit zur sozialen Eingliederung, sowie Selbst-findung und Selbstentfaltung ermöglichen. Den Schülerinnen und Schülern soll ausreichend Gelegenheit gegeben werden, sich innerhalb der Gemeinschaft zu orientieren, indem zwi-schen Unterordnung und Selbstbehauptung soziales Miteinander erlebt wird. Schon hier wird die Fokussierung sozialer Kompetenzentwicklung unmittelbar deutlich. Im Folgenden werden die entsprechenden Entwicklungsdimensionen weiter differenziert.

Das Eingehen auf Kontakte, deren Annnehmen, Anbahnung und Aufrecherhaltung wird als Erziehungsziel explizit formuliert und Hilfen beim Aufbau eines tragfähigen Selbst-konzepts als Grundlage des künftigen Lebens in größtmöglicher Unabhängigkeit gefordert. Im Kontext erschwerter Aneignungsbedingungen werden Grundsätze der Unterrichtsgestaltung angegeben, die den spezifischen Aneignungsbedingungen ihrer Schülerinnen und Schüler gerecht werden sollen. Handlungsorientierung soll als durchgängiges Unterrichtsprinzip An-wendung finden. Hieraus kann abgeleitet werden, dass neben den sachlich-fachlichen Kompe-tenzbereichen auch soziale Kompetenzen auf der Grundlage originärer Erfahrungen aktiv an-geeignet werden sollten. Eine isolierte Unterstützung der Entwicklung einzelner Funktionen ohne Einbindung in einen Handlungszusammenhang soll vermieden werden. Damit soll den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben werden, Lernsituationen als subjektiv bedeutsam für ihre individuelle Entwicklung zu erleben.

Dem kommunikativen Handeln wird eine große Bedeutung innerhalb der Gesamtent-wicklung zugeschrieben. Kommunikation gilt als Grundlage, die Umwelt zu erschließen, zu ordnen und zu begreifen. Dem Erleben erfolgreicher Kommunikationssituationen kommt da-bei besondere Bedeutung zu. Kommunikation als Akt der gegenseitigen Annäherung und

Ver-ständigung bedarf vielfältiger Kompetenzen im sozialen Bereich. Neben der Unterstützung von Prozessen zur Denkentwicklung wird hierbei die Unterstützung sozialer Kompetenzent-wicklung nochmals als zentrales Unterrichtsanliegen explizit herausgestellt, indem der Gestal-tung sozialer Beziehungen besondere BedeuGestal-tung zugeschrieben wird. Diese sollen im Unter-richt angebahnt und differenziert werden können. Gemeinsames Handeln in sozialen Situatio-nen wird als Kompensationsmöglichkeit für eingeschränkte (verbale) Ausdrucksfähigkeit ge-sehen. Der Unterricht soll Möglichkeiten bieten sich anderen zuzuwenden und Zuwendung zu erhalten, sich mitzuteilen, Beziehungen zu gestalten und Umgangsformen und Regeln zu be-achten (vgl. Drave et al. 2000, 273f.).

Die Ausführungen zeigen, dass die Bedeutung der Unterstützung sozialer Kompetenz-entwicklung bildungspolitisch als abgesichert bezeichnet werden kann. Im Lehrplan für die Schule für geistig Behinderte in Sachsen ist folgerichtig der Bereich „Soziale Beziehungen“

als Teil des Grundlegenden Unterrichts zu finden (vgl. Sächsisches Staatsministerium für Kultus 1998). Fraglich ist, wie diese Vorgaben in der Praxis konzeptionell umgesetzt werden.

Dazu erscheint es im Kontext dieser Arbeit notwendig, den Gedanken der Selbstbestimmung, der im behindertenpädagogischen Kontext in den letzten Jahren im Zuge emanzipatorischer Bestrebungen an Bedeutung gewinnt, innerhalb des Bedeutungsumfangs sozialer Kompetenz-entwicklung zu verorten.

3.4.3 Selbstbestimmung und soziale Kompetenz

Pädagogik macht sich selbst überflüssig, indem sie junge Menschen schrittweise in die Eigen-verantwortung in Bezug auf ihre Lebens- und Lernprozesse entlässt. Die selbstständige Orga-nisation der eigenen Entwicklung kann als oberstes Ziel von Erziehungsprozessen im Sinne von Autonomie und Emanzipation gesehen werden. Selbstständigkeit zu fördern gilt heute als Leitthema moderner Erziehung. Auch eine Sichtweise, die Lernen als selbst gesteuerter Pro-zess begreift, wird heute zunehmend durch Psychologie und Didaktik gestützt. Vor allem in-nerhalb der pädagogischen Diskussion um Kompetenzen wird der Selbstbestimmungsgedanke als Ziel von Handlungskompetenz explizit herausgestellt (vgl. dazu Kapitel 3, S. 38f.).

Selbstständigkeit, Selbstleitung und Selbstverantwortung fasst Walther (1998, 86) un-ter dem Oberbegriff Selbstbestimmung zusammen. Die Diskussion um Selbstbestimmung und Abhängigkeit ist gerade im Kontext geistiger Behinderung sehr brisant. Autonomie und Selbstbestimmung können als anthropologisch-biologisch begründetes Wesensmerkmal des Menschseins betrachtet werden. Zum Gedanken der Selbstbestimmung gehören Einstellungen und Fähigkeiten, um sich selbst als Gestalter seines Lebens zu erfahren „und in Bezug auf die

eigene Lebensqualität frei von allen unnötigen, übermäßigen externen Einflüssen, Einmi-schungen oder Beeinträchtigungen eine Auswahl von Dingen oder Entscheidungen zu treffen“

(Wehmeyer zit. nach Theunissen & Plaute 2002, S. 22).

„Verhaltensauffälligkeiten – Ausdruck von Selbstbestimmung?“ heißt ein Buch, wel-ches im Anschluss an eine Tagung zu „Verhaltensstörungen und geistiger Behinderung“ he-rausgegeben wurde (Theunissen 2001a). Der provokant formulierte Titel wirft zunächst Fra-gen auf: Führt das Anbieten von Selbstbestimmungsmöglichkeiten dazu, dass Menschen mit geistiger Behinderung auf Anforderungen des sozialen Zusammenlebens zunehmend mit Ab-lehnung und Verweigerung reagieren? Wenn ja, was könnten die Gründe dafür sein? Ist dies ein Zeichen dafür, dass Selbstbestimmung zu Überforderung führt? Eine einseitig defizitori-entierte Sichtweise würde dies nahe legen. Wäre es dann nicht besser, diese Schülerinnen und Schüler von den entsprechenden Anforderungen zu verschonen und den Selbstbestimmungs-gedanken besser ad acta zu legen?

Speck (2001) vertritt den Standpunkt, dass es sich bei einer solchen Argumentation um ein grundlegendes Missverständnis bzw. eine unzulässige Verkürzung des Selbstbestim-mungsgedankens handelt. Er verortet Selbstbestimmung im Spannungsfeld zwischen Auto-nomie und Gemeinsinn. Selbstbestimmung entfaltet sich transaktional in einem wechselseiti-gen Einwirken von individuellen Dispositionen und sozialen Faktoren der Umwelt. Selbstbe-stimmung als wesentlicher Aspekt von Autonomie „mündet in die Zugehörigkeit und Ge-meinsamkeit mit anderen, also in Integration“ (S. 20). Ganz im Sinne der Kant´schen Anti-nomie von der „Freiheit im Zwange“ wird Selbstbestimmung somit erst unter dem Aspekt des sozialen Eingebundenseins bestimmbar und (er-) lebbar. Wird Selbstbestimmung einseitig als Kompetenz zur Selbstbehauptung gesehen, kann sie langfristig zu sozialer Isolation führen.

Folgerichtig finden sich beide Aspekte auch im übergeordneten Leitziel der Geistigbehinder-tenpädagogik wieder. Pädagogische Arbeit soll Schülerinnen und Schüler mit geistiger Be-hinderung darin unterstützen, „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ zu erreichen.

Hierbei werden sowohl selbstbehauptende Kompetenzen als auch Kompetenzen zur Integrati-on in Gruppen explizit ausgewiesen. Unter Punkt 3.2 Soziale Kompetenz (vgl. S. 47ff.) wur-den beide Aspekte als Spannungsfeld beschrieben, innerhalb dessen sich soziale Kompetenz-entwicklung realisiert. Damit kann der Selbstbestimmungsgedanke innerhalb des erarbeiteten Begriffsumfangs sozialer Kompetenzen innerhalb dieser Arbeit verortet werden. Der Selbst-bestimmungsgedanke fokussiert dabei eher selbstbehauptende Aspekte, die jedoch langfristig nur zu positiven Konsequenzen für den Betroffenen führen, wenn die Normen der

Gemein-schaft nicht verletzt werden. Selbstbestimmung wäre also nur im Rahmen eines übergeordne-ten Konzepts sozialer Kompeübergeordne-tenzentwicklung sinnvoll.

3.4.4 Selbstbestimmung und pädagogische Verantwortung

Die Diskussion um Abhängigkeit versus Selbstbestimmung wird in Theorie und Praxis unein-heitlich geführt. Während in der fachlichen Diskussion sozialisationsbedingte entwicklungs-hemmende Faktoren mittlerweile reflektiert und anerkannt werden, findet man in der Praxis

„noch häufig Haltungen und Einstellungen, die die Abhängigkeit geistig behinderter Men-schen in den Vordergrund stellen“ (Mattke 2004, S. 305). Selbst Pädagoginnen und Pädago-gen, die sich der Bedeutung von Selbstbestimmung theoretisch nicht verschließen, praktizie-ren eine „fürsorgliche Belagerung“ (Riehl1996, S. 125) gegen die sich die Behindertenbewe-gung seit langem sträubt. An dieser Stelle sei nochmals betont, dass alle Aussagen, die Men-schen mit geistiger Behinderung ein selbstbestimmtes Leben absprechen, unhaltbar sind.

Vielmehr sei übergroße soziale Abhängigkeit auf das entmündigende Aufdrängen von Hilfe zurückzuführen, welche sich im Spannungsfeld zu großer Distanzierung von außen einerseits und Eindringungen und Demütigungen andererseits weiter verstärkt: „Wir haben es dann mit einer erlernten Hilflosigkeit zu tun. Eine Hilfe, die dem Selbst keine Chance lässt, die keine Hilfe zur Selbsthilfe ist, bewirkt psychische Störungen. Soziale Abhängigkeit wird zu einer kritischen Größe, wenn sie sich über das Selbst hinwegsetzt“ (Theunissen 2001b, S. 21).

Es reicht also nicht aus, das Augenmerk auf die Schülerinnen und Schüler zu richten, auch die Weiterentwicklung sozialer Kompetenzen von Pädagoginnen und Pädagogen ist hier gefragt. Wenn soziale Kompetenz nur eigenaktiv entfaltet werden kann und als ein Aspekt von Mündigkeit die zunehmende Eigenverantwortung und Selbstbestimmung von jungen Menschen zum Ziel hat, bewegen sich Pädagoginnen und Pädagogen hierbei immer in einem Spannungsfeld, welches durch grundsätzliche Antinomie von der „Freiheit im Zwange“

(Kant) gekennzeichnet ist. Damit Schülerinnen und Schüler ihre soziale Kompetenz selbst entwickeln können, müssen Pädagoginnen und Pädagogen „als sichernde und unterstützende Instanz präsent […] sein und dennoch das eigene Lehrbedürfnis zurückstellen“ (Boer 2008, S.

28).

Soziale Kompetenzentwicklung ist an Freiräume gebunden, die von Schülerinnen und Schülern selbstverantwortlich ausgefüllt werden. Die Übernahme von Verantwortung ist da-bei direkt an die Abgabe von Verantwortung da-bei Pädagoginnen und Pädagogen gebunden.

Dabei ist das Handeln von Pädagoginnen und Pädagogen durch die institutionelle Rahmung begrenzt. Boer führt dies aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler als administrativ

gebildete Zweckgemeinschaft aus. Bezogen auf die Situation von Lehrerinnen und Lehrern haben wir es oft mit einer Dilemmasituation zu tun, da Lehrerinnen und Lehrer in der Ver-antwortung stehen, dem Erziehungs- und Bildungsauftrag gerecht zu werden und dies nur können, wenn sie ebendiese Verantwortung schrittweise abgeben. Dieser Paradoxie im Erzie-hungshandeln kann nur durch bewusste und stetige Reflexion begegnet werden. Dies erfordert auf Seiten der Pädagoginnen und Pädagogen eine ständige Reflexion darüber, inwieweit das Übertragen von Verantwortung pädagogisch zu verantworten ist. Ebenso sinnvoll wäre die Umkehrung dieses Satzes, die dann danach fragen müsste, inwieweit die Nicht-Übertragung von Verantwortung pädagogisch zu verantworten wäre. Die Entwicklung sozialer Kompeten-zen zu unterstütKompeten-zen „bedeutet damit für Lehrende, eine Gratwanderung zwischen Lenken, Intervenieren, Aufeinanderbeziehen, Strukturieren und Regeln einerseits und Abwarten, die eigenen Bewertungen zurückhalten, Zuhören und Zeitgeben andererseits. Die soziale Kompe-tenzbildung wird damit zu einem gemeinsamen Entwicklungsweg aller Beteiligten und ist ohne Brüche und Rückschritte nicht denkbar“ (Boer, 2008, S. 31).

Bezogen auf Menschen mit geistiger Behinderung bekommen die Ausführungen eine besondere Relevanz. Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung werden voraus-sichtlich ihr Leben lang in einem gewissen Umfang Unterstützung oder Assistenz benötigen.

Dies darf jedoch nicht zur Infantilisierung, Überbehütung und Überversorgung sowie zu stän-diger Kontrolle, Reglementierung und Nicht-Beachtung individueller Wünsche oder Interes-sen von Menschen mit geistiger Behinderung führen (vgl. TheunisInteres-sen & Plaute 2002, S. 23).

Vielmehr liegt die Spezifik des Pädagogischen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik darin, zu einem Leben in größtmöglicher Selbstverantwortung und Selbstständigkeit zu ver-helfen. Dazu ist es nötig, Schülerinnen und Schüler als prinzipiell kompetent in Bezug auf ihre Lebensgestaltung anzusehen und als dialogische Partner bei der Suche nach nötigen Un-terstützungsbedingungen anzusehen. Es geht nicht darum, Schülerinnen und Schülern das Recht auf Entscheidungen abzunehmen, sondern Bedingungen zu schaffen, in denen Selbst-bestimmung fassbar wird und nicht zu Überforderungssituationen führt. Eine solche Sichtwei-se würde implizieren, dass „sich Routinen und Konventionen des akzeptablen, respektvollen und fürsorglichen Umgangs der unterschiedlichen Akteure miteinander entwickeln können“

(Opp 2007, S. 233).

3.4.5 Zur Bedeutung von Selbstreflexivität von Pädagoginnen und Pädago-gen

Unter Bezugnahme auf Hurrelmann und Settertobulte verweisen Roos & Petermann (2005) darauf, dass Lehrerinnen und Lehrer durch mangelnde Selbstreflexion ihre Rolle nur in unge-nügendem Maße ausfüllen: „So erkennen beispielsweise Lehrer zwar die Bedeutung sozialer Kompetenz als Schutzfaktor an, sie machen sich gleichzeitig aber zu wenig bewusst, dass sie selbst – ebenso wie die Schule allgemein – Verhaltens- und Kompetenzmodelle darstellen und als solche besonders zur Entwicklung sozialer Kompetenz beitragen“ (S. 264).

Unmittelbares pädagogisches Handeln ist an Interaktionssituationen gebunden und wird über Kommunikation symbolisch vermittelt. Unter dem Aspekt des Unabhängigwerdens kommt sowohl der Gestaltung der Beziehung zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Schüle-rinnen und Schülern als auch der Gestaltung von Lernsituationen eine besondere Bedeutung zu. Das Handeln von Lehrerinnen und Lehrern wird maßgeblich von deren Menschenbild und den daraus resultierenden erkenntnistheoretischen Annahmen bestimmt. Wissenschaftliche Theorien, praktische Erfahrungen in der beruflichen Tätigkeit und Erfahrungen, die im Rah-men eigener Lernprozesse gewonnen wurden bestimRah-men die spezifische Sicht auf einen Men-schen. Diese spezifische Sicht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Behindertenbereich auf ihre Adressaten, hier Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung, werden im pädagogischen Prozess zu handlungsleitenden (subjektiven) Theorien und bestimmen somit die Beziehungs- und Handlungsstruktur im pädagogischen Kontext.

Die genannten Faktoren bestimmen zwar direkt die Art und Weise des pädagogischen Handelns, sind in der Komplexität des pädagogischen Alltags jedoch oft nicht bewusst als Entscheidungsgrundlagen erkennbar. Da sie implizit jedoch stets handlungsleitend wirken, liegt die besondere Verantwortung von Pädagoginnen und Pädagogen darin, ihr Handeln in Bezug auf deren spezifische Wirkung auf ihre Adressaten zu hinterfragen. Gerade bei Schüle-rinnen und Schülern, die oft stigmatisierenden und behindernden Lebensbedingungen ausge-setzt sind, muss der Reflexion der eigenen Tätigkeit als Pädagogin und Pädagoge eine zentra-le Bedeutung zugemessen werden, um paternalistischen Tendenzen vorzubeugen. Die Fähig-keit zur Selbstreflexion in Bezug auf die spezifische Wirkung eigenen Handelns auf deren Adressaten gehört somit zu einer wichtigen sonderpädagogischen Kompetenz.

Thurn (2008) erweitert den angesprochenen Diskussionsraum und liefert einen interes-santen Beitrag zum Widerspruch zwischen sozialer Kompetenz als Erziehungsziel und dem Erleben von sozialer Inkompetenz innerhalb der Gesellschaft:

„Wie können wir Kindern und Jugendlichen verständlich machen, warum wir Erwachsenen so oft nicht entsprechend unseren Einsichten leben, wenn wir uns doch zugleich so mühelos einig sind, welche Kompetenzen sie erlernen, mitbringen oder annehmen sollen? Allenfalls vielleicht, indem wir ihnen immer wieder unser Scheitern offen bekennen und ihnen glaubwürdig vorzuleben versu-chen, dass das ständige Bemühen und die Überwindung der eigenen Unzulänglichkeiten und Un-vollkommenheiten das Vorbild für sie sein könnte, nicht die eigene Vollkommenheit selbst“. (S.

194)

Schlömerkemper (2002) verweist in Bezug auf die bereits angesprochenen Schwierigkeiten der Professionalisierung auf Terhart, der betont, dass pädagogisches Handeln „Handeln unter prinzipieller Unsicherheit“ (S. 312) ist. Damit wäre der Bogen zu den einleitenden Überle-gungen dieses Kapitels gespannt. Kompetenzen haben als sichernde Innengaranten eine große Bedeutung für einen souveränen Umgang mit den Bedingungen prinzipieller Unsicherheit und offener Zukunft. Für Menschen mit geistiger Behinderung ist soziale Kompetenzentwicklung ein zentrales Bildungsanliegen. Soziale Kompetenz kann nur eigenaktiv entwickelt werden, was jedoch eine Unterstützung dieses Prozesses durch Pädagoginnen und Pädagogen keines-falls unnötig macht. Im Gegenteil muss davon ausgegangen werden, dass Pädagoginnen und Pädagogen, die diese Entwicklung unterstützen wollen, selbst über ein hohes Maß an sozialer Kompetenz in der unmittelbaren Interaktion einerseits und bei der Gestaltung von Lernpro-zessen andererseits verfügen müssen. Burn-out als langfristige Folge hohen Engagements einerseits und geringem Selbstwirksamkeitserleben von Pädagoginnen und Pädagogen ande-rerseits wird heute mehr und mehr als typisch für soziale Berufe diskutiert. Betrachtet man professionelles Handeln im Lichte der zahlreichen Antinomien, denen Lehrerinnen und Leh-rer in ihrem pädagogischen Handeln Tag für Tag ausgesetzt sind (vgl. Helsper 1996, Schütze 2000), sind solcherlei Folgen gut zu erklären und zeigen die Relevanz sozialer Kompetenzen nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern eben auch für Pädagoginnen und Pädagogen.

Daraus ergeben sich zwei Perspektiven, unter denen soziale Kompetenzentwicklung innerhalb dieser Arbeit weiter verfolgt werden soll. Im folgenden Kapitel wird die Erlebnis-pädagogik als ein Konzept vorgestellt, welches in besonderer Weise geeignet ist, die soziale Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern zu unterstützen. Dabei werden einer-seits die historisch gewachsenen Erkenntnisse zur Gestaltung der erlebnispädagogisch orien-tierten Lernsituation herausgearbeitet und andererseits wird die Rolle von Pädagoginnen und