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Aus der Darstellung der Grundzüge einer modernen Erlebnispädagogik kann geschlossen werden, dass erlebnispädagogisches Arbeiten mit konstruktivistischen

erziehungswissen-schaftlichen Theorien zur sozialen Kompetenzentwicklung, die in Kapitel 3 zugrunde gelegt wurden, theoretisch vereinbar ist. Dies zeigt sich einerseits in den angewendeten Methoden und Leitorientierungen, die durchgängig von konstruktivistischen Annahmen zur Erfahrungs-orientierung und Selbstorganisation geprägt sind und andererseits in differenzierten Aussagen zur Rolle der Pädagoginnen und Pädagogen im erlebnispädagogischen Prozess.

Pädagoginnen und Pädagogen erscheinen innerhalb eines erlebnispädagogischen Kon-zepts als Unterstützer und Begleiter eines Lernprozesses, bei dem die Ziele des Individuums oder der Gruppe die Richtung der Entwicklung vorgeben. Ein solches Professionsverständnis wird v.a. in der modernen Behindertenpädagogik aktuell als durchaus konsensfähig angese-hen. Ein Beispiel dafür wäre die Aufbereitung des Empowermentansatzes für die Heilpädago-gik (vgl. Theunissen & Plaute 2002, Theunissen 2007). Hier wird davon ausgegangen, dass

„sich die Persönlichkeit eines Menschen nach Maßgabe einer im Organismus angelegten Ten-denz zur Selbstaktualisierung im Rahmen sozialer Beziehungen“ (Theunissen 2007, S. 34) entwickelt. Wachstumsorientierung als übergeordnetes Leitprinzip der Erlebnispädagogik (vgl. S. 115f. in dieser Arbeit) findet auch hier seine konzeptionelle Verankerung und zeigt sich in einem „optimistisch gestrickten Menschenbild“ (a.a.O.), welches von einem grund-sätzlichen Vertrauen in die Stärken und Potenziale eines jeden Individuums ausgeht. Die da-mit verbundene Selbstentfaltung gilt dann als gelungen, „wenn ein Individuum sein Wachs-tumspotential ausschöpft, ohne dies auf Kosten anderer zu tun“ (a.a.O.). Dies konvergiert deutlich mit dem in Kapitel 3 dieser Arbeit zugrunde gelegten Verständnis von sozialer Kom-petenzentwicklung als ständige Suche des Individuums nach der Balance zwischen selbstbe-hauptenden Kompetenzen und Kompetenzen zur sozialen Integration.

Ein wesentliches Element innerhalb des Empowermentansatzes ist der Gedanke der Selbstbestimmung (Autonomie). Innerhalb dieses Kapitels wurde ebenfalls herausgearbeitet, dass Selbstbestimmung innerhalb einer Theorie sozialer Kompetenzentwicklung verortet wer-den kann (vgl. 3.4.3 Selbstbestimmung und soziale Kompetenz auf S. 91ff). Speck (2001) verortete hierbei Selbstbestimmung im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Gemeinsinn.

Theunissen (2007) stellt unter Verweis auf empirische Befunde von Wehmeyer fest, dass auf Seiten der Pädagoginnen und Pädagogen zwar die Akzeptanz gegenüber dem Selbstbestim-mungsgedanken bei Schülerinnen und Schülern wächst, problematisch sei jedoch weiterhin,

„dass selbst jene Lehrer, die dem Selbstbestimmungsgedanken aufgeschlossen gegenüberste-hen, häufig nicht wissen, wie sie Schüler mit Lernschwierigkeiten zu mehr Selbstbestimmung befähigen sollen“ (Theunissen 2007, S. 233). Dies verwundert nicht, da sich innerhalb didak-tischer Konzeptionen der Geistigbehindertenpädagogik bisher nur wenige Ansätze finden,

welche den Aspekt der aktiven Aneignung sozialer Kompetenzen fokussieren und sowohl selbstbehauptende als auch integrative Aspekte beinhalten. Zwar existieren Programme, mit denen speziell das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schülern pädagogisch beeinflusst werden soll, Fiedler (2007) verweist jedoch darauf, dass es sich meist um Maßnahmen han-delt, die stark defizitorientiert ausgerichtet sind (vgl. S. 78). Mit der Reduktion von Verhal-tensauffälligkeiten wird hierbei die soziale Anpassung von Menschen mit geistiger Behinde-rung fokussiert. Am ehesten werden die entsprechenden Kompetenzen in offenen Unterrichts-konzepten angesprochen. Hier steht jedoch meist die kognitive Entwicklung im Mittelpunkt, die Unterstützung von sozialer Kompetenzentwicklung wird lediglich als Nebenprodukt er-freulich begrüßt, ohne explizit reflektiert zu werden.

Gerade bei der Auseinandersetzung mit Selbstbestimmung, als eine schrittweise Ablö-sung aus Abhängigkeit und Fremdbestimmung, stoßen wir im pädagogischen Feld unweiger-lich auf die grundlegende Debatte um das Verhältnis von Führung und Selbsttätigkeit, welche bereits unter der Überschrift 3.4.4 Selbstbestimmung und pädagogische Verantwortung (vgl. S.

93ff.) thematisiert wurde. Die erlebnispädagogische Theoriediskussion spiegelt, dass man sich zumindest im theoretischen Kontext der Vielzahl antinomischer Anforderungen an pädagogi-sche Prozesse bewusst ist und diese konzeptionell reflektiert. Speziell die Leitlinie der Grup-penselbstorganisation (vgl. S. 132 in diesem Kapitel) zeigt sich in der Gestaltung von Lern-landschaften, in denen die eigenaktive Entfaltung von Erkenntnisprozessen als selbstgesteuer-ter Prozess ermöglicht wird und Pädagoginnen und Pädagogen als allwissende und bewerten-de Instanzen in bewerten-den Hintergrund treten können und eine schrittweise Ablösung von Unterstüt-zungsbedarf stattfinden kann. Führung wird hierbei nicht verneint, sondern soll nondirektiv umgesetzt werden.

Der mit dem Gedanken der ‚facilitation’ verbundene theoretisch bestimmte Gedanke der nondirektiven Begleitung führt in der pädagogischen Praxis jedoch immer wieder zur grundlegenden „Sei spontan Paradoxie“ (Watzlawick zit. nach Gilsdorf 2004c, S. 346), denn

„[s]obald eine Bildungskonzeption emanzipatorische Ziele wie Autonomie oder Subjektwer-dung verfolgt, steht sie unausweichlich im pädagogischen Paradoxon des ‚sei mündig!’, ‚sei autonom!’ oder ‚sei Subjekt!’“ (ebd.). Wir haben es also stets mit widersprüchlichen Anforde-rungen zu tun, nämlich einerseits institutionell und professionsethisch übertragene Verantwor-tung zu übernehmen und andererseits diese VerantworVerantwor-tung in den Gruppenprozess zu verla-gern, also wieder abzugeben. Deren Vorhandensein anzuerkennen und zu reflektieren wäre aus Sicht der Autorin ein wichtiger Schritt, mit den daraus folgenden Dilemmata verantwort-lich umzugehen. In Kapitel 3 wurde unter konstruktivistischer Perspektive darauf verwiesen,

dass pädagogisches Handeln an sich von vielen Ungewissheiten begleitet wird und immer wieder Entscheidungen getroffen werden müssen, die auf Hypothesen beruhen, welche nicht exakt überprüfbar sind (vgl. 3.3.2 Unterstützung von Lernprozessen unter den Bedingungen prinzipieller Unsicherheit und Offenheit auf S. 80f.). Dadurch spitzt sich die o.g. Problematik noch einmal zu.

Inwieweit sich Pädagoginnen und Pädagogen dieser Herausforderung bewusst sind, welche Handlungsstrategien sie entwickeln und wie sich dies in ihrem professionellen Selbst-verständnis abbildet scheint bisher weitgehend ungeklärt. Hier ergibt sich ein interessantes Forschungsfeld, welches nicht nur im erlebnispädagogischen Kontext, sondern für das gesam-te erziehungswissenschaftliche Feld und auch speziell im Kongesam-text behindergesam-tenpädagogischer Arbeit von Bedeutung sein könnte. Die konzeptionelle Ausformung einer modernen Erlebnis-pädagogik wird dabei weniger als eine bestimmte Methode oder ein abzuarbeitendes Pro-gramm in Erscheinung treten, sondern eher „als ein Menschenbild, eine Herausforderung an das Denken, Fühlen und Handeln der Erlebnispädagogen“ (Brück & Boecker 2004, S. 93).

Kapitel 5: Erlebnispädagogik für Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung

Im vorangegangenen Kapitel wurde die Erlebnispädagogik als ein Konzept zur Unterstützung sozialer Kompetenzentwicklung dargestellt. Außerdem wurden Konvergenzen zu modernen Konzepten der Geistigbehindertenpädagogik aufgezeigt und dabei beispielhaft auf den Em-powermentansatz verwiesen. Begreift man diesen als übergeordnetes Rahmenkonzept, könn-ten erlebnispädagogische Lernarrangements, welche Kompekönn-tenzen auf breiter, erfahrungsori-entierter Basis entfalten, eine Möglichkeit darstellen, den Empowermentansatz unter pädago-gischer Perspektive praxisrelevant auszugestalten.

Anliegen dieses Kapitels ist es, das erlebnispädagogische Konzept auf das Arbeitsfeld der Geistigbehindertenpädagogik zu übertragen. Nach generellen Überlegungen in Bezug auf die Relevanz erlebnispädagogischer Ansätze innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik so-wie zur Notwendigkeit einer spezifischen Modifikation des Konzepts erfolgt die detaillierte Vorstellung eines Praxisprojekts, welches eigens dafür initiiert wurde. Dies dient als Beispiel dafür, wie die bisher auf theoretischer Basis erarbeiteten erlebnispädagogischen Leitorientie-rungen praxisrelevant verankert werden können.

5.1 Die Frage nach einer besonderen Erlebnispädagogik

Unter Punkt 3.4.1 Behinderungserfahrungen und ihre Auswirkungen auf das Lernen und die Entwicklung wurden Merkmale eines besonderen Lernverhaltens bei Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt (vgl. S. 85ff. in dieser Arbeit). Die Erlebnispädagogik wird diesen Merkmalen in besonderer Weise gerecht, indem sie Aspekte des primären Motivationssystems (Neugiermotivation, Lust-Unlust-Prinzip) mit Aspekten des sekundären Motivationssystems (Streben nach Erfolg, Vermeiden von Misserfolg, Stolz auf die eigene Person) verbindet und auch bei geringer Antriebsregulation eine Grundlage zur Differenzierung des Motivationssys-tems und für den Aufbau intrinsischer Motivation schafft. Durch den hohen Aufforderungs-gehalt der Lernarrangements wird die Neugiermotivation angesprochen und es können auch bei einem wenig ausgeprägten Motivationssystem Lernfelder eröffnet werden, die zu selbst-ständigem Handeln herausfordern.

Eine Voraussetzung zum Aufbau von Handlungsregulation ist die Bewusstheit und Kontrolle von Gefühlen. Emotional bedeutsame und positiv wahrgenommene Situationen, wie sie innerhalb erlebnispädagogischer Lernfelder erlebt werden können, könnten dazu beitragen, das Selbst des Individuums zu stärken und intrinsische Motivation zu fördern. Schülerinnen

und Schüler erleben die Folgen ihres Tuns als unmittelbares Handlungsergebnis und erfahren dadurch Selbstwirksamkeit und Umweltkontrolle. Reflexionsprozesse als fester Bestandteil erlebnispädagogischer Arbeit bieten ein eigenes Lernfeld für kommunikative Prozesse. Durch die Reflexion des eigenen Handelns und des Handelns von Mitschülerinnen und Mitschülern können Eigen- und Fremdwahrnehmung verglichen werden. Dadurch wird die realistische Einschätzung eigener Fähigkeiten unterstützt und damit für die Schülerinnen und Schüler eine Basis dafür geschaffen, das eigene Handeln unabhängiger von Fremdbewertungen durch er-wachsene Bezugspersonen zu bewerten. Die Tendenzen zu Außengerichtetheit und zu motiva-tionaler Abhängigkeit von der Beziehungsabsicherung statt vom Handlungsergebnis stehen Lernprozessen dabei nicht im Wege, da die Aufgabenlösung die Zusammenarbeit in sozialer Interaktion erfordert. Ein „In-Beziehung-Sein“ kann als gewinnbringend für ein befriedigen-des Handlungsergebnis erlebt werden und Kommunikation und Kooperation werden als kon-stituierende Elemente des Zusammenlebens erlebt und aktiv entfaltet. Damit wird die Diffe-renzierung des emotionalen Systems unterstützt.

Theunissen (1994) bemerkt jedoch auch, dass erlebnispädagogische Arbeit bei Men-schen mit geistiger Behinderung, auch Gefahren von Überforderung bergen können, die aus bisher mangelnden Risikoerfahrungen und den möglicherweise geringer ausgebildeten (psy-cho-) motorischen Kompetenzen resultieren (S. 38). Im vorangegangenen Kapitel wurde ge-zeigt, dass die Qualität erlebnispädagogischer Arbeit sich in erster Linie dadurch auszeichnet, dass sich ihr Angebotscharakter an den Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer Adressaten orientiert. Die Spannweite eines solchen Angebots kann genau so unterschiedlich sein, wie die Verschiedenheit jeglichen menschlichen Seins. Somit erübrigt sich die Frage nach einer besonderen Erlebnispädagogik genauso, wie die Frage nach einer besonderen Pädagogik für Menschen mit Behinderung überhaupt (Paul Moor: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes!“ 1974, S. 273). Vielmehr wäre es von Interesse, unter welchen konzeptionellen Be-dingungen erlebnispädagogische Angebote im schulischen Kontext durchgeführt werden kön-nen. Dies könnte dann gelingen, wenn die individuellen Voraussetzungen und Entwicklungs-bedürfnisse jeder einzelnen teilnehmenden Person zur zentralen Richtlinie bei der Planung und Durchführung erlebnispädagogischer Maßnahmen gemacht werden.

Vielleicht trifft dies in besonderem Maße für die erlebnispädagogische Arbeit bei Menschen mit geistiger Behinderung zu, da hier selbst Lerngruppen einer Klassenstufe durch eine sehr große Heterogenität gekennzeichnet sind. Da eine subjektorientierte Herangehens-weise in allen pädagogischen Kontexten mittlerweile theoretisch hinreichend begründet ist, handelt es sich jedoch nur um eine graduelle Modifikation. Um dem oben beschriebenen

An-spruch nach adressatenspezifischen Angeboten gerecht zu werden, scheint es günstig, erleb-nispädagogische Kompetenzen mit den Kompetenzen der Pädagoginnen und Pädagogen, die im alltäglichen schulischen Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern stehen, zu ergänzen.

Hier besteht ein interdisziplinärer Anspruch, in welchem Erlebnispädagogik und Behinder-tenpädagogik voneinander profitieren könnten.

Innerhalb der Erlebnispädagogik werden Selbsttätigkeit und pädagogische Zurückhal-tung als Elemente von Handlungsorientierung stark betont. Dies erscheint im Zuge erschwer-ter Aneignungsbedingungen bei Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung zu-nächst schwer umsetzbar. Andererseits wurde in Kapitel 3 die Notwendigkeit von Selbsttätig-keit und Selbststeuerung für kompetenzorientierte Lernprozesse explizit herausgestellt. Dar-aus ergibt sich die Frage, wie erlebnispädagogische Lernprozesse konzeptionell gestaltet wer-den könnten, um beide Aspekte sinnvoll miteinander zu verbinwer-den. Das heißt, unter welchen konzeptionellen Bedingungen kann erlebnispädagogische Arbeit für Schülerinnen und Schü-ler mit geistiger Behinderung soziale Kompetenzentwicklung sinnvoll unterstützen? Hierbei wäre von besonderem Interesse, inwieweit es gelingt, Lernfelder zu eröffnen, welche den schmalen Grat zwischen Herausforderung und Überforderung treffen. Um diesen Fragen in der Praxis nachzugehen und die bisherigen theoretischen Überlegungen praxisrelevant zu ver-ankern, wurde ein erlebnispädagogisches Projekt initiiert, welches im Folgenden vorgestellt werden soll.

5.2 Implementierung im unterrichtlichen Kontext: Konzeption des